Die Zeitenwende ist in Österreich nicht angekommen
Materie-Herausgeberin Beate Meinl-Reisinger: Österreich darf die Zeitenwende nicht verschlafen, sondern muss eine klare Haltung gegenüber Russland einnehmen.
Am 24. Februar jährt sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal. Die russischen Aggressionen gegen die Ukraine bestehen jedoch seit 2014, seit der russischen Annexion der Krim und der Besetzung des Donbas.
Nur sehr vereinfachend stellt sich seither die Frage von Krieg und Frieden. In Wahrheit hat dieser Krieg eine Bedeutung weit darüber hinaus für die freie, westlich-demokratische Ordnung und die weltweite Sicherheits- und Friedensordnung. Denn in der Ukraine wird nicht nur um die territoriale Souveränität der Ukraine selbst gekämpft, sondern darum, in welcher Welt wir alle zukünftig leben wollen: in einer, die zurückkehrt zu einer stabilen Friedensordnung, oder in einer, in der das Recht des Stärkeren gilt, das dieser auch mit militärischen Mitteln samt nuklearer Drohung durchzusetzen vermag. Als Zeitenwende hat der deutsche Bundeskanzler den Krieg vor rund zwölf Monaten bezeichnet. Doch diese Zeitenwende ist an Österreich spurlos vorübergegangen. Dabei muss es gerade kleinen Staaten darum gehen, dass Staatsgröße und militärische Kapazität nicht die bestimmenden Faktoren in Sicherheits-, Wirtschafts- und Souveränitätsfragen sind.
Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg hat viele Länder Europas dazu gebracht, ihre Sicherheitspolitik nicht nur anzupassen, sondern grundlegend zu reformieren. Während Deutschland umgehend eine historische Aufstockung seines Verteidigungsbudgets veranlasste, brachen Finnland und Schweden mit jahrzehntelanger außenpolitischer Paktfreiheit, um Anträge auf NATO-Mitgliedschaft zu stellen. Putin hat viele Länder Europas, die die Annexion der Krim noch verschlafen haben, aufgeweckt. Die Zeitenwende hat aber auch zu einem neugewonnenen Selbstbewusstsein, einer Emanzipation der östlichen EU-Mitgliedstaaten geführt. So wird Europa nicht mehr ausschließlich von der deutsch-französischen Achse getragen. Auch Estland oder Polen – die vor dem imperialistischen Hunger Russlands seit Jahren warnen – übernehmen europaweit Leadership und zeigen klare Kante gegen Russland.
Während sich die tektonischen Platten der europäischen Sicherheitslandschaft in zuvor ungeahntem Maße verschieben, verfolgt Österreich nur eine Strategie: Alles soll möglichst beim Alten bleiben. Die Zeitenwende ist – anders als in Resteuropa – in Österreich nicht angekommen. Stattdessen ist unsere Republik gefangen in einem außen- und verteidigungspolitischen Selbstverständnis aus dem Kalten Krieg und der Sicherheit, von NATO-Staaten umgeben, im Ernstfall von diesen auch verteidigt zu werden. Diese „Sprachlosigkeit“ der österreichischen Regierung führt vor allem zu einem: Wir werden definiert, anstatt unser Schicksal selbst zu bestimmen.
Möglicherweise liegt ein wesentlicher Grund darin, dass eine kraft-, mut- und tatenlose Regierung sich in ihrer Politik von der Polemik der rechten Kräfte treiben lässt. Kräfte, die seit Jahren zeigen, dass sie willfährige Propagandagehilfen des Kremls sind. Österreich müsse sich in diesen Konflikt nicht einmischen. Schließlich seien wir historisch immer unserer Rolle als Brückenbauerin zwischen Ost und West treu geblieben, so der Tenor von ÖVP, SPÖ und FPÖ. Der Umstand, dass Österreich kein politisch neutraler Fleck mehr zwischen Ost und West ist, sondern ein Mitglied der Europäischen Union, das die Sanktionen ebenso mitträgt wie die anderen 26 Mitgliedstaaten, scheint in der Argumentation ebenso wenig eine Rolle zu spielen wie die Erkenntnis, dass Vermitteln und Verhandeln nur dann einen Sinn hat, wenn sich alle wieder zu Verträgen als Basis der Durchsetzung von Interessen bekennen anstatt auf Panzer, Granaten und Mord zu setzen.
