Wie Österreich die Abhängigkeit vom Auto besiegen könnte
Viele Menschen in Österreich sind vom Auto abhängig. Das Konzept „15-Minuten-Stadt“ klingt wie eine schöne Alternative dazu – aber ist sie auch realistisch? Und was braucht es, um Mobilität für alle zu ermöglichen? Dabei spielt vor allem der Bedarf eine Rolle. Eine Spurensuche.
Haben Sie schon von der „15-Minuten-Stadt“ gehört? In Wien hat die Stadtregierung diesen Begriff als Ziel ausgerufen, hier könnte man das Konzept schon kennen. Innerhalb von 15 Minuten soll jegliche Infrastruktur für den Alltag zur Verfügung stehen – vom Supermarkt über die Apotheke oder den Hausarzt bis zum Anschluss an das nächste öffentliche Verkehrsmittel.
Die Forderung klingt gut. Immerhin hat sich auch Österreich zu Klimazielen bekannt, die laut aktuellen Prognosen nicht erreicht werden. Aber ein Weg von maximal 15 Minuten bis zur nächsten Bushaltestelle würde auch die Lebensqualität steigern: Gerade in kleinen Gemeinden sind viele Menschen nach wie vor vom Auto abhängig. Mit der Elektrifizierung des Individualverkehrs wird die Energiewende kaum zu schaffen sein – Alternativen zum Autoverkehr als begleitende Lösung werden von vielen in der Politik gefordert und von anderen zumindest akzeptiert.
Wenn man beispielsweise an St. Margareten im Rosental denkt, wird das aber schwierig. Falls Sie sich jetzt denken: „Wo bitte ist St. Margareten im Rosental?“, dann ist genau das der Punkt – denn die österreichische Geografie erlaubt einfach nicht überall gute Verbindungen, der Personalmangel im öffentlichen Verkehr schränkt auch die vorhandenen Busverbindungen in vielen Regionen stark ein. Mobilität für alle auch ohne Auto ist eine schöne Idee – aber wie die Umsetzung aussehen soll, ist fraglich.
Das Problem der letzten Meile
Kernpunkt der Idee einer 15-Minuten-Stadt ist die sogenannte letzte Meile, wobei diese nicht unbedingt dem Längenmaß entspricht. Vielmehr ist gemeint, wie der individuelle Anschluss an die nächste Hauptverkehrsroute gelingen kann: Sei das in Wien der Fußweg bis zur nächsten U-Bahn, in Vororten der Anschluss an die nächste Bahnlinie, um in eine Großstadt zu pendeln, oder auch der Weg von einer Siedlung zu einem Fahrrad-Highway, an dem der Straßenverkehr fahrradfreundlicher wird.
Wie genau diese kleinen Strecken zurückgelegt werden, ist grundsätzlich egal. Wichtig wäre nur, dass Autos effizienter für längere Strecken genutzt werden. Die genauen Angaben variieren je nach Quellen, aber grob gesagt sind seit zehn Jahren zwei Drittel der Autofahrten kürzer als zehn Kilometer. Ganze 25 Prozent sind sogar kürzer als zweieinhalb Kilometer – das entspricht in etwa einem Spaziergang von einer halben Stunde. Sogar in Wien waren 2020 gut 15 Prozent aller Autofahrten kürzer als diese 2,5 Kilometer. Eine Strecke also, die man leicht mit Bus, Bim oder U-Bahn zurücklegen kann.
Offensichtlich handelt es sich gerade bei dieser Last Mile also um ein Problem der Gewohnheit. Genau hier könnte man verkehrspolitisch ansetzen, um CO2-Emissionen durch den Verkehr einzusparen und die Abhängigkeit vom Auto zu reduzieren. Das ist die Idee der 15-Minuten-Stadt. Diese Lösung überall durchzusetzen, ist aber vor allem deshalb schwer, weil es eben lokale Unterschiede gibt. Großstädte und Kleingemeinden haben unterschiedliche Voraussetzungen.
Infrastruktur ist nicht gleich Infrastruktur
Denn nur weil öffentliche Verkehrsmittel, Fußgänger- oder Radwege zur Verfügung stehen, wird das Auto noch nicht stehen gelassen. Oft spielen auch Belastung und Gewicht eine Rolle: Wer zwei Kinder in den Kindergarten bringen muss, wird das ungern zu Fuß tun. Auch der Wocheneinkauf für eine Familie ist zu Fuß eher unpraktisch zu erledigen.
Aber im 15-Minuten-Konzept geht es ja nicht nur um die tägliche Mobilität, sondern auch um Zersiedelung und darum, wie dem sogenannten Ortskernsterben entgegengewirkt werden kann. Denn durch die Zersiedelung – und das Auto als einzige Möglichkeit, zu einer Art von Infrastruktur zu kommen – werden Orte leerer.
