Von den Besten lernen: Bildungsreise nach Estland
Es ist Freitag, der 10. März, 9:00 Uhr an der Avatud Kool in Tallinn. Die estnische Wintersonne strahlt in die leeren Klassenzimmer. Ich schlendere durch die Gänge der Schule, vorbei an den Porträts, die Kinder über ihre Familienmitglieder gemalt haben. Es ist seltsam ruhig in der 2017 gegründeten Schule, nur einige wenige Schülerinnen und Schüler wuseln durch die Gänge.
Heute ist Independent Learning Day.
Die junge Direktorin heißt uns willkommen und beschreibt das Leitbild der Schule. Jedes Kind solle hier selbstständiges Denken lernen, Freude am Lernen haben, zu einer intelligenten und ausgeglichenen Persönlichkeit heranwachsen und so zur Stärkung der Gesellschaft beitragen. Dieses Leitbild begründet den Rahmen für eine Schule, die innovativ und autonom arbeitet.
Die Avatud Kool ist nur eine von vielen Schulen Estlands, in der Vertrauen, Autonomie und wissenschaftliche Evidenz großgeschrieben werden. Wohl nicht zufällig bilden jene Werte in einem Land mit einer liberalen Premierministerin die Basis des Bildungssystems. Mit Erfolg: Das estnische Bildungssystem ist eines der besten der Welt. Beim PISA-Test im Jahr 2018 führte Estland die europäischen Ergebnisse in allen Kategorien an.
Schulautonomie als Erfolgskonzept
Ein Schlüssel für diesen Erfolg ist die Schulautonomie. Im Verständnis, dass zu viel Regulierung die Eigenständigkeit hemmt, gibt das estnische Bildungsministerium ein nationales Curriculum vor. Wie die darin vorgegebenen Ziele erreicht werden, entscheiden die Lehrkräfte und die Schuldirektionen selbst. Nicht nur die Inhalte liegen in der Hand der Schulen, auch das Budget oder die Personalhoheit.
Im Fall der Avatud Kool bedeutet Schulautonomie auch, dass im Unterricht ein Fokus auf Sprachen gelegt wird. Estnisch, Russisch und Englisch spielen eine große Rolle. 50 Prozent der Kinder stammen aus russischsprachigen Haushalten, der Rest spricht Estnisch oder eine andere Sprache. Die Buchstaben des lateinischen und des kyrillischen Alphabets hängen Seite an Seite in den Klassenzimmern der unteren Schulstufen. Bereits in der siebten Schulstufe werden die Wissenschaften auf Englisch unterrichtet. Estland sei ein kleines Land, die Kinder von heute bereits morgen international tätig. Über den Tellerrand zu blicken sei bei 1,3 Millionen Einwohnern notwendig, so das Fazit der Direktorin.
Freude am Lernen ist eines der Ziele der Schule. Diese soll insbesondere durch projektbasiertes Lernen gefördert werden. Die Projekte ziehen sich von der ersten bis zur neunten Schulstufe durch. Mit Stolz verweist die Direktorin auf ein jüngst abgeschlossenes Projekt über die Familiengeschichte der Kinder. Zu den Aufgaben zählten ein Interview mit Verwandten, ein Text über eine Person ihrer Wahl sowie das Malen eines Porträts ihres Familienmitglieds. Dass die eigene Geschichte nicht immer friktionsfrei ist, zeigte das Projekt eines Schülers, der sich mit seinem Vorfahren auseinandersetzte – Wladimir Lenin.
Unabhängiges Lernen lernen
Zurück zum Independent Learning Day: Schulautonomie bedeutet auch, dass hier nur an vier Tagen der Unterricht im Klassenzimmer stattfindet. Einmal pro Woche lernen Kinder selbstständig von zu Hause oder gemeinsam mit Klassenkolleg:innen. Alle Unterrichtsmaterialien werden digital zur Verfügung gestellt, die Kinder und Jugendlichen im Tagesablauf auch digital durch das Lehrpersonal unterstützt.
Man wolle den Kindern bereits ab der ersten Schulstufe den Wert der Eigenverantwortung nahebringen. „Learn to learn“ ist ein Credo an der Schule, die Kinder ermutigt und ermächtigt, sich selbst Lernziele zu setzen und in Eigenregie daran zu arbeiten. Damit ist die Avatud Kool nicht alleine in Estland: Seit 2001 sind in Estland alle Schulen ans Internet angeschlossen, Lernen mit digitalen Mitteln war bereits lange vor der COVID-Pandemie Usus. Ein großer Vorteil: Die Pandemie hat den Lernfortschritt der estnischen Kinder nicht gebremst, wie aktuelle Studien zeigen.
Österreich unterwirft sich der Mittelmäßigkeit
In einem Land, in dem sich Klassenzimmer und Unterricht seit Jahrzehnten kaum geändert haben, erscheinen Schulautonomie, Digitalisierung oder Eigenständigkeit als Utopie. Aber dass diese gar nicht so weit von uns entfernt ist, zeigt das estnische Bildungssystem eindrücklich.
Österreichs Bildungsministerium unterwirft sich jedoch seit Jahrzehnten der Mittelmäßigkeit und Stupidität. Dieser Anspruch wird uns nicht weiterbringen. Österreich zum Bildungsmeister zu machen – das muss unser erklärtes Ziel sein. In einem Land, das nicht über große natürliche Ressourcen verfügt, besteht unser einziger Reichtum doch allein aus den Menschen in unserem Land und ihren Talenten.
Für Österreichs gesellschaftlichen Zusammenhalt und künftigen Wohlstand ist es unumgänglich, das Bildungssystem zu reformieren und auf Innovation zu setzen. So, wie es Estland bereits vormacht.