Abchasien – in den Subtropen der Isolation
Die Kriege der neunziger Jahre sind für Georgien wie die Büchse der Pandora. Im heutigen georgischen Kontext bleibt die Geschichte des georgisch-abchasischen Konflikts unerforscht und ungelöst. Leider ist dieser Konflikt nach wie vor eine schwere Last für die Menschen. Er ist eingefroren, auch wenn er noch andauert.
Was ist Abchasien, und wo liegt es?
Es gibt viele Orte auf der Erde, an denen man das Gefühl hat, dass die Zeit stehengeblieben ist. Abchasien ist ein solcher Ort.
Abchasien ist eine Region im Südkaukasus, die international als Teil von Georgien anerkannt ist. Der Norden und Westen der Region grenzen an Russland. Der Osten ist mit der Region Samegrelo-Zemo Svaneti verbunden, wobei der Fluss Enguri die Grenze zwischen beiden Regionen darstellt. Im Süden befindet sich das Schwarze Meer. Abchasien liegt in einer subtropischen Klimazone mit Meer, fruchtbarem Boden und Bergen. In der Sowjetzeit war Abchasien eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR). In der UdSSR wurde Abchasien als „Kaukasische Riviera“ bezeichnet. Es war ein wohlhabendes, schönes, an Natur und Ressourcen reiches Land, reich an Kultur und ethnischer Zusammensetzung.
Die Abchas:innen haben eine eigene Sprache, eigene Bräuche und Traditionen, die für das kaukasische Volk typisch sind. Die Sprache gehört zur nordwestkaukasischen Sprachfamilie, zusammen mit der tscherkessischen und der abasinischen Sprache. Vor dem Krieg von 1992 bis 1993 beherbergte diese kleine Region Menschen vieler Kulturen und Ethnien. Mit einer Bevölkerung von 535.100 Menschen, von denen rund 244.000 Georgier:innen (~46 %) und 94.000 Abchas:innen (~18 %) waren, lebten in Abchasien auch Armenier:innen, Griech:innen, Jüdinnen und Juden, Ukrainer:innen, Est:innen, Russ:innen und andere. Nach dem Krieg wurde die Bevölkerung reduziert. Rund 240.000 ethnische Georgier:innen wurden in andere Regionen Georgiens zwangsumgesiedelt.
Was geschah vor dem Krieg?
Drehen wir die Uhr kurz zurück. 1977 verabschiedete die UdSSR eine neue Verfassung, nach der Armenien, Aserbaidschan und Georgien der russischen Sprache den Status der Co-Amtssprache einräumen mussten, was in der Praxis bedeutete, dass Russland die dominierende Position eingenommen hätte. Am 14. April 1978 fand auf den Hauptstraßen von Tiflis eine große friedliche Demonstration statt, bei der die Beibehaltung des Status der georgischen Sprache gefordert wurde. Irgendwie gelang es dem Führer der georgischen kommunistischen Partei, Eduard Schewardnadse, die Erlaubnis zu erhalten, den früheren Status der georgischen Sprache zu bewahren. Seit 1990 wird der 14. April daher als Tag der georgischen Sprache gefeiert.
Die Beibehaltung der Sprache beruhigte die Situation zwischen Georgiern und der sowjetischen Führung, führte aber zu Spannungen in Abchasien. Im Mai 1978, nach den Ereignissen in Tiflis, kam es in Sochumi zu einer Kundgebung, bei der die abchasische Öffentlichkeit eine Bestimmung forderte, wonach die Abchasische ASSR ihre Unterordnung von der Georgischen SSR zur Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) ändern sollte. Die Verfassung von 1978 bestätigte den autonomen Status der Abchasischen ASSR innerhalb der Georgischen SSR. Es wurden Mittel für die wirtschaftliche Entwicklung Abchasiens bereitgestellt und kulturelle Leistungen wie die Gründung der abchasischen Staatsuniversität, die Herausgabe von Zeitschriften in abchasischer Sprache (zuvor gab es sie nur in russischer und georgischer Sprache) sowie die Einrichtung eines abchasischen Rundfunks und eines staatlichen Volkstanzensembles in Sochumi.
Und dann?
