Wehrhafte Demokratie – was heißt das?
Die liberale Demokratie wird auch im Inneren von ihren Feind:innen bedroht, sei es von Rechts- und Linksextremist:innen, Islamist:innen oder anderen illiberalen Gruppierungen. Wie kann eine Demokratie eine Machtergreifung von Demokratiefeind:innen auf legale, demokratische Weise verhindern? Ist sie allen gegenüber tolerant? Oder ist sie ihren Feinden gegenüber wehrhaft?
Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden die meisten demokratischen Zusammenbrüche nicht durch das Militär, sondern durch gewählte Regierungen verursacht, lautet eine Erkenntnis von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt aus ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“. Das Trügerische an dieser Entwicklung ist, dass diese Zusammenbrüche nicht auf einmal geschehen, sondern die Demokratie Stück für Stück ausgehöhlt wird. Und das ganz legal.
Auch in Österreich möglich?
Zum Einstieg müssen wir über den Begriff „Demokratie“ reden, der heute mehr bezeichnet als nur demokratische Teilhabe. Das hat schon Hans Kelsen festgestellt, der Architekt der österreichischen Bundesverfassung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Entscheidungen Demokratie, Grundrechte und Rechtsstaat als untrennbar begriffen und erklärt, dass ein Ende der Menschenrechte das Ende der Demokratie bedeuten würde.
Die Trias aus Demokratie, Grundrechte und Rechtsstaat bildet den Kern der liberalen Demokratie: Unsere Demokratie ist eine pluralistische und offene, in der Grund- und Menschenrechte, Justiz und Rechtsstaat großgeschrieben und Minderheiten geachtet werden. In ihr finden verschiedene Anschauungen und Meinungen Platz und werden geschützt.
Wie verhält sie sich aber zu Ideen und Anschauungen, die der Idee der liberalen Demokratie zuwiderlaufen? Muss die liberale Demokratie auch tolerant gegenüber jenen sein, die auf die Abschaffung der Fundamente unserer demokratischen Gesellschaft aus sind? Kann die liberale Demokratie bis hin zur Selbstaufgabe tolerant sein? Hier kommt das Prinzip der wehrhaften Demokratie ins Spiel. Eine wehrhafte, auch streitbare Demokratie genannt, bezeichnet einen demokratischen Staat, der sich mit Mitteln der Rechtsordnung gegen seine Feinde wehren darf und kann.
Die Weimarer Republik als neutrale Demokratie
Die Debatte um die wehrhafte Demokratie als Gegensatz zur neutralen Demokratie ist genau zu jener Zeit entstanden, als faschistische Diktaturen die Demokratien in verschiedenen europäischen Ländern abgelöst haben. Als exemplarisches Beispiel in der Vergangenheit dient die nationalsozialistische Machtergreifung in der Weimarer Republik. Die Toleranz der Weimarer Verfassung, auch ihren Feinden gegenüber, wurde von Beginn an von Rechts- und Linksextremist:innen missbraucht: Sie verbot es beispielsweise nicht, dass ein:e Demokratiefeind:in gewählt werden konnte. Die Nazis machten von Anfang an keinen Hehl aus ihrer absoluten Ablehnung der Demokratie, bedienten sich aber derselben, um an die Macht zu gelangen.
In der letzten Reichstagswahl der Weimarer Republik am 5. März 1933 stimmten 43,9 Prozent für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und viele weitere für antidemokratische Parteien, wie die Kommunisten oder die Deutschnationalen. Durch die hohen Stimmenanteile konnten die Nazis mit den Deutschnationalen eine Regierung eingehen und durch die Zustimmung mehrerer (auch demokratischer) Parteien eine Zweidrittelmehrheit für das (verfassungswidrige) Ermächtigungsgesetz finden, wodurch die Demokratie faktisch außer Kraft gesetzt wurde – und die Weimarer Republik ihr Ende fand.
Die Weimarer Republik hat sich selbst zerstört. Durch eine Mischung aus legalen und illegalen Akten, Drohungen, Umgarnungen und der Unterstützung der Bevölkerung wurde die Demokratie abgeschafft und durch einen Unrechtsstaat ersetzt, der Jahre später den Zweiten Weltkrieg begonnen und den Holocaust verübt hat. Ein Zitat vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels bringt die Probleme einer neutralen Demokratie treffend auf den Punkt:
„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre Sache.“
In einer wehrhaften Demokratie dagegen soll es Vorkehrungen geben, die die Ausnutzung der Demokratie zur Abschaffung dieser verhindern soll. Wenn jemand also versucht, sich der Instrumente der liberalen Demokratie zu bedienen – also Wahlen, Versammlungen, Meinungsfreiheit etc. – um sie dadurch abzuschaffen, dann darf eine wehrhafte Demokratie mit eigenen, legalen Instrumenten versuchen, das zu verhindern, etwa durch das Verbot einzelner Parteien. Feind:innen der Demokratie sollen demokratische Instrumente nicht dafür nützen dürfen, diese abzuschaffen.