Das Ergebnis einer fehlenden ehrlichen Debatte ist eine stimmungsgetriebene Beliebigkeit in außenpolitischen, geostrategischen und Verteidigungsfragen. So hat Österreich erklärt, Verwundete aus der Ukraine medizinisch in Österreich zu versorgen – aber nur, wenn es sich um Zivilisten handelt. Auch erklärte Verteidigungsministerin Tanner jüngst, dass Österreich keine ukrainischen Soldaten an Leopard-Panzern ausbilden werde, obwohl der Rat der Europäischen Union den Beschluss gefasst hat, die ukrainischen Streitkräfte bei der Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten zu unterstützen. Darüber hinaus bekennt sich Österreich eigentlich auch zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ist im Rahmen des „Partnership for Peace“-Programms auch eine NATO-Partnerschaft eingegangen.
Dennoch zieht die Politik ganz nach Belieben die Neutralitätskarte. So auch in der Frage des Aufbaus eines europäischen Luftverteidigungssystems. Diese Initiative von NATO-Staaten lehnte Verteidigungsministerin Tanner zunächst ab, nur um dann für eine Diskussion auf EU-Ebene zu plädieren. Eine weitere Konsequenz des nicht Handelns ist eine blamable Naivität. So wird Österreich nach wie vor als die Hauptstadt mit der höchsten Spionageaktivität bezeichnet. „Ich vermute, dass es in der Stadt mehr russische Agenten, Spitzel und Handlanger gibt als Polizisten“, sagte der Investigativjournalist Christo Grozev jüngst im Interview mit dem Falter. Die Entscheidung von Außenminister Schallenberg vor wenigen Wochen, vier russische Diplomaten auszuweisen, wird am Grundproblem wenig ändern.
All dies zeigt: In Österreich geht es der Bundesregierung am wenigsten um Sicherheit. Welche Lehren müssen auch wir aus dem russischen Angriffskrieg ziehen, um das Leben und die Freiheit der Menschen in Österreich in Zukunft zu schützen? Eine Antwort gibt es nicht. Nach wie vor liegt keine aktualisierte Sicherheitsstrategie vor. Viel schlimmer noch: Österreich betreibt zunehmend Politik à la Orbán mit dem Ziel, Russland nicht zu verschrecken. Will man sich alle Türen für die Zusammenarbeit mit einem autokratischen Regime in wirtschaftlichen und energiepolitischen Fragen für die Zeit nach dem Krieg offenhalten? Mit dieser Position finden wir uns auf dem europäischen Parkett immer isolierter.
Aber auch in anderen Bereichen zeigt die Regierung Tatenlosigkeit und Unehrlichkeit, und zwar in der Energiefrage. „Es ist gelungen, die Abhängigkeit von russischem Gas auf 20 Prozent zu reduzieren“, tönten Nehammer, Kogler und Gewessler im November. Doch jetzt zeigt sich: Das war geschwindelt. Österreich ist immer noch zu 70 Prozent abhängig von russischem Gas. Alternativen wurden nie gesucht, und so finanziert Österreich die Kriegsmaschinerie Putins in Milliardenhöhe.
Ein Jahr nach dem russischen Angriffskrieg ist es höchst an der Zeit, eine klare Haltung gegenüber Russland einzunehmen. Ein Jahr, in dem unsägliche Verbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung verübt wurden, ist Zeit genug, die eigenen Positionen zu überdenken. Die Regierung, allen voran Bundeskanzler Nehammer, ist aufgerufen, sich endlich zur westlichen Wertegemeinschaft zu bekennen. Es ist unsere moralische Verpflichtung als Österreich, in diesem völkerrechtswidrigen Krieg auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Auf der Seite des Völkerrechts, auf der Seite der Menschenrechte, auf Seiten der Freiheit und der Demokratie. Kompromisslos und ehrlich.