Wie unsere Angst vor Daten unseren Gesundheitszustand verschlechtert
„ELGA stellt Sie vor den anderen bloß“ – so hat die Ärztekammer 2011 vor der Einführung der Elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) gewarnt. Die Befürchtung damals: Patient:innen haben nicht mehr die Hoheit über ihre Daten, Prämien für Zusatzversicherungen könnten wegen des Wissens über Vorerkrankungen höher berechnet werden, und ohnehin schaffe man damit einen „Datenmoloch“.
Vergleicht man die damaligen Horroszenarien mit der Realität heute, zeigt sich: Nichts davon ist passiert. Das schlimmstmögliche Szenario ist vielmehr, dass das vorhandene Potenzial aufgrund der damaligen Schreckgespenster heute nicht genutzt wird. Das bestätigt mittlerweile auch der Rechnungshof in seinem Bericht über das Potenzial von ELGA. Das macht uns kranker, als wir sein sollten, und das Gesundheitssystem teurer, als es sein müsste. Denn per Gesetz sind beispielsweise Krankenhäuser verpflichtet, bestimmte Befunde den jeweiligen Patient:innen in ihre ELGA einzuspielen – damit man als Patient:in genau weiß, welche Behandlungen oder Diagnosen im Krankenhaus vorgenommen wurden. Trotzdem gibt es Fälle, in denen Patient:innen ihre Gesundheitsdaten vom Krankenhaus einklagen müssen. Datenschutz in allen Ehren: Aber wenn dieser Patient:innen von den Informationen über den eigenen Gesundheitszustand abhält, wird er etwas zu ernst genommen.
Was sind Gesundheitsdaten überhaupt?
Sicher sind Gesundheitsdaten in ELGA also jedenfalls, und das auch vor einem selbst: Grundsätzlich wird immer die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) als Standard für den Umgang mit Daten genommen. Gesundheitsdaten haben aber noch einmal einen höheren Standard, und durch ihre eingeschränkte Verwendung sind sie quasi in einem Buch mit sieben Siegeln verwahrt. Die Ärztekammer besteht darauf, dass Gesundheitsdaten zwischen Ärzt:innen und Patient:innen bleiben. Das führt dazu, dass beispielsweise ihre Versicherung (etwa die ÖGK) nicht weiß, ob jemand Diabetes, hohen Blutdruck oder Morbus Crohn hat. Denn Diagnosedaten sind immer nur in der jeweiligen Arztsoftware in dessen Praxis abgespeichert.
Wenn man den Arzt bzw. die Ärztin wechselt, weiß er oder sie zuerst einmal gar nichts über die Krankheitsgeschichte. Und wer eine chronische Krankheit hat, die ein teures Medikament zur Behandlung benötigt, muss dieses regelmäßig von der Versicherung bewilligen lassen; obwohl es durchgehend genommen werden muss und chronische Krankheiten de facto niemals wieder verschwinden. Die Bewilligung ist aber nötig, weil aufgrund der Kosten immer wieder geschaut wird, ob aktuelle Befunde die Krankheit noch nachweisen. Ein enormer Aufwand an Bürokratie und Patient:innenschikane. Mangels besagter Diagnosenutzung ist die Abrechnung von Medikamenten für die einzelnen Patient:innen aber für die Versicherungsträger der beste Weg abzuschätzen, wie viele Personen welche Krankheit haben. Deshalb weiß eigentlich niemand in Österreich so genau, wie viele Menschen von Diabetes, hohem Blutdruck oder anderen chronischen Krankheiten betroffen sind.
Verlorener Nutzen für Patient:innen
Das Problem daran ist aber nicht nur, dass die Versicherungen nicht wissen, welche Krankheiten ihre Patient:innen haben, und ihre Behandlungsangebote daher nicht anpassen. Das sehr viel größere Problem ist, dass Patient:innen dieses Wissen um ihre eigenen Krankheiten und Behandlungsoptionen oft selbst gar nicht haben. Denn Krankenhäuser müssen Diagnosen zwar dokumentieren, aber ob diese in ELGA landen, ist trotz der gesetzlichen Verpflichtung eben fraglich. Das Gesundheitsministerium kann nur sehr grob davon ausgehen, aber genau nachweisen kann es niemand. Viel zu oft wissen Patient:innen deshalb auch nicht, dass ihr Blutdruck zu hoch ist und ob sich dieser Umstand zu einer ernsthaften Herz-Kreislauf-Erkrankung entwickelt. Häufiger als man denken würde, wissen Menschen ebenfalls nicht, dass sie Diabetes haben. Das kann zu Herzinfarkten, Schlaganfällen oder sogar zum Tod führen. Wer Diabetes hat und das nicht weiß, bekommt zuerst Zuckerentgleisungen (und verliert das Bewusstsein), wer schlecht behandelt wird oder seine Medikamente falsch nimmt, kann Gewebeprobleme bekommen, die zum Verlust eines Beines oder auch der Sehfähigkeit führen. Alles keine sonderlich schönen Aussichten, und das nur, weil man nicht weiß, dass und woran man erkrankt ist. Das Minimum, das einem als Patient:in zusteht, ist also eine Diagnose – denn nur dann kann eine gute Behandlung auch bei einem Arztwechsel oder im Krankenhaus gewährleistet werden.
