Wie liberal ist … Estland?
Estland wird von einer liberalen Premierministerin geführt. Für viele Liberale gilt der kleine baltische Staat als eine Utopie, die Wirklichkeit geworden ist. Doch macht es das alleine schon zu einem liberalen Land? Eine Einordnung.
Die Geschichte Estlands ist bis ins späte 20. Jahrhundert von wechselnder Fremdherrschaft und Unterdrückung geprägt. Dänen, Deutsche, Polen, Schweden und zuletzt die Sowjetunion beherrschten das nordosteuropäische Land, bis schließlich die Unabhängigkeitsbestrebungen aller drei baltischen Länder in die sogenannte Singende Revolution mündeten.
In Estland hat das Singen nämlich eine lang zurückreichende politische Komponente: Im 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der sich das Nationalbewusstsein des Landes formte, fanden alle fünf Jahre Gesangsfeste statt, an denen neben religiösen Liedern zunehmend – und verbotenerweise – estnische Volkslieder angestimmt wurden. Nach jahrelangen Protesten bildete sich schließlich 1989 eine 620 km lange Menschenkette: Ein bis zwei Millionen Menschen sangen von Vilnius bis Tallinn für ihre Freiheit und setzten damit ein Zeichen gegen die sowjetische Okkupation. Dadurch war das Fundament für die Unabhängigkeit gelegt, auch wenn diese erst 1991 formal besiegelt wurde. Seither witzeln die Est:innen, sie hätten sich zur Freiheit gesungen.
Die marktwirtschaftliche Schocktherapie
Ab der Wiedererlangung der Unabhängigkeit wurde im 1,3-Millionen-Land sofort der Reform-Motor angeworfen: Nach jahrzehntelanger sowjetischer Planwirtschaft musste der der Staat lernen, mit seinem Geld auszukommen, weswegen die Maxime der Sparsamkeit zum budgetären Prinzip erhoben wurde. Das staatliche Gemeinwesen wurde dabei nach skandinavischem Vorbild schlank und transparent gehalten. Nur wirtschaftlich wich man davon ab und setzte vehement auf eine freie Marktwirtschaft, die die Nachbarn im hohen Norden in der Form nicht kannten.
Die wirtschaftliche Schocktherapie führte zunächst zu hohen Kosten und verschärfte die bereits vorherrschende Massenarmut. Innerhalb nur weniger Jahre wurden etliche öffentliche Unternehmungen privatisiert, Preise dereguliert und die vorherrschende Wirtschaftsstruktur dadurch aufgebrochen. Die damalige Generation wollte in Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit leben – und machte aus Estland in nur wenigen Jahren einen europäischen Vorzeigestaat.
Flache Steuern, steiler Aufstieg
In den ersten Jahren der Unabhängigkeit wurde in Estland ein progressives Einkommensteuermodell mit drei Steuerstufen etabliert. 1994 führte die drei Jahre alte Republik als erstes europäisches Land im Zuge einer Steuerreform eine Einheitssteuer auf Einkommen ein, deren Grenzsteuersatz zunächst bei 26 Prozent lag. Mittlerweile wurde der Einkommensteuersatz sogar auf 20 Prozent reduziert. Niedrige Einkommen sind davon jedoch durch einen Freibetrag bzw. ermäßigte Steuersätze ausgenommen.
Unternehmen zahlen für nicht entnommene Gewinne sogar gar keine Steuern. Nur ausgeschüttete Gewinne werden mit einer „Flat Tax“ ebenfalls in Höhe von 20 Prozent besteuert – „flat“ bedeutet, dass dieser Steuersatz sich nicht je nach Höhe der Grundlage ändert. Gewinne gelten in Estland bereits als endbesteuert und müssen daher nicht nochmals einer Besteuerung unterworfen werden. Und auch eine Körperschaftsteuer, wie wir sie in Österreich kennen, ist den Menschen in Estland fremd. Dadurch ist es dem kleinen Land gelungen, viele Unternehmen, insbesondere aus der IT-Branche, anzuziehen. Auch die Gründerszene wurde mitunter deswegen befeuert, und globale Player wie Bolt oder Pipedrive sind ebendort entstanden.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Estland im International Tax Competitiveness Index 2022 den ersten Rang belegte. Das Steuersystem in Estland wurde also so simpel wie möglich gehalten und ist seit den Reformen auch „neutral“ konzipiert: Es dient also nur dazu, Einnahmen für den Staat zu generieren, um notwendige Kosten zu decken; nicht aber, um bestimmte Verhaltensweisen zu fördern oder gar zu unterbinden.