Denken Sie an Ihre letzte Durchfahrt in einem x-beliebigen ländlichen Ort. Je nach Bundesland reiht sich ein Haus direkt an das nächste, gegebenenfalls gibt es entlang der Hauptstraße Einfamilienhäuser. Rathaus oder Gemeindeamt? Schwer zu sehen. Spielplatz oder Kindergarten sind hinter der zweiten Häuserreihe versteckt, Supermarkt oder Apotheke gibt es sowieso nur mehr am Ortsrand, der über einen unattraktiv schmalen Gehweg entlang der Hauptstraße erreichbar ist. Das mag mit dem Auto praktisch sein – aber stellen Sie sich vor, Sie sind in so einem Ort eine 75-Jährige Witwe, deren Knie oder Hüfte schon angeschlagen sind. Dann wird alles sehr kompliziert. Spätestens wenn die Sehkraft nachlässt und Sie eigentlich nicht mehr Auto fahren wollen (oder sollten).
Zumindest in sozialer Hinsicht sorgt die Zersiedelung dafür, dass Menschen indirekt zu Hause eingesperrt werden. Denn: Wenn Sie schlecht sehen oder schlecht zu Fuß unterwegs sind, ist der Aufenthalt im Freien (ohne Parks) nur mehr halb so lustig oder schlicht und ergreifend gefährlich. Gehwege sind deshalb der erste „minimale“ Anteil an Infrastruktur, der für eine Verbesserung sorgen würde. Allerdings eben nicht nur für ältere Menschen, sondern auch für Menschen mit Behinderung im Rollstuhl oder beispielsweise für Kinderwägen. Sie erleichtern also den Alltag.
Raumplanung: Eine Frage der sozialen Gerechtigkeit
Seit einigen Jahren wird dieser Aspekt auch in der Infrastruktur untersucht. 2016 hat sich beispielsweise das europäische Institut für Gleichberechtigung damit auseinandergesetzt, mittlerweile findet man von Schweden bis Indien Studien, die untersuchen, wie sich Infrastruktur auf die politische Partizipation oder die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt auswirkt. Kurz gefasst lautet die These: Ortschaften wurden ab der Mitte des 20. Jahrhunderts für Männer gebaut, die mit dem Auto in die Arbeit fahren – Frauen bleiben ohnehin bei den Kindern zu Hause.
Das Schlimmste an dieser These über Straßenstrukturen ist: Sie stimmt leider immer noch. Mittlerweile sind Autos aber nicht mehr automatisch ein Statussymbol, sondern Klimaschutz und Gesundheit nehmen im Bewusstsein der Menschen eine größere Rolle ein. Es braucht also Alternativen zu diesem Autokonzept – und dazu gehört eben die 15-Minuten-Stadt.
Denn viele Junge können oder wollen sich kein Auto leisten. Parkgebühren, Versicherung und auch Tanken sind mit finanziellen Belastungen verbunden. Im Vorjahr sind beispielsweise in Vorarlberg gemäß der Landesstatistik die Preise für Verkehr um 16,2 Prozent gestiegen, Treiber dahinter waren die Treibstoffpreise. Die Preise für öffentlichen Verkehr entwickeln sich da (meist zum Leid der Staatsfinanzen, aber zum Wohle der Bevölkerung) weitaus langsamer, und nur die wenigsten Menschen kaufen jedes Jahr ein neues Fahrrad.
Die Verfügbarkeit von öffentlichem Verkehr ermöglicht also auch Menschen mit geringerem Einkommen mehr Mobilität und damit mehr soziale, gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Teilhabe. Die Frage ist eben, welche Mobilität.
Von der Schiene profitieren alle
Ob als Alternative dazu die öffentlichen Verkehrsmittel überall fahren sollen, ist auch eine Frage der Kosten-Nutzen-Rechnung. Anders kann man beispielsweise nicht erklären, warum es beispielsweise in Oberwart im Burgenland seit knapp mehr als zehn Jahren keinen Zug mehr gibt. Oder warum – wie von Greenpeace erhoben – in den vergangenen zehn Jahren 230 Bahnhöfe aufgelassen wurden. Und es macht auch einen Unterschied, ob der Verkehr „nur“ als Alternative zum Auto nötig ist – etwa am Ende des Tals, wo viele sich bewusst auf Orte ohne guten Anschluss eingelassen haben –, oder ob es um größere Städte mit vielen Pendler:innen geht.
Dabei profitieren aber auch die Gemeinden selbst von besseren Verbindungen. So zeigen Studien, dass ein besserer Bahnanschluss das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung von Baulandpreisen in Gemeinden positiv beeinflusst. Ähnlich verhält es sich mit der Entwicklung von Arbeitsplätzen. Wenn ein größerer Teil der Einwohner leichter pendeln kann, kann das den Bedarf an Kinderbetreuung erhöhen und damit mehr Jobs in der Gemeinde schaffen. Zur Wirkung von Bushaltestellen gibt es keine vergleichbaren Studien, der Effekt wird aber ähnlich sein. Wobei eben oft die Frage zu stellen ist, wo welches Verkehrsmittel den größten Nutzen hat.
Wenn es sich etwa um einen etwas höherrangigen Bahnanschluss handelt, wird eine Gemeinde auch für Industriebetriebe attraktiver. Immerhin müssen auch große Firmen CO2-Steuer zahlen, und je leichter der Anschluss an den Güterverkehr ist, umso attraktiver ist ein Standort in Zukunft. Gerade in stark industrialisierten Gebieten ist der Ausbau von Schieneninfrastruktur deshalb nicht nur eine Frage der individuellen Mobilität, sondern auch des Wirtschaftsfaktors.