Verlorener Nutzen für das Budget
Die schlechte Datennutzung führt also zu schlechteren Behandlungsergebnissen und damit zu weniger Lebensqualität und schlimmstenfalls zu einem früheren Tod. Neben den menschlichen und persönlichen Kosten ist der schlechtere Krankheitsverlauf auch für das Gesundheitssystem teurer: mehr Arztbesuche, mehr Medikamente, mehr Krankenhausaufenthalte, mehr Krankenstände, je nach Krankheit ist man zwischendurch vielleicht auch auf Rehabilitationsgeld angewiesen oder geht in Frühpension. Das bedeutet aber auch weniger Einkommen, oftmals viele Therapien (die teilweise nicht von der Versicherung übernommen werden) und damit wieder mehr Gesundheitsausgaben, weniger verbleibendes Einkommen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung etc. Eine Spirale, die oft nicht angenehm ist für Betroffene, und zusätzlich die Summe, die der Staat und die Versicherung für eine Person ausgibt, in die Höhe treibt. So gesehen eine klassische Lose-lose-Situation, die dringend Änderungen verlangt.
Wie müssen Gesundheitsdaten genutzt werden?
Das Minimum von ordentlicher Gesundheits(daten)politik wäre also, dass Patient:innen ihre Daten selbst einsehen können, indem Arztpraxen, Labors und Krankenhäuser die Informationen über Diagnose und Behandlung wirklich in ELGA einspielen. Der nächste Schritt wäre eine Nutzung der Diagnosen, damit man sich zusätzliche Bewilligungsverfahren erspart, damit die Versorgung besser und eine strukturierte Behandlung von chronischen Krankheiten möglich wird. Das hätte den Vorteil, dass wir über die Versicherungsträger auch anonymisiert sagen könnten, wie viele Patient:innen welche Krankheiten haben und man beispielsweise die Angebote von Spezialambulanzen diesem Bedarf anpassen kann (und damit ein effizienteres Gesundheitssystem schafft). Wer ganz groß träumen mag, kann dann noch planen, in welchen Fachrichtungen wie viele Ärzt:innen ausgebildet werden müssen, damit man bei Preisverhandlungen über Medikamente eine bessere Faktenbasis hat und wie unsere Daten (pseudonymisiert und sicher) für Forschung und damit medizinischen Fortschritt genutzt werden könnten.
Allerdings sollten weniger Krankheiten und mehr Lebensqualität für die Bevölkerung ja eigentlich ein Grundkonzept für die Funktionsweise des Gesundheitssystems sein. Damit das erreicht werden kann, ist das Wissen, wie häufig welche Krankheiten sind und welche Behandlungen besser oder schlechter funktionieren, Voraussetzung – da brauchen noch nicht einmal irgendwelche persönlichen Daten auch nur pseudonymisiert verwendet werden. Eine bundesweit nachvollziehbare Erfassung von Behandlungen könnte einen ersten Schritt darstellen. Oder eine Nutzung des Herzinfarktregisters für die Forschung. Oder eine Reform des Krebsregisters, zur Verfolgung von Verläufen. Oder, oder, oder.
Die Forschung könnte viel damit anfangen, und wenn richtige Entscheidungen getroffen werden sollen, könnte „die Politik“ diese Erkenntnisse auch nutzen, um besser auf Gesundheitszustand und Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen. So könnte nämlich sogar mit Einsparungspotenzial der Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessert werden – immerhin sollte das der ultimative Kennwert der Gesundheitspolitik sein. Vielleicht kann das Schreckgespenst vom „Datenmoloch“ also doch noch zu einem positiven Zweck genutzt werden.