Der digitale Musterstaat
Durch die sogenannte Tigersprungstrategie, ein von nationalen und EU-Mitteln subventioniertes Programm zur Digitalisierung, manövrierte sich das kleine Land in den 90ern aus seiner Armut ins digitale Zeitalter. Von da an wurde alles getan, um Vorreiter der Informationsgesellschaft zu werden: Estnische Schulen und andere öffentliche Stellen wurden technisch bestens ausgestattet.
Außerdem garantiert der Staat seit dem Jahr 2000 den Zugang zum Internet. Es überrascht daher nicht, dass Estland 2005 das erste Land war, das eine Wahl online durchführte. Und auch sonst können sich Est:innen den Gang zur Behörde ersparen: 99 Prozent der Verwaltungsabläufe funktionieren digital. Nur Ehen, Scheidungen und Immobilienkäufe müssen noch unmittelbar vor der Behörde erledigt werden.
Diese an sich progressive Politik führte aber auch dazu, dass die Republik 2007 Opfer des ersten auf einen Staat gerichteten Cyber-Angriffs wurde. Die öffentliche Infrastruktur wurde dadurch für einige Tage lahmgelegt. So manche Datenschützer:innen sahen sich dadurch in ihrer Kritik, eine vollends digitalisierte Verwaltung bringe enorme Sicherheitslücken mit sich, bestätigt. Offensichtlich wurden aber daraus die richtigen Schlüsse gezogen – denn heute rangiert Estland im Global Cybersecurity Index (GCI) 2020 auf dem dritten Platz.
Neben der gut ausgebauten digitalen öffentlichen Infrastruktur versucht Estland auch speziell für ausländische Unternehmen mit Digitalisierungsinnovationen zu punkten: Die elektronische Residenz (e-Residency), eine Art digitale Staatsbürgerschaft, ermöglicht es ausländischen Personen und Unternehmen per Mausklick die digitale Infrastruktur Estlands für Geschäftszwecke zu nutzen, ohne physisch im Land präsent sein müssen.
Im Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI), der Indikatoren für die digitale Leistung Europas zusammenfasst und die Fortschritte der EU-Länder verfolgt, belegt Estland jedoch „nur“ den neunten Rang, was unter anderem mit der mäßigen Bereitstellung von 5G-Netzen zu tun hat.
Freie Schulen, beste Bildung
Estland ist nicht nur im digitalen Spitzenfeld, sondern mischt auch in den PISA-Studien ganz vorne mit. Obwohl es nur wenige Privatschulen gibt, sind die Ausgaben im Bildungsbereich unter dem OECD-Durchschnitt. Die Finanzierung einer Schule wird nämlich an die Anzahl der Schüler:innen gekoppelt und die didaktische Leistung einer jeder Schule wird wiederum evaluiert und veröffentlicht, was für einen regen Wettbewerb zwischen den staatlichen Bildungseinrichtungen sorgt.
Weiters herrscht in Estland eine echte Schulautonomie. Der Staat gibt hier nur den Rahmen samt einer Strategie vor, welche auch das Fundament für sein bildungspolitisches Handeln darstellen. Fast alle Entscheidungen werden aber grundsätzlich individuell am jeweiligen Schulstandort getroffen: Das zieht sich von der Festlegung der Unterrichtsdauer bis zur Wahl der Unterrichtsmethode durch. Auch die Budget- und Personalhoheit obliegt den Schulleitungen vor Ort, weswegen die Pädagogen-Gehälter – mangels Tarifvertrags – nicht überall gleich sind.
Das Bildungssystem wird im Nordosten Europas vielmehr als ein sich stetig weiterentwickelndes System verstanden, das sich in Kooperationen mit anderen Bildungseinrichtungen und der Wirtschaft manifestiert. Diese Logik wird daher auch mit einer kontinuierlichen Erhebung wissenschaftlicher Daten und einer transparent geführten Bildungsdatenbank komplettiert.
