Zeitenwende für den Ozean? Die neue UN-Legislatur für die Meere der Zukunft
Der Ozean ist ein Ort voller Schätze: Nicht nur Mineralien, Öl oder Nahrung können dort gewonnen werden, auch die Medizin hat mittlerweile ein berechtigtes Interesse an den Meeren. Die Rechtslage auf hoher See war lange Zeit lax, weshalb sich die Vereinten Nationen dazu entschlossen haben, die Leitplanken neu zu setzen. Die Verhandlungen dazu waren lang und zäh, gescheitert sind sie letzten Endes aber nicht: Nach zwei Jahrzehnten steht ein neues Instrument.
„Die Verfassung des Ozeans“ – so wird UNCLOS, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, gemeinhin genannt. Das einzige Problem: Es wurde bereits 1982 geschlossen. Die Folge: Manches davon ist nicht mehr zeitgemäß oder unklar geregelt.
Freundlicher ausgedrückt bedeutet das, dass sich unser Verständnis über den Ozean und dessen Potenzial seither grundlegend verändert haben. Das hat zu Folge, dass sich Länder des globalen Nordens dank der Freiheiten, die UNCLOS bisher erlaubt hat, sowie ihren finanziellen Kapazitäten einen ordentlichen Vorsprung gegenüber den Ländern des globalen Südens erarbeiten konnten. Nicht jedes Land kann sich hochseetaugliche Schiffe, Ressourcenextraktion im großen Stil, oder gar Expeditionen auf den Grund des Ozeans leisten.
Die vier Pakete
Seit der ersten intergouvernementalen Konferenz im Jahr 2018 wurden insgesamt vier verschiedene Pakete verhandelt – das erste Meeting zu Biodiversität jenseits der nationalen Zuständigkeit liegt aber bereits 26 Jahre zurück. Scheitern die Verhandlungen über ein Paket, scheitert das gesamte Abkommen nach jahrzehntelangen Debatten. Die Konferenz mit dem Ziel, ein internationales, rechtlich bindendes Instrument zu „Conservation and sustainable use of marine biological diversity beyond areas of national jurisdiction“ auf die Beine zu stellen, hatte die folgenden Schwerpunkte:
- In ausgewählten Regionen des Ozeans soll es neue Unterstützungstools geben, um menschliche Aktivitäten zu regulieren und z.B. Verschmutzung zu überwachen
- Umweltverträglichkeitsprüfungen, wenn es z.B. um die Auswirkungen von Ressourcenabbau im Ozean geht
- Mehr Zusammenarbeit im Bereich technologisches Wissen – v.a. auch, um Entwicklungsländer mehr einzubinden
- Marine genetische Ressourcen (MGRs) – besonders dieses vierte Paket hatte es in sich und wurde erst in den letzten Augenblicken zugeschnürt. Doch was versteht man unter MGRs genau?
Was ist überhaupt eine „genetische Ressource“?
Hier beginnt das Problem: Es gab bisher keine rechtliche Definition für MGRs, auf die sich alle einigen können. „Genetisches Material von maritimen Ursprung mit tatsächlichem oder potenziellen Wert“ wäre eine Möglichkeit, wobei man freilich zuerst definieren muss, was „genetisches Material“ bedeutet. Hier hilft das Abkommen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen weiter, das unter pflanzlichem genetischen Material „jegliches Material pflanzlichen Ursprungs […] mit intakten Erbguteinheiten“ versteht. Diese Definition wäre könnte man auch auf maritimes Material ummünzen. So viel zur möglichen Definition, die keinesfalls unumstritten ist. Am 5. März 2023 war es dann soweit, eine Definition hat es ins neue Instrument geschafft: MGRs bedeutet jegliches maritimes Material pflanzlichen, tierischen, mikrobischen oder anderen Ursprungs mit intakten Erbguteinheiten von faktischem oder potenziellen Wert.
Und wozu braucht man MGRs? Der Anwendungsbereich ist groß. Die Idee von MGRs ist es, genetisches Material aus den verschiedensten Lebewesen – Fischen, Algen, Pilzen, Schwämmen, etc. – zu extrahieren und mithilfe dieser Bausteine ein neues Produkt zu entwickeln.
Ein Beispiel: Es gibt Fische, die in äußerst kalten Gewässern zuhause sind und somit einen besonders guten Schutz gegen extreme Temperaturen haben. Ihr genetisches Material kann verwendet werden, um den Schaden, der normalerweise beim Einfrieren von Medizinprodukten, Lebensmitteln oder Kosmetikprodukten entsteht, zu reduzieren. MGRs können potenziell auch bei der Bekämpfung von HIV oder verschiedensten Krebsformen helfen – von Leukämie über Gebärmutter- bis hin zu Lungenkrebs.
Die vielen Akteure in den Verhandlungen
Aufgrund des großen und vielfältigen Marktes haben insbesondere Industriestaaten großes Interesse an möglichen Patenten. Spätestens hier wird die Situation kompliziert. Es kommen nämlich neben Staaten auch Privatkonzerne wie der Chemieriese BASF, Universitäten, die Welthandelsorganisation (WTO) und die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Spiel, die alle eigene Interessen und Ziele verfolgen.
