Zwei Dinge, die sich Österreich von den besten Bildungssystemen der Welt abschauen kann
Die Bildungsexpertin Eva Keiffenheim gibt Einblicke in ein Werkzeug der Bildungspolitik und zwei Beispiele, von denen Österreich lernen kann.
Österreich gibt im Schnitt weniger Geld für Bildung aus als der Schnitt der 35 OECD-Länder. Um genau zu sein, gab Österreich 4,7 Prozent des BIP für Bildungseinrichtungen von der Volksschule bis zur Universität aus, während der Durchschnitt der OECD-Länder 4,9 Prozent in Bildung investiert. Und auch die Ergebnisse des österreichischen Bildungssystems – gemessen an PISA-Studien, Ergebnissen und dem europäischen Bildungsbericht – gehören nicht zu den höchsten.
Was muss passieren, damit Schulen in Österreich zu den besten der Welt gehören? Und was kann dabei von anderen Ländern gelernt werden?
Vergleiche einzelner Aspekte sind an dieser Stelle wenig sinnvoll. Es gibt selten nur einen einzigen Grund, warum ein Bildungssystem erfolgreicher ist als ein anderes. Vielmehr ist Bildungserfolg eine Verkettung kontextabhängiger Faktoren, die in Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten zueinander stehen. Und doch gibt es in der globalen Forschung und in leistungsstarken Bildungssystemen bestimmte Denkansätze, von denen das österreichische Bildungssystem kontextübergreifend lernen kann.
Das Werkzeug für langfristige Veränderung im Bildungssystem
Systemdenken beschreibt eine Reihe von Denkweisen und analytischen Werkzeugen, um komplexe Systeme zu verstehen. Eine weit akzeptierte Sichtweise, die zunehmend Anwendung in der globalen Bildungspolitik findet, sind die sogenannten Interventionspunkte oder Leverage Points von Donella Meadows.
Meadows beschreibt, welche Interventionspunkte innerhalb eines Systems die größten Hebelwirkungen für Veränderungen auf Systemebene haben. Sie erklärt diese Punkte in aufsteigender Reihenfolge ihrer Wirksamkeit und beginnt mit jenen, die eine schwache Hebelwirkung haben, aber leichter umzusetzen sind – dazu gehören Hebel wie Infrastruktur, also z.B. die Ausstattung von Klassenzimmern, Messinstrumente, überarbeitete Benotungsskalen oder Materialien, wie neue Lehrmittel. Weiter oben auf der Skala der Wirksamkeit sind Hebelpunkte, die schwieriger umzusetzen sind: Ziele, Denkweisen oder Einstellungen, aus denen Entscheidungen innerhalb eines Systems hergeleitet werden.
Ansatzpunkte für die Systemtransformation (Quelle: A New Education Story adaptiert von Winthrop et al. aus Meadows (1999) und Gespräche mit Populace)
Erkenntnisse von RISE, einer globalen Forschungsorganisation, die die Veränderung von Bildungssystemen untersucht, reihen sich in einen Konsens anderer Studien ein: Entscheidungsträger:innen scheitern oft daran, Bildungssysteme langfristig zu verbessern, weil sie an sichtbaren Interventionspunkten mit geringer Hebelwirkung arbeiten (Infrastruktur, Messinstrumente, Materialien), ohne die unsichtbaren, aber wirkungsvolleren Punkte (Ziele, Denkweisen, und Einstellungen) zu berücksichtigen.
Dieser Fokus auf sichtbare Einzelelemente vernachlässigt jedoch, dass Lernende und Lehrende in ein größeres System eingebettet sind. Fehlendes Systemdenken führt oft zu falschen Schlussfolgerungen über die Ursache und zu fehlerhaften und verschwendeten Ressourcen für Lösungen. Zwar können auch Interventionen mit geringerem Hebel die Lernergebnisse von Schüler:innen verbessern – ohne Berücksichtigung des gesamten Systems sind sie langfristig jedoch zum Scheitern verurteilt.
Wenn wir also über das Lernen von anderen Ländern sprechen, ist es ratsam, sich Denkweisen, Einstellungen und Werte anzusehen, aus denen Entscheidungen im Bildungssystem getroffen werden, anstatt einzelne Initiativen oder Programme zu analysieren.
Evidenzbasierte Entscheidungsfindung