Auch wenn Estland mit einem Durchschnittsalter von 41,6 Jahren eine vergleichsweise junge Bevölkerung hat, bereitet die Prognose der Altersstruktur großes Kopfzerbrechen, denn: Immer mehr Schulen mussten aufgrund der demografischen Wetterlage in den letzten Jahren schließen.
Wertebasierte liberale Außenpolitik
In der Außenpolitik steuert der kleine baltische Staat seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit in eine dezidiert westliche Richtung. 2004 wurde Estland in die EU und NATO aufgenommen. Zudem ist es einer der Standorte für die NATO-Cyberverteidigungszentren, an dem auch Österreich als Nicht-NATO-Mitglied teilnimmt. Dieser prowestliche Kurs wurde ferner im Rahmen des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine prolongiert. Federführend dafür war insbesondere eine Frau: Kaja Kallas, die Ministerpräsidentin Estlands.
Kaja Kallas war im Jahr der Unabhängigkeit gerade einmal 14 Jahre alt und Teil der heranwachsenden Freiheitsgeneration. Dadurch erlebte sie den rasanten Aufstieg des kleinen Landes hautnah mit. Als Tochter des einstigen estnischen Ministerpräsidenten und Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Siim Kallas, wollte sie zunächst nichts mit Politik zu tun haben. Über den Umweg in die Anwaltei führte der Weg der Juristin und Ökonomin aber schlussendlich doch in die Politik, konkret in die liberale Estnische Reformpartei, die von ihrem Vater gegründet wurde.
Ihre Entschlossenheit im Auftreten gegen Putin ist durchaus persönlich geprägt, zumal ihre Mutter und Großmutter 1949 von sowjetischen Soldaten in einem Viehwagon nach Sibirien verschleppt wurden. Erst zehn Jahre später konnten die beiden nach Estland zurückkehren. Ihr Vater dagegen versuchte ihr schon früh das Gefühl der Freiheit näherzubringen, indem er mit der Familie 1988 nach Ost-Berlin fuhr – also so westlich, wie damals in der Sowjetunion erlaubt. „Atme tief ein, das ist die Luft der Freiheit, die von der anderen Seite kommt“, sagte ihr Vater damals. Eine Anekdote, die Kallas immer wieder in letzter Zeit erzählt und sogleich viele familiäre Schicksale der ehemaligen sowjetischen Staaten repräsentieren soll.
Deshalb ist es die logische Konsequenz, dass das Misstrauen der baltischen Staaten gegenüber Putin riesig ist und die drei mit großer Überzeugung Mitglieder der NATO und der EU sind. Diese kulturelle Bedeutung von Freiheit ist Kallas’ außenpolitisches Mantra und gilt es für sie zu verteidigen, denn: Freiheit nehme für die Menschen immer dann eine herausragende Bedeutung an, wenn man ihrer verlustig gegangen sei, wie sie treffend formulierte.
Alles liberal, alles gut?
Man könnte nun meinen, in Estland gäbe es keine Baustellen. Ganz so ist es aber nicht: Die Verbraucherpreise stiegen bspw. im Jahr 2022 um 19,4 Prozent – der höchste Wert innerhalb der EU in diesem Jahr. Das korreliert naturgemäß mit dem konsequenten Vorgehen gegen den russischen Aggressor, aber ist für die Bevölkerung Estlands auch jetzt noch eine enorme Herausforderung.
Außerdem dürfen sich gleichgeschlechtliche Paare in Estland erst ab 2024 das Ja-Wort geben. Es ist zwar das erste postsowjetische Land, das die Ehe für alle ermöglicht, allerdings halten immer noch 38 Prozent der Est:innen Homosexualität für nicht akzeptabel. Ablehnung gibt es vor allem in der ethnisch russischen Minderheit, welche ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht.
Apropos russische Minderheit: Es leben rund 300.000 Personen in Estland, deren Muttersprache Russisch ist. Die meisten besitzen die estnische Staatsbürgerschaft; 60.000 davon sind jedoch staatenlos, was für eine moderne liberale Demokratie einen unhaltbaren Zustand darstellt.
Dennoch lässt sich sagen, dass wohl fast kein anderes Land liberale Werte so stark vertritt, wie es Estland tut. Das manifestiert sich in der prowestlichen Haltung, aber vor allem im Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen. Es steht daher fest: Würden Liberale einen Staat auf der grünen Wiese bauen, wäre es wohl Estland.