Das macht die Lage nicht nur einigermaßen unübersichtlich, sondern auch rechtlich diffus: Während der Verhandlungen zum neuen Instrument haben einige Industrienationen sämtliche Vorstöße der G77 zu klareren Regeln bezüglich Patenten im Dokument abgeblockt, mit der Begründung, das Thema MGRs und geistiges Eigentum für Patente, die aus MGRs entstehen, läge bei der WIPO. Laut G77 sieht die WIPO das Thema aber bei der WTO, die es wiederum bei der WIPO sieht. So geraten Verhandlungen schnell ins Stocken, da keine Seite bereit war, allzu sehr von ihrem Standpunkt abzuweichen. Industriestaaten wollten den Status Quo mit wenig Verpflichtungen gerne weitestgehend beibehalten, während Entwicklungsnationen gerne klarere Regeln und insbesondere einen (monetären) Benefit-Sharing-Mechanismus im neuen Instrument hätten.
Papiertiger oder robustes Instrument?
Es brauchte also eine jahrzehntelange Pattsituation, insgesamt fünf (de facto waren es sechs, geplant waren vier) Konferenzen und die obligatorische Portion „summit drama“, um schlussendlich zu einem Kompromiss zu kommen. Zwar gab es über den Verlauf der einzelnen Konferenzen kleine Fortschritte, aber bei den besonders heiklen Themen wurde eher aneinander vorbei verhandelt. Dennoch hat man sich zusammengerauft und ein Instrument zu Papier gebracht. Nach rund 20 Jahren und der Tragweite der Themen waren die Verhandlungen vielleicht schlichtweg too big to fail.
Liest man sich in das Thema MGRs ein, sieht man recht schnell, wie kompliziert die Gespräche gelaufen sind, wie weit die Parteien auseinanderliegen und vor allem, wie sperrig das Ozeanrecht werden kann. Folglich flogen die Verhandlungen medial eher unter dem Radar, bis sie Anfang März zu einem Abschluss kamen. Was steht also im finalen Dokument? Konnte sich David gegen Goliath behaupten und für ausgeglichenere Verhältnisse sorgen?
Ja und nein. Das neue Abkommen füllt sicher Lücken, die UNCLOS offenbarte. Beim Blick auf die kontroversen MGRs fällt auf: Kleinere Staaten profitieren von einem Benefit-Sharing-Mechanismus – wenngleich der monetäre Aspekt noch ausgearbeitet werden muss. Trotzdem kann jeder Form von Umverteilung von oben nach unten als Erfolg für Entwicklungsländer verbucht werden, sei es monetär oder über Wissens- oder Technologietransfer. Dass extra ein Access und Benefit-Sharing Committee eingerichtet wird, das Richtlinien erarbeitet und explizit auch mit Teilnehmern von Entwicklungsstaaten besetzt werden soll, könnte ein großes Plus für ebendiese sein.
Aber auch die Industriestaaten konnten für sie wichtige Punkte aus dem Instrument raushalten. So greift das Instrument nicht retrospektiv und es findet sich kein Wort zu geistigem Eigentum im neuen Abkommen – ein Thema, das von Anfang an für großen Dissens sorgte. Die G77 und insbesondere sehr aktive Subgruppen wie die Small Island Developing States (SIDS) und Pacific Small Island Developing States (P-SIDS) haben alles versucht, hier einen Hebel zu finden und haben durchaus valide Argumente präsentiert. Die Industrienationen blieben beim eisernen Nein und verwiesen über Jahre auf WTO und WIPO – am Ende mit Erfolg.
Etappensieg für den Ozean
Als erstes hat es das Paket für Unterstützungstools über die Ziellinie geschafft, gefolgt von den Umweltverträglichkeitsprüfungen und dem Wissenstransfer. Das Paket um MGRs war bis zuletzt ein Wackelkandidat – und drohte damit das ganze Instrument zu Fall zu bringen. Am Ende kam es doch anders und die Staaten rauften sich unter größtem Druck zusammen. Das nächste Ziel, nach dem erfolgreichen Abschluss, sind nun 60 Ratifikationen. So viele sind nötig, bevor das Abkommen in Kraft tritt. „Das könnte eine Weile dauern“, so eine Einschätzung am Rande der letzten Verhandlungsrunde.
Je früher das Instrument in Kraft tritt, desto besser wäre es. Am Ende geht es schließlich nicht nur um Geld oder fairere Bedingungen zwischen den Staaten. Es geht allen voran um den Schutz der Ozeane, das Ende der ungezügelten Ressourcenextraktion, und das Bewusstsein, dass unser Planet auch für die kommenden Generationen noch bewohnbar sein sollte. Das neue Instrument kann hier eine Schlüsselrolle einnehmen. Ob es die Erwartungen erfüllen kann und einen Paradigmenwechsel einleitet, wird die Zeit zeigen. In der Zusammenfassung der letzten Verhandlungsrunde wird es so beschrieben:
„Das Schiff hat gerade erst das Ufer erreicht. Und die Passagiere sind müde“.