Mobilität kann aber auch für andere Branchen ein Wirtschaftsfaktor sein. Beispielsweise für den Tourismus, wie man an vollen Zügen in Richtung Bad Gastein sehen kann: Wandern ist dort nicht zwingend mit einer Anfahrt mit dem Auto verbunden. Aber die Schiene wird sich nicht in jedem Tal ausgehen: In Osttirol etwa sind viele auf den Postbus als einzige Alternative angewiesen.
Und da, wo keine Züge fahren können?
Aber selbst wenn die politische Bereitschaft dafür hoch und das Geld dafür immer verfügbar wäre: Ein Schienennetz über alle Regionen Österreichs wird in vielen Fällen nicht sinnvoll sein. Nicht nur wenn es um den Arbeitskräftemangel geht – immerhin hat der öffentliche Verkehr schon jetzt ein Personalproblem –, sondern teilweise wohl auch am Bedarf im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung. In vielen Fällen wird es auch ein Bus tun.
Trotzdem gibt es auch andere Lösungen: etwa ein durchgehendes Netz an Ruf- oder Gemeinschaftsbussen, etwa um ältere Menschen leichter (und günstiger) als mit der Rettung zum Hausarzt zu bringen.
Oder Carsharing, damit der Wocheneinkauf kein Grund für tägliche Autokosten ist. Ironischerweise funktioniert diese Lösung bis dato gerade in Städten am besten – eben weil dort die Option besteht, auf das Auto zu verzichten. In entlegenen Gemeinden ist man schließlich immer auf das Auto angewiesen. Das sieht man am Beispiel Vorarlberg. In einer Anfragebeantwortung nach dem Angebot und dem Nutzerverhalten zeigt sich etwa, dass Carsharing in den größeren Städten wie Bregenz, Dornbirn, Feldkirch oder Hohenems gut funktioniert. In Grenzorten oder Gemeinden, die lediglich an der Nebenstrecke der S-Bahn liegen, haben Carsharing-Anbieter nur eine niedrige Auslastung.
Die Frage ist also: Wofür können Alternativen geschaffen werden? Bin ich auf ein Auto angewiesen, bringt es nur wenig Ersparnis, auf Carsharing zu setzen. Ebenso ist es beispielsweise bei E-Scootern: Die werden bisherigen Studienergebnissen aus Deutschland zufolge hauptsächlich als Spaßmittel und Alternative zum Zufußgehen gesehen, also für kurze Strecken. Damit wird die „letzte Meile“ auch nicht nachhaltiger zurückgelegt, und der Wocheneinkauf lässt sich auch nur bedingt einfacher transportieren.
Anders könnte es da eben mit geteilten Fahrrädern und E-Bikes aussehen. In (Kleinst-)Gemeinden sind diese eher schwierig unterzubringen, weil es abseits vom Bahnhof keine Stationen gibt. Hier könnte aber über tageweise Mietsätze nachgedacht werden: Einer mietet „über Nacht“ für den Arbeitsweg von und zum Bahnhof mit billiger Abstellmöglichkeit daheim, tagsüber können Tagesgäste oder Touristen Radtouren machen. Optionen gäbe es viele – ein erster Schritt in diese Richtung wird durch den Ausbau von Abstellboxen und leichteren Mitnahmemöglichkeiten in Zügen getroffen.
Was fehlt: Eine verkehrspolitische Vision
In besagtem Rosental in Kärnten fährt der Bus mittlerweile nicht mehr dreimal, sondern elfmal am Tag. Wer am Abend ins Kino will, braucht aber wahrscheinlich Mitfahrgelegenheiten, ein eigenes Auto oder Eltern, die bereit sind, Taxi zu spielen. Rund 1.000 Einwohner klingt schließlich nicht nach sonderlich viel, darunter fallen aber stolze 20 Prozent der Gemeinden in Österreich. Ab wann ist eine Gemeinde also groß genug für welche Anbindung an den öffentlichen Verkehr?
Fest steht: Das Auto mit Verbrennungsmotor wird auf lange Sicht weder die beste noch die billigste Variante sein, um Mobilität für die breite Masse zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig gibt es aber keine Lösung für alle Gemeinden in einem Land, das eben nicht nur aus Städten, sondern auch aus Bergen und Tälern besteht – zu unterschiedlich sind die individuellen Bedürfnisse der Menschen vor Ort, zu anders die Herausforderungen im Verkehr.
Diese schwierigen Voraussetzungen sind aber kein Argument dafür, gar nichts zu ändern – Gemeinden, Länder und auch der Bund brauchen eine gemeinsame Vision und ein ernstzunehmendes Bekenntnis zu zukunftsorientierter Verkehrspolitik. Hier müsste sich die Politik quer über alle Ebenen zusammenschließen – denn von alleine verschwindet das Problem der „letzten Meile“ bestimmt nicht.