Am Schalthebel der Macht: Wer übernimmt die Führung im Nationalrat?
Die österreichische Demokratie mag historisch auf einem stabilen Fundament stehen, doch es zeigt sich zunehmend, dass selbst etablierte Systeme nicht immun gegen autoritäre Tendenzen sind. Länder wie Polen und Ungarn verdeutlichen, dass demokratische Institutionen unter der Oberfläche erodieren können. Aber ist so etwas auch in Österreich möglich? Tatsächlich zeigt eine genauere Analyse, dass die Institutionen, die Österreichs liberale parlamentarische Demokratie absichern, mehrere zentrale Schwachstellen aufweisen. Eine davon sitzt mitten im Herzen des Parlaments selbst: die Funktion des Nationalratspräsidenten birgt ein potenzielles Risiko.
Der Präsident oder die Präsidentin des Nationalrats ist eine der mächtigen Figuren im politischen System. Er/Sie leitet Sitzungen, stellt Fragen zur Abstimmung, verkündet Ergebnisse und ist das oberste Verwaltungsorgan des Parlaments. Alle diese Befugnisse sind in einer Person konzentriert. Sollte also ein Präsident oder eine Präsidentin in diesem Amt bewusst parteiisch oder destruktiv agieren, könnte er oder sie die parlamentarische Demokratie gezielt schwächen.
Sollte eine solche Situation eintreten, gäbe es nahezu keine Möglichkeiten, die Amtsführung dieser Person zu kontrollieren. Insbesondere existiert keine Möglichkeit zur Abwahl. Während es in anderen Bereichen des politischen Systems „Checks and Balances“ gibt, fehlt dies vollständig im Fall des Nationalratspräsidenten. Im bestehenden System ist daher die Frage, welche Person in diese Funktion gewählt wird und ob es sich dabei um eine Person von untadelig demokratischer Gesinnung handelt, von enormer Tragweite. Traditionell stellt die stärkste Partei im Parlament den Präsidenten. Die zweit- und drittstärkste Fraktion stellen jeweils den Zweiten und Dritten Nationalratspräsidenten, denen jedoch keine Macht zukommt. Diese Praxis ist jedoch nur eine ungeschriebene Regel, die nicht durch gesetzliche Vorgaben abgesichert ist. Die Nationalratsabgeordneten tragen daher die volle Verantwortung, wen sie nach welchen Auswahlkriterien in diese Schlüsselfunktion wählen und ob sie die Sicherung einer Abwahlmöglichkeit einbauen.
Ein parteiischer Präsident könnte seine Macht leicht missbrauchen. Er könnte durch gezielte Manipulationen Sitzungen verzögern, verhindern oder nach eigenem Ermessen einberufen. Sollte eine Sitzung nicht stattfinden, kann das Parlament keine Entscheidungen treffen – ein handlungsunfähiges Parlament wäre die direkte Folge. Dies würde nicht nur den politischen Prozess behindern, sondern auch das Vertrauen in die Demokratie untergraben.
Hinzu kommt, dass die gelebte Geschäftsordnung im Parlament auf vielen ungeschriebenen Usancen beruht. Sitzungstermine werden etwa im Konsens durch die Präsidialkonferenz festgelegt, die aus dem Präsidenten, dem Zweiten und Dritten Präsidenten und den Obleuten der Parlamentsklubs besteht. Diese Praxis beruht aber lediglich auf dem guten Willen aller Beteiligten. Ein Präsident mit destruktiver Agenda könnte Sitzungen auch gegen den Willen der anderen einberufen oder verhindern. Damit wäre der demokratische Prozess gefährdet. Die Klubs, insbesondere der Oppositionsparteien, könnten in ihrer Arbeit behindert werden.
Demokratische Prinzipien statt Parteiinteressen
Vor 20 Jahren wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, dass Demokratien wie die österreichische derart anfällig für schleichende Erosion sein könnten. Doch die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zeigen, dass der Abstieg in autoritäre Strukturen schneller geschehen kann, als man denkt. Gerade deshalb ist es unerlässlich, dass Schlüsselpositionen im Staat – wie die des Präsidenten des Nationalrats – mit Bedacht besetzt werden.
Am 24. Oktober 2024 wird das Amt des Nationalratspräsidenten neu vergeben. Diese Entscheidung könnte weitreichende Folgen für die Zukunft der österreichischen Demokratie haben. Es muss sichergestellt werden, dass der Präsident oder die Präsidentin ihre Rolle im Einklang mit den demokratischen Prinzipien ausüben und sich nicht von parteiischen Interessen leiten lassen. Denn die enorme Machtfülle, die dieses Amt mit sich bringt, macht es besonders anfällig für Missbrauch.
Doch es geht nicht nur um die Person des Präsidenten. Auch die Gewaltenteilung in Österreich steht zunehmend unter Druck. In den letzten Jahren wurde das Parlament von der Regierung häufig nicht ernst genug genommen, was die Rolle des Präsidenten umso wichtiger macht. Wenn die Regierung das Parlament dominiert, wird die Demokratie weiter geschwächt. Deshalb sollten auch die Wähler:innen ihre Verantwortung nicht leichtfertig abtun. Ihre Entscheidung bei der Wahl beeinflusst, wer in den nächsten Jahren die zentralen Hebel der Macht bedient.
Die Zeit zu handeln ist jetzt. Wenn wir die Demokratie in Österreich langfristig stabilisieren wollen, müssen Strukturen geschaffen werden, die den Missbrauch von Macht verhindern. Ein Präsident des Nationalrats sollte auch institutionell gar nicht erst die Möglichkeit haben, den politischen Betrieb zu blockieren oder zu manipulieren. Diese Warnung ist keine Panikmache, sondern Vorsicht. Denn der Rückweg aus autoritären Verirrungen ist immer schwieriger als der Abstieg, weil die Leute, die ein System demokratisieren, an sich wohl selbst höhere rechtsstaatliche und demokratische Ansprüche stellen müssen als die, die ein System unterminieren.
Die bevorstehende Wahl des Nationalratspräsidenten ist daher von entscheidender Bedeutung. Nachdem wir Wähler:innen uns entschieden haben, tragen jetzt politische Entscheidungsträger:innen die Verantwortung dafür, dass diese Position mit jemandem besetzt wird, der seine Aufgaben im Sinne der Demokratie und nicht parteipolitischer Interessen oder gar gezielt zum Schaden des Parlaments ausübt. Ein System der Macht braucht Kompromisse, keinen Missbrauch. Nur so kann die österreichische Demokratie vor den Bedrohungen geschützt werden, die wir in anderen Ländern bereits sehen.
ANDREAS KOVAR ist Gründer und Managing Partner von Kovar & Partners und seit 25 Jahren als Public-Affairs-Berater tätig. Davor arbeitete er im österreichischen Nationalrat und im Europäischen Parlament.
WALTER OSZTOVICS ist Politikberater und Managing Partner von Kovar & Partners. Vor seinem Wechsel in die Politikberatung war er als Politikjournalist tätig.