Die Anmaßung der USA kann nur eines bedeuten: Europa braucht mehr Souveränität
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Die Rede des frischgebackenen US-Vizepräsidenten J.D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz hat zu Recht hohe Wellen geschlagen. Von einem diplomatischen Eklat war die Rede, von einem politischen Tabubruch. Ich fand sie vor allem eines: unfassbar anmaßend.
Vance ging so weit, Europas Staaten Unfreiheit und Demokratiedefizite zu attestieren. Seine Belege? Keine. Er lieferte keine geistvolle Argumentation, sondern eine willkürliche Aneinanderreihung manch wahrer, manch völlig falscher einzelner „Vorfälle“, die allesamt ein Bild zeichnen sollten: keine Meinungsfreiheit in Europa, keine Demokratie in Europa. Die Rede hatte mehr von einem sich empörenden Troll-Mob auf „X“ als von einer sicherheitspolitischen Grundsatzrede eines Staatsmanns.
Was für eine Anmaßung eines Politikers eines Landes, in dessen politischem System aus de facto zwei Parteien ein Präsident mittels Wahlmänner in einigen wenigen Swing States entschieden wird. Die Freiheit des Einzelnen ist nicht dann in Gefahr, wenn demokratische Parteien Mehrheiten in Koalitionen suchen, sondern wenn eine kollektive „Volksmasse“ zur Legitimation von Macht herangezogen wird.
Es ist schon erstaunlich, welchen kollektivistischen Weg das Weiße Haus da eingeschlagen hat. Keine Rede mehr von der Freiheit jedes einzelnen Menschen, keine Rede von Pluralität. Der „Hausverstand“ ersetzt die offene Gesellschaft und den Rechtsstaat gleich mit. Was kriminell ist, das bestimmen nämlich zukünftig Trump und Co. Wir sehen ein mit Exekutivanordnungen agierendes „Politbüro“, das sich anschickt, den Staaten Europas sagen zu wollen, was als demokratisch gilt. Um gleichzeitig unverfroren Wahlwerbung für die deutsche AfD zu machen – just zehn Tage vor der Wahl zum deutschen Bundestag. Applaus kommt passenderweise vor allem von einer Seite: von den rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien in Europa, die gerne das Bild zeichnen: Wir vertreten das Volk, die anderen die korrupte, antidemokratische Elite.
Seit letzten Freitag rätseln nicht wenige – auch in den USA – warum Vance sich für eine solche Rede entschieden hat. Es wäre die Chance gewesen, das sicherheitspolitische Konzept der Trump-Administration darzulegen, insbesondere was die Ukraine angeht. Aber vielleicht ging es ja genau darum: Es gibt kein Konzept, und anstatt sich vor den europäischen Partnern zu blamieren, wählte Vance lieber die Rolle als Klassenbully.
Viel brisanter nämlich ist, dass der Präsident der USA in der Ukraine Frieden um jeden Preis und über die Köpfe Europas hinweg über europäischen Boden entscheiden will. Bei seinen „Verhandlungen“ über den Krieg in der Ukraine will er mit Putin reden, aber weder die Ukraine noch die EU oder ein europäisches Land dabei haben. Dabei hat der selbsternannte „Dealmaker“ Donald Trump schon einige Asse, die er vielleicht noch im Ärmel gehabt hätte, in fast vorauseilendem Gehorsam gegenüber Russland nicht nur offengelegt, sondern eitel verkündet, sie nicht spielen zu wollen. Diktatfriede ja, Sicherheitsgarantien nein. Das kann man nicht so hinnehmen! Nichts über Europa ohne Europa!
Ich gebe J.D. Vance in einem Punkt völlig recht und mahne es seit Jahren ein: Europa muss sich um seine eigene Verteidigung selbst kümmern. Endlich. Multilateralismus und die regelbasierte Friedensordnung haben nur so lange funktioniert, solange die USA militärisch für die Durchsetzung des Rechts zu sorgen bereit waren. Nun sind sie es nicht mehr. Frieden und Freiheit müssen wir nun selbst sichern, durch europäische Souveränität, wirtschaftlich wie militärisch. Wir müssen unabhängig werden und stärker. Und das geht nur durch Einigkeit. In der Außen- und Sicherheitspolitik hilft uns Vielstimmigkeit nicht, im Gegenteil. Die Europäische Union muss nun im Blitztempo handlungsfähig werden und eine europäische Säule innerhalb der NATO aufbauen. Eine europäische Armee. Auf die Mitgliedstaaten kommt eine Schicksalsentscheidung zu: in der Bedeutungslosigkeit der Kleinstaaterei keine Rolle zu spielen, vielmehr Spielball für fremde Mächte zu sein, oder der EU das Pouvoir zu geben, mit einer Stimme zu sprechen und zu handeln. Auf dem Weg dorthin müssen Verteidigungsausgaben entweder aus den Stabilitätskriterien ausgenommen werden, oder noch besser: europäisch finanziert sein. Es geht um viel: um die Freiheit jedes einzelnen Menschen in Europa.