Das jetzige Deutschland als exemplarische wehrhafte Demokratie
Das heutige Deutschland ist das Paradebeispiel einer wehrhaften Demokratie. Eine gesetzliche Abschaffung der liberalen Demokratie ist rechtlich unmöglich. Zwar sieht das deutsche Grundgesetz (die Verfassung Deutschlands) die Möglichkeit von Verfassungsänderungen vor, in Abweichung dessen beinhaltet aber Artikel 79 Absatz 3 eine sogenannte Ewigkeitsklausel:
„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“
Daraus ergibt sich, dass die Artikel 1 bis 20 GG in ihren Grundsätzen unabänderlich sind. In Artikel 1 bis 19 sind die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger niedergeschrieben, Art 20 GG schreibt unter anderem das demokratische Prinzip, die Volkssouveränität und das Rechtsstaatsprinzip fest. Die Grundpfeiler der liberalen Demokratie sind somit gegen ihre Abschaffung verfassungsrechtlich abgesichert. Interessant ist darüber hinaus, dass das Grundgesetz in Art 20 Abs 4 ein Widerstandsrecht aller deutschen Bürger:innen vorsieht:
„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Umfang und Beginn des Widerstandsrechts sind aber unter deutschen Jurist:innen sehr umstritten.
Und in Österreich?
Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz beinhaltet keine festgeschriebene Ewigkeitsklausel und sieht auch kein Widerstandsrecht aller Österreicher:innen vor. Soll ein Grundprinz der Bundesverfassung – das wären das demokratische, republikanische, rechtsstaatliche, liberale, gewaltentrennende oder bundesstaatliche Prinzip – beseitigt oder stark abgeändert werden, läge eine Gesamtänderung des Bundes-Verfassungsgesetzes vor.
Dafür bräuchte es gemäß Artikel 44 Absatz 3 Bundes-Verfassungsgesetz
- die Anwesenheit mindestens der Hälfte der Nationalratsabgeordneten,
- die Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen
- für ein ausdrücklich als solches zu bezeichnendes Verfassungsgesetz, sowie
- mehr als die Hälfte der abgegeben Stimmen in einer im Anschluss verpflichtend stattfindenden Volksabstimmung.
Ob die liberale Demokratie in Österreich im Rahmen einer Verfassungsänderung abgeschafft werden kann, oder ob sie nicht doch einen unabänderlichen Kern hat, ist umstritten. Lange Zeit war es unbestritten, dass diese in jede Richtung abgeändert werden kann – auch der Wortlaut des Art. 44 spricht nicht davon, dass es einen Kern gäbe, der nicht abgeändert werden könnte. Die vollständige Abänderbarkeit der Bundesverfassung sei eben Ausfluss des demokratischen Grundprinzips. Es gibt aber Stimmen, die von einem unabänderlichen Verfassungskern ausgehen, mit unterschiedlicher Begründung. Die herrschende Meinung jedenfalls vertritt die Auffassung, dass es kein unabänderliches Verfassungsrecht gibt.
Wehrhaftigkeit in der österreichischen Verfassung
Für Außenstehende mag es verwunderlich erscheinen, dass sich die Verfassungen Österreichs und Deutschlands doch sehr unterscheiden. Naturgemäß unterscheiden sich (Verfassungs-)Gesetze jedes Staates, hier findet sich aber ein weiterer wichtiger Faktor. Während das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) aus dem Jahr 1920 stammt und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Kraft getreten ist, wurde das deutsche Grundgesetz 1949 unter dem Eindruck der Abschaffung der Weimarer Republik durch die Nationalsozialisten und der darauffolgenden Errichtung des nationalsozialistischen Unrechtsstaats verabschiedet.
Das heißt nicht, dass Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg dem Nationalsozialismus indifferent gegenübergestanden ist. So wurde beispielsweise das Verbotsgesetz 1945 verabschiedet. Und obwohl nach der herrschenden Meinung das Bundes-Verfassungsgesetz in jede Richtung abgeändert werden kann, beinhaltet die österreichische Rechtsordnung dennoch „wehrhafte“ Regelungen. Zwei Beispiele:
- Das Verbotsgesetz, das die NSDAP verbot und unter anderem regelt, dass jede nationalsozialistische Wiederbetätigung und Gründung und Unterstützung von nationalsozialistischen Organisationen und Parteien verboten ist. Die Untersagung, sich für die NSDAP oder ihre Ziele zu betätigen (§ 3 Verbotsgesetz), ist von jedem Staatsorgan zu beachten. So wurde es schon mehrmals von der Versammlungsbehörde zur Untersagung von Versammlungen herangezogen. Auch nationalsozialistische Meinungsäußerung wäre verboten. Gegenüber dem Nationalsozialismus ist die österreichische Demokratie also wehrhaft.
- Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die in Österreich im Verfassungsrang steht, sieht in Artikel 17 ein Verbot des Missbrauchs der in dieser Konvention verbrieften Rechte vor. Nach Art. 17 sind keine Handlungen geschützt, die auf die Abschaffung oder Beschränkung der von der EMRK garantierten Rechte ausgerichtet sind. Wenn eine Person oder Gruppierung beispielsweise zu Gewalt und Rassenhass aufruft oder Islamist:innen die Errichtung der Scharia oder Rechtsextreme die Errichtung einer totalitären Diktatur propagieren möchten, sollen sie sich nicht auf Instrumente wie die Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit berufen können, die einer Demokratie immanent sind, denn solche Handlungen würden dem wahren Zweck der Konventionsrechte zuwiderlaufen. Wie der VfGH einmal in einem Erkenntnis ausgeführt hat:
„können und sollen gegen demokratiegefährdenden Strömungen, die sich gegen Grundprinzipien des Rechtsstaates richten, wie insbesondere rassistische oder terroristische Meinungsäußerungen, Grenzen gesetzt werden“.
Ist Österreich also eine wehrhafte Demokratie?
Für Österreich kann man festhalten, dass es keine klassische wehrhafte Demokratie ist, aber dennoch über Regelungen verfügt, die die liberale Demokratie schützen sollen. Es ist keine bis zur Selbstaufgabe tolerante Demokratie. Im direkten Vergleich zu Deutschland ist die Ausformung der Wehrhaftigkeit aber nicht im gleichen Maß ausgereift.
Die EMRK und das Verbotsgesetz sind keine absoluten Hindernisse auf dem Weg zur Abschaffung der Demokratie. Eine Abschaffung der liberalen Demokratie und Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur beispielsweise ist nicht möglich, solange den handelnden Personen ein nationalsozialistisches Motiv nachgewiesen werden kann. Sollten diese Personen ihre Motive gut verbergen können, dann könnten auch Nationalsozialist:innen die Demokratie abschaffen.
Für Österreich kommt aber glücklicherweise hinzu, dass es in die Europäische Union und den Europarat und deren Menschenrechtsinstrumente integriert ist. Jeder Versuch, auch nur ansatzweise die liberale Demokratie auszuhöhlen, würde von den Organisationen, deren Behörden und den Mitgliedstaaten kritisch beäugt und verurteilt werden. Natürlich ist das keine Garantie für die liberale Demokratie, wie die illiberalen Tendenzen in Ungarn und Polen zeigen.
Wichtig ist: Man darf die Wirkung gesetzlicher Regelungen, die vor einem Demokratieabbau schützen sollen, nicht überschätzen. Wenn ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft, mögen die Motive der Einzelnen sich auch unterscheiden, die (liberale) Demokratie abschaffen will, wird auch eine Ewigkeitsklausel sie nicht daran hindern, dies zu tun. Eine liberale Demokratie kann und wird nicht überleben, wenn sie nicht von ihren Bürger:innen gestützt wird. Die Weimarer Republik hat nicht überlebt, auch weil Wähler:innen mehrheitlich antidemokratische Parteien unterstützten, die dann die Demokratie abgeschafft haben. Auch eine Ewigkeitsklausel hätte das nicht verhindert.
Die Demokratie ist nur so weit resistent, wie sie Unterstützung aus der Bevölkerung erfährt. Die Brandmauer unserer Demokratie gegenüber ihren inneren Feind:innen sind somit wir alle. Wir müssen uns permanent bewusst machen, dass die liberale Demokratie, in der das Individuum und dessen Freiheit das Zentrum darstellen, eine der grundlegendsten Errungenschaften ist und jeden Tag geschützt und gestützt werden muss.