Das wichtigste Ereignis für Abchas:innen und Georgier:innen fand 1989 im Dorf Lykhny statt, wo sich 30.000 ethnische Abchas:innen versammelten und in einem Brief an den Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, forderten, dass Abchasien der Status einer Unionsrepublik innerhalb der UdSSR gewährt und der Status einer verbündeten Republik, den Abchasien 1921 hatte, wiederhergestellt wird. Die Forderung wurde sofort abgelehnt, aber es wurden einige Änderungen und Zugeständnisse gemacht. Es wurden spezifische Quoten für bürokratische Posten festgelegt, die den Abchas:innen mehr politische Macht verliehen. Die in Abchasien lebenden Georgier:innen protestierten gegen die Diskriminierung, der sie durch die Elite der Kommunistischen Partei Abchasiens ausgesetzt waren, und forderten einen gleichberechtigten Zugang zu den autonomen Strukturen. Langsam nahmen die Spannungen zwischen Abchas:innen und Georgier:innen zu.
9. April
Jede:r Georgier:in erinnert sich deutlich an diesen Tag. Die Ereignisse des 9. April waren ein Wendepunkt für die nationale Befreiungsbewegung Georgiens.
Am 9. April 1991 erklärte Georgien seine Unabhängigkeit von der UdSSR. Die friedliche Demonstration, die die Loslösung von der UdSSR forderte, wurde von den sowjetischen Truppen niedergeschlagen. Dabei kamen 21 Menschen ums Leben, und 427 wurden verletzt. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit am 26. Dezember 1991 litt Georgien während des größten Teils des folgenden Jahrzehnts unter zwei interethnischen Kriegen, einem Bürgerkrieg in Tiflis und dem völligen Zusammenbruch der staatlichen Institutionen. Die Beteiligung verschiedener Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Ideologien, die versuchten, die Kontrolle über den Staat zu übernehmen, verschlimmerte die Situation. Während die Staatlichkeit Georgiens kaum stabil war, begann die abchasische Bevölkerung mit der Abspaltungsbewegung. Die Abchas:innen wurden von Söldnergruppen und Freiwilligen aus Russland und einigen nordkaukasischen Republiken unterstützt, die Mitglieder der im August 1989 in Sochumi gegründeten Organisation „Konföderation der Bergvölker des Kaukasus“ waren. Diese verschiedenen Gruppen halfen den Abchas:innen im Krieg.
Am 14. August 1992 begann der Krieg zwischen Abchasier:innen und Georgier:innen in Abchasien. Die russische Präsenz in diesem Krieg ist ein wesentlicher Bestandteil der Ergebnisse und Folgen des Krieges. Der 27. September 1993 gilt als das Ende der militärischen Phase des Konflikts. Der Krieg endete mit der Niederlage der georgischen Streitkräfte, die zu erheblichen Verlusten, der Trennung Abchasiens von Georgien, mehr als 240.000 Binnenvertriebenen und einem selbsternannten Staat – der Republik Abchasien – führte.
Zeit der Beobachtung
Jede Reise nach Abchasien ist für mich eine neue und unnachahmliche Erfahrung. Letzten Sommer fuhr ich heim nach Gali, der östlichsten Stadt Abchasiens, die hauptsächlich von Georgier:innen bewohnt wird. Es war meine erste Reise nach Abchasien, bei der ich nicht nur Zeit mit meiner Familie oder georgischen Freund:innen verbrachte, sondern auch mit Abchas:innen, die ich im Rahmen eines friedensfördernden Projekts in Belgrad und Istanbul kennengelernt hatte.
Ich fuhr in die Hauptstadt Sochumi, um die fantastischen Aussichten und das langsame Tempo an der Küste zu genießen. Es war mehr eine Beobachtung der Umgebung als eine Reise. Ich merkte, wie sich meine Einstellung änderte, als ich erfuhr, dass ich fünf Freund:innen in der Stadt hatte – ich war hier nicht allein.
Während dieser Beobachtung baten mich meine georgischen Freunde, die aus Abchasien vertrieben worden waren, Fotos von ihren Häusern in Sochumi zu machen. Ich konnte nur den Wunsch eines Freundes erfüllen, nicht aber den der beiden anderen. Diesmal fand ich statt des Hauses des einen eine Autowaschanlage und beim anderen das Büro der Staatsanwaltschaft. Die Beobachtung wurde fortgesetzt.
Auf einer Konferenz zur Friedenskonsolidierung in Istanbul, auf der Journalist:innen, Psycholog:innen und ehemalige Kämpfer gemeinsam an der Transformation von Konflikten und der Aufarbeitung der Geschichte arbeiteten, traf ich Batal. Batal, 55, stach dort durch sein Einfühlungsvermögen und sein Verständnis für die Menschen auf der anderen Seite des Konflikts aus der Masse heraus. Wir versprachen uns gegenseitig, uns in Sochumi zu treffen, wann immer ich könnte, und wir hielten dieses Versprechen. Während unseres Spaziergangs mit seiner Enkelin im Maiak-Viertel von Sochumi erzählte er mir, wie viel er zu Abchasien beigetragen hat, was ihm aus der Zeit vor und während des Kriegs in Erinnerung geblieben ist, wo er die Zukunft Abchasiens sieht und ob eine Versöhnung möglich ist.
„Ich war 16, als der Krieg begann. Von diesem Tag an musste ich ein Mann werden, und die Kindheit war vorbei. Ehrlich gesagt überraschte das meine Familienmitglieder nicht; sie bereiteten sich ebenfalls auf den Krieg vor. Ich habe die UdSSR immer für ihre ,Werte‘ gehasst, die eine Nation stärkten und die Bedeutung anderer kleinredeten. So haben wir uns während der gesamten Geschichte der UdSSR gefühlt. Ich bedaure den Verlust des abchasischen und des georgischen Volkes“, sagte Batal, ein ehemaliger Kämpfer, der mit dem Titel „Held des Abchasienkriegs“ ausgezeichnet wurde.
Für die nächste Mission fuhr ich nach Achali Atoni, einer nahe gelegenen Stadt im Westen der Hauptstadt, wo ich die Schwester eines Freundes aus Tiflis – Neliko – treffen sollte. Als der Krieg ausbrach, war sie 21 Jahre alt, und als ethnische Georgierin musste sie mit ihrer Familie fliehen. Auf der Suche nach Zuflucht wechselte sie mehrmals ihren Aufenthaltsort, lebte sogar drei Jahre lang in Schweden, kehrte aber schließlich in ihre Heimat Abchasien zurück. Sie empfing mich freundlich und war sehr fürsorglich und warmherzig. Bei einer Tasse süßen Kaffees erzählte sie mir unglaubliche Geschichten aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Sie sprach über ihre letzten Studienjahre: „Ich erinnere mich, dass ich an der Universität war, als ich erfuhr, dass auch der Lektor der Universität die Forderung an Gorbatschow unterzeichnet hatte. Ich war schockiert, denn ich war seine georgische Studentin, unter Hunderten von anderen, und ich fühlte mich bedroht. Er war mit meiner georgischen Familie und vielen Georgier:innen in der Umgebung befreundet, sodass ich nie den Eindruck hatte, dass er etwas gegen uns hatte“, sagt Neliko, die damals an der abchasischen Staatsuniversität Linguistik studierte. Heute unterrichtet sie zu Hause Student:innen in Englisch.
Seit dem Krieg bis heute
Die Zeit hat sich in Abchasien verlangsamt, ist fast stehengeblieben. Einige Gebäude stehen seit dem Ende des Kriegs an derselben Stelle, eingehüllt in eine dichte Vegetation, die ihnen ein Gefühl der Stille und Ruhe verleiht, während das Leben weitergeht. Trotz zahlreicher Bemühungen des abchasischen Volkes, als unabhängiger Staat anerkannt zu werden, haben das nur Russland, Syrien, Nauru, Nicaragua und Venezuela getan. Vor kurzem reisten Taliban-Behörden nach Abchasien, um sich mit dem Außenminister zu treffen, was Bände über die diplomatischen Präferenzen der De-facto-Regierung Abchasiens spricht, die im Moment eine stark prorussische Ausrichtung hat. Je enger Abchasien die Beziehungen zu Russland und seinen Verbündeten pflegt, desto mehr bleibt es von der Außenwelt isoliert, was einem Teufelskreis gleichkommt.
Abchas:innen zu treffen und offene Gespräche mit ihnen zu führen, war für mich eine wertvolle Erfahrung.
„Ich wollte schon immer Georgier:innen kennenlernen. Nicht weil ich euch als meine Feinde betrachte, sondern weil ich mir klar machen wollte, wer wir füreinander sind. Ehrlich gesagt bin ich neugierig, wie georgische Jugendliche sich amüsieren, wie ihr euch kleidet, welche Musik ihr hört, wie ihr tanzt, wen ihr liebt oder hasst, ob ihr reist und wohin, und was ihr über uns Abchas:innen denkt“, sagte mir ein junges Mädchen aus Sochumi.
Ich antwortete ihr, dass ich mich freue, mit meinen neuen Bekannten in Sochumi zu sein und menschliche Gespräche zu führen, ohne dass eine dritte Partei beteiligt ist. Ich hoffte, dass ich all ihre Fragen beantworten und ihre Neugierde befriedigen konnte.
„Dies ist ein sicherer Ort, an dem wir uns treffen, Gedanken austauschen, etwas trinken und manchmal auch neue Leute kennenlernen können. Aber das Wichtigste ist, dass wir hier zusammenkommen, um zu tanzen und die unangenehmen Emotionen und Energien loszulassen, die seit unserer Kindheit in uns stecken und die durch den Krieg und die Isolation entstanden sind. Hier verschwinden sie, und dieser Ausblick ist einfach umwerfend, oder?“
Es geschah inmitten des eingefrorenen Konflikts, in einem gemütlichen Techno-Club im elften Stock des alten Sanatoriums in Sochumi, mit unglaublich passender Aussicht und Musik, unter tanzfreudigen abchasischen Jugendlichen, die sich von den sozialen Grenzen und den Folgen des Kriegs befreien wollten, die direkt vor dem Club lagen. Sie wirkten frei, jung, schön und begeistert von Abenteuern und der frischen Brise einer neuen Freundschaft. Wir tanzten leidenschaftlich zusammen und wollten jede zuvor verpasste Gelegenheit, miteinander zu tanzen, kompensieren. Dieses Zusammentreffen und diese Verbindung kamen unerwartet und brachten mich dazu, mich mit Gedanken auseinanderzusetzen, die ich vor langer Zeit in meinem Kopf hatte. Sie tauchten sofort wieder auf, und ich hatte keine andere Wahl, als mich ihnen zu stellen und sie zu beantworten. Die Begegnung mit diesen Menschen zeigte mir, wie ähnlich und wie verschieden wir sind. Mir gingen unterschiedliche Gedanken durch den Kopf, aber der häufigste war: Was wäre, wenn der Krieg nicht gewesen wäre? Es fühlte sich alles surreal und neu an.
Was wäre, wenn der Krieg nicht gewesen wäre? Dann wäre alles anders. Bei meinen Begegnungen mit den Menschen in Abchasien wurde mir klar, wie der Krieg die Menschen trennte und isolierte, sodass sie einander hassten und mit Vorurteilen und Mythen übereinander lebten, was zu einer noch größeren Entfremdung zwischen den beiden Gesellschaften führte. Diese Entfremdung ist ein Vorteil für die verschiedenen Konfliktparteien, damit sie das Spiel „Teile und herrsche“ spielen können. Und aufgrund dieser Entfremdung ist es unwahrscheinlich, dass Menschen wie ich nach Hause zurückkehren.
Die Positionierung der abchasischen Behörden gegenüber dem russischen Krieg in der Ukraine, der russische Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik, die Propagandamaschinerie und die Reaktion der Bevölkerung auf das, was seit Jahren in Abchasien geschieht, werden immer intensiver.
Die Zivilgesellschaft engagiert sich zunehmend in Abchasien, was darauf hoffen lässt, dass die einfachen Menschen, die für ihre Grundrechte und ihre Freiheit kämpfen, eine solide Basis schaffen können und dass dieser Durchbruch zu noch größeren Veränderungen führt. Allerdings ist die Isolation in der globalisierten Welt eine schwere Last, die Abchasien zu tragen hat.
LELA JOBAVA hat an der Caucasus University einen Abschluss in European Studies gemacht. Sie ist Konfliktforscherin und Journalistin aus Gali (Abchasien). Angetrieben von ihrer Leidenschaft für konfliktbezogene Berichterstattung, Geschichtenerzählen und Filmemachen, engagiert sich Lela für die Berichterstattung über verschiedene ethnische, religiöse, sprachliche und geschlechtsspezifische Themen und die Ausarbeitung von unverwechselbaren Geschichten, die einzigartige Perspektiven aufzeigen. Besonders am Herzen liegen Lela die Berichterstattung über aktuelle Themen und die Aufdeckung von Geschichten über das gemächliche Leben in Abchasien, das unter dem Schleier der Globalisierung verborgen geblieben ist. Die Themen Erinnerung und Identität sind integrale Bestandteile ihrer Arbeit.