Wer braucht schon Begutachtungen?
Wenn ein Gesetzesentwurf vorliegt, können Bürger:innen, Organisationen und Institutionen Stellungnahmen einbringen. Durch Initiativanträge wird dieser Begutachtungsprozess mittlerweile aber immer öfter umgangen – die Stakeholder werden also weniger einbezogen als früher.
Was macht eigentlich das Parlament? Wie entstehen Gesetze? Und vor allem: Wie kann eine Gesellschaft dabei mitreden, wie genau Gesetze aussehen sollen? In der Schule hört jeder einmal einen groben Abriss des Ablaufs, wird das ganz selten einmal in einem Zeitungsartikel thematisiert. Doch gerade die Frage der Teilnahme am Gesetzgebungsprozess ist durch die Pandemie und das Gefühl der Machtlosigkeit, das in der Bevölkerung gegenüber den Maßnahmen entstanden ist, sehr viel wichtiger, als man denken würde.
Wie Gesetze entstehen – und wann das Volk mitreden darf
Im Schnelldurchlauf geht das so: Gesetzesvorschläge werden in der Regel vom zuständigen Ministerium ausgearbeitet – das wird ein „Ministerialentwurf“ – und von dort aus an andere Ministerien, Landesregierungen, Interessenvertretungen usw. geschickt, um Stellungnahmen einzuholen. Das ist der Start der „Begutachtungsfrist“. Auch Institutionen und Bürger:innen, die nicht explizit eingeladen werden, können ihre Meinung dazu abgeben und auf der Website des Parlaments veröffentlichen. Diese Stellungnahmen können auch von Ausschüssen eingeholt werden – den nichtöffentlichen Gremien des Parlaments, in dem die „Themengruppen“ arbeiten.
Nach Ablauf der Begutachtungsfrist wird der Gesetzesvorschlag der Regierung entweder abgeändert oder beibehalten, erst dann wird dem Ministerrat ein Gesetzesentwurf vorgelegt. Findet dieser die Zustimmung aller Regierungsmitglieder, wird er dem Parlament als „Regierungsvorlage“ übermittelt und in den Nationalrat eingebracht. Ein Gesetz hat also sozusagen immer mehrere Versionen: den Ministerialentwurf, die Regierungsvorlage und Abänderungsanträge, wenn zwischen der Debatte im Ausschuss und dem Beschluss im Plenum noch Änderungen nötig sein sollten.
Gerade die erste Phase – die des Ministerialentwurfs – ist wichtig, um die öffentliche Meinung zu einem Gesetzesvorschlag einzuholen. Oft werden dabei nur Kleinigkeiten angemerkt: Einzelne Fachbegriffe sollten ausgetauscht werden, die Bundesländer geben Stellungnahmen zur Umsetzung ab, oder verschiedene Kammern versuchen, auf Details hinzuweisen, die aus ihrer Sicht wichtig sind. Oft sind solche Stellungnahmen wenig problematisch, in den vergangenen Jahren haben sich hier aber einige Eigenheiten eingeschlichen. Denn besonders in der ersten Phase der Pandemie mussten Gesetze oft rasch geändert werden, für Begutachtungen blieb keine Zeit.
In diesen Fällen mussten Gesetze per Initiativantrag geändert werden – bei diesen Anträgen ist keine Begutachtung nötig. Das wurde beispielsweise im Sommer 2020, also als die Pandemie erst seit kurzer Zeit ein Problem war, medial kritisiert. Gerade Begutachtungsprozesse können aber auch unangenehm werden. Gesehen hat man das beispielsweise an der Debatte Anfang 2021, ob Personen sich künftig aus dem Lockdown „freitesten“ müssten. Damals wurden in kurzer Zeit unzählige Stellungnahmen abgegeben, die Website des Parlaments war nicht mehr erreichbar. Grund waren die knapp 9.000 Stellungnahmen, die innerhalb von zwei Tagen eingebracht wurden. Eine Folge der besonders kurzen Begutachtungsfrist.
Der Wert der Begutachtung
In diesem Fall war die Menge an Rückmeldungen eine absolute Ausnahme, üblicherweise werden bei Gesetzesvorschlägen bis zu 40 Stellungnahmen abgegeben. Selten ist dabei die Bürgerbeteiligung hoch, einen hohen Stellenwert haben aber die „Stakeholder“ und Interessenvertretungen. Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer haben auf Basis ihrer eigenen Gesetze ein Begutachtungsrecht, auch die Bundesländer haben aufgrund des sogenannten Konsultationsmechanismus ein solches.
Mit Initiativanträgen wird das oft übergangen, wobei es natürlich sein kann, dass diese Stellen ohne Wissen des Parlaments über die Vorhaben informiert werden – die Bundesregierung könnte auch ohne offiziellen Begutachtungsprozess mit der Wirtschaftskammer in Austausch gehen. Gibt es aber offizielle Stellungnahmeprozesse im Parlament, schicken die Länder ihre Stellungnahmen oft an Abgeordnete aus dem eigenen Bundesland – so werden diese Positionen auch über die Ausschussgrenzen hinweg im Parlament verteilt. Auch Berufsverbände oder Interessenvertretungen gehen oft über die Stellungnahmen der Parlamentshomepage hinaus und schicken ihre Positionen an alle Abgeordneten in einem Ausschuss.
Wichtig ist also, dass immer möglichst viele Player über die Ansichten informiert sind, denn so kann in den Ausschüssen tiefergehend diskutiert werden. Abseits der Inhalte sind die Begutachtungen aber auch für Legistik oder Folgenabschätzungen wichtig: So müssen Regierungsvorlagen eigentlich eine sogenannte wirkungsorientiere Folgenabschätzung beinhalten. Das jeweilige Ministerium muss also überprüfen, wie ein Gesetz sich auswirken wird. Das kann finanzielle Aspekte beinhalten, aber z.B. auch, wie sich ein Gesetz auf Fragen des Datenschutzes auswirkt. Für genau diese Unterpunkte, die selten jemanden interessieren, sind Begutachtungsprozesse wichtig. Dann sehen sich beispielsweise die Datenschutzbehörde oder auch andere Ministerien ein Gesetz an und geben ihre Meinung dazu ab – das führt häufig zu inhaltlich relevanten Anmerkungen.
Denn die Ministerien sind vielleicht in ihrer eigenen Sache inhaltlich sehr gut aufgestellt, wie viel Personal in einer Legistikabteilung ist und wie geübt diese Mitarbeiter in der Formulierung von Gesetzen sind, kann aber sehr weit voneinander abweichen. So lesen sich Stellungnahmen des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt oft wie grammatikalische Abhandlungen, wie genau einzelne Gesetze oder Paragraphen formuliert sein sollten. Rechnungshof und Finanzministerium weisen dafür oft auf finanzielle Auswirkungen hin, spannend wäre bei diesen beiden Punkten auch die Überlegung, ob im Parlament beispielsweise ein eigener Legistikdienst angesiedelt sein sollte, damit Gesetzesformulierungen überprüft werden können, oder ob etwa der Budgetdienst die finanziellen Auswirkungen selbst nachrechnen könnte und so noch einmal ein Auge auf den Finanzhaushalt haben dürfte.
Da dies nicht der Fall ist, kommt es immer wieder zu „Fehlern“. Bei manchen Gesetzen, die per Initiativantrag beschlossen wurden, kam es schon vor, dass Abgeordnete erst nach Beschlussfassung den Verfassungsdienst fragten, ob ein Gesetz tatsächlich verfassungskonform sei. Oder der Budgetdienst konnte auf Basis eines Gesetzes erst in seiner Analyse des Budgets für das nächste Jahr seine Folgenabschätzung zu einem Gesetz abgeben. Theoretisch sollte es aber wohl im Interesse einer ordentlichen Gesetzgebung sein, diese Kontrollmechanismen vor dem Gesetzesbeschluss zu Rate zu ziehen. Gerade durch die Pandemie wurden solche Kontrollen aber besonders durch sogenannte Trägerraketen ausgehebelt.
Was sind eigentlich Trägerraketen?
Gerade wenn vieles spontan beschlossen werden musste – so wie in der Pandemie – verzichtete die Regierung immer öfter auf Begutachtungen. Stattdessen setzte sie auf Initiativanträge, also Anträge, mit denen beispielsweise eine Zeile geändert wird. Manchmal ist das tatsächlich notwendig, z.B. wenn gesetzliche Fristen verlängert werden müssen, wie das bei Covid-Maßnahmen oft der Fall war.
Manchmal sind solche „redaktionellen Anpassungen“, wie es im Fachjargon heißt, aber auch nur ein vorgeschobener Grund, um einen leeren Antrag im Parlament liegen zu haben, der dann bei Bedarf mit Inhalten gefüllt werden kann. Beispiel: Ein Antrag zum Medizinproduktgesetz aus dem Jahr 2021, in dem statt „BGBl. Nr. 194“ der Ausdruck „BGBl. Nr 194/1994“ eingefüllt werden sollte. Wird so ein Initiativantrag auf die Tagesordnung eines Ausschusses gestellt, wird von „Trägerraketen“ gesprochen – genau bei solchen Anträgen ist nämlich schnell klar, dass noch mehr kommen wird.
Eingespielt ist mittlerweile, dass knapp 24 Stunden vor dem Ausschuss dann der Abänderungsantrag kommt und die übrigen Parteien so erfahren, was für eine Gesetzesänderung die Regierung tatsächlich vorhat. Im Falle des genannten Antrags zum Medizinproduktgesetzes handelte es sich um eine Regelung für Covid-Schnelltests, im Nationalrat wurde eine dreimonatige Sonderregelung zur Zulassung beschlossen.
Intransparente Debatten
Schwieriger ist es, wenn es sich um umfassende Gesetzesänderungen handelt. So wie etwa bei der letzten Änderung des Ärztegesetzes. Auch dort war nur eine einzige Zeile in Begutachtung, knappe 24 Stunden vor dem Ausschuss kamen die Abänderungsanträge für die Sitzung, und beim Ärztegesetz belief sich diese Änderung auf ganze 21 Seiten Gesetzestext.
Problematisch daran ist, dass es durch diese Praxis keinerlei Begutachtung gibt. Zwar verhandeln die Koalitionsparteien untereinander, welche Änderungen für welche Partei tragbar sind, und auch mit Stakeholdern finden Verhandlungen statt, in diesem Beispiel mit der Ärztekammer. Wie genau diese Debatten stattfinden und welche Positionen in den Gesetzesvorschlägen berücksichtigt werden, ist aber nicht klar. Die Änderung des Ärztegesetzes hätte z.B. Auswirkungen auf die Aufsichtspflicht der Bundesländer – wie die Bundesländer als durchführende Stellen dazu stehen, war aber unklar.
Oppositionsparteien müssen dann entweder sehr schnell herausfinden, wer welche Teile des Vorschlags warum gutheißt oder wie dieser sich mit der eigenen Parteienposition verträgt. Alternativ kann man grundsätzlich gegen solche Anträge stimmen oder aus Vertrauen in die Regierung einen solchen Antrag mit annehmen. Drei Möglichkeiten, die aus der Sicht von eigener, sauberer Grundlagenarbeit alle eher nur mit Bauchweh gewählt werden.
Gerade solche Details wie die Positionen der Bundesländer sind aber relevanter, als man denken würde. Immerhin haben genau die Länder beispielsweise erst im Sommer 2022 die Umsetzung des Gesetzes für Fachzahnärzte für Kieferorthopädie blockiert, sodass dies mit Verzögerungen im Dezember 2022 zum zweiten Mal beschlossen werden musste.
Initiative? Gut, aber bitte nicht zu viel
Ziel von Initiativanträgen – wenn sie keine Trägerraketen sind – ist eigentlich, dass auch einzelne Abgeordnete kleinere Gesetzesänderungen vorschlagen können, ohne dass ein gesamtes Gesetz neu geschrieben werden muss. Ein Beispiel wäre die Änderung des Kinderbetreuungsgeldes: Im Juni 2022 wurde eine automatische Anpassung der Zuverdienstgrenzen vorgeschlagen. In anderer Form wurde diese Idee im Rahmen des Teuerungsausgleichs umgesetzt, aber der Antrag ist ein einfaches Beispiel, wie per Initiative auch von der Opposition eine Gesetzesanpassung vorgeschlagen werden kann.
Meistens geht es aber eben nicht nur um die Anpassung von einzelnen Zeilen, sondern Aufgabe der Regierung wäre es eben, Gesetze umfassend unter Einbeziehung von Experten zu reformieren oder gleich ganz neue Gesetze vorzulegen. Gerade durch die Pandemie war es eben oft „nötig“ auf Begutachtungen zu verzichten, mittlerweile sind die Initiativanträge aber sozusagen als schlechte Angewohnheit der Regierung eingerissen – wie auch die Datenauswertung des Parlaments zeigt.
Im Laufe der Jahre wurden immer weniger Anträge per Regierungsvorlage eingebracht, also gab es auch immer weniger Begutachtungsverfahren. Theoretisch ist das kein richtiges Problem, immerhin gibt es keine gesetzliche Verpflichtung für die Regierung, ihre Vorhaben als Regierungsvorlage einzubringen. Theoretisch. Denn eigentlich wissen alle betroffenen Institutionen, dass Begutachtungsprozesse wichtig sind, um von regulären Gesetzgebungsverfahren zu sprechen. Deshalb gibt es auch grundlegende Verordnungen, die „im Regelfall eine Begutachtungsfrist von sechs Wochen“ vorsehen, und wenn diese nicht eingehalten wird, wird das vom Rechnungshof oder dem Verfassungsdienst in deren Stellungnahmen schon einmal kritisiert.
Ist also alles schlimmer geworden?
Die Frage ist also, ob dieser Mangel an Begutachtungen tatsächlich eine neue, undemokratische Normalität ist und wie viel auf die Pandemie zurückzuführen ist. Gefühlt ist die Antwort natürlich ja, denn wer in einem Ausschuss sitzt und nur mit Abänderungsanträgen arbeiten kann, hat natürlich eine verstärkte Wahrnehmung in diesem Bereich. Aber die Statistik im Zeitvergleich bestätigt: Ja, die Pandemie hatte einen Einfluss.
Allerdings kamen solche Änderungen in der Parlamentssaison 2019/2020 am häufigsten vor – also in der ersten Phase der Pandemie. Und obwohl der Anteil immer noch enorm hoch und offensichtlich ist, dass auch Gesetze ohne Pandemiebezug per Initiativantrag der Regierung geändert werden, ist der Wert schon im Winter 2020/21 wieder gesunken.
Ganz neu ist das Problem aber nicht, immerhin hat der Verfassungsdienst auch 2008 schon einmal Rundschreiben an alle Ministerien verschickt und an die Notwendigkeit von ordentlichen Gesetzgebungsprozessen und Begutachtungsfristen erinnert. Beruhigend sollte auch sein, dass Regierungsmitglieder diese Notwendigkeit langsam wieder sehen. Zu Beginn des Jahres 2023 verweist zumindest der Gesundheitsminister wieder auf Begutachtungsprozesse und Vorlaufzeiten für Gesetze. Zwar bei der Abschaffung der Covid-Maßnahmen, was für viele nach Verzögerungstaktik klingen mag – aber es ist zumindest ein Zeichen. Und gerade der von Abänderungsanträgen geplagte Gesundheitsausschuss befasst sich in seiner ersten Sitzung im neuen Parlament mit einer Änderung des Medizinproduktgesetzes, die schon im Sommer als Ministerratsentwurf in eine erste Begutachtungsphase geschickt wurde.
Rückkehr zur Normalität
Sieht man sich die ersten Tagesordnungen anderer Ausschüsse an, wird das neue Parlament natürlich nicht überall mit diesem Goodwill eingeweiht. Doch gerade im Sinne des neuen Hauses und der umfassenden Lippenbekenntnisse zum neuen Parlamentsgebäude kann doch etwas Hoffnung zugelassen werden. Eine Reform der Begutachtungen und eine plötzliche Drehung um 180 Grad wird es nicht geben – doch wenn man sich nicht nur das reine Verhältnis zwischen Gesetzesvorlagen und Initiativanträgen ansieht, hat nicht nur der Anteil an Initiativen wieder abgenommen, sondern auch die absolute Zahl der Regierungsvorlagen zugenommen.
Vielleicht hat die Politikverdrossenheit, die in der Pandemie sichtbar wurde, deutlich gemacht, dass die These von „denen da oben“ nach wie vor weit verbreitet ist. Was also in den vergangenen zwei Jahren gefordert wurde, um das Vertrauen in das Parlament wiederherzustellen, könnte bis zu diesem Grad auch aus strategischen Gründen passieren. Denn wer nicht will, dass das Parlament als Farce gesehen wird, muss dieses auch als demokratische Einrichtung und damit Anlaufstelle für Beteiligung sehen.
Andernfalls darf man sich nicht wundern, wenn Österreich nur mehr als Wahldemokratie und nicht als liberale Demokratie gesehen wird. Denn gerade nachvollziehbare Gesetzgebungsprozesse und mangelnde Vorhersehbarkeit in der Umsetzungen von Gesetzen haben für diese Rückstufung im Democracy Index gesorgt. Neben dem potenziellen eigenen Wahlergebnis steht also auch die langfristige Einschätzung des politischen Systems auf der Kippe – und zumindest da gibt es wohl Hoffnung, dass eine Regierung das nicht unbedingt langfristig auf die eigene Kappe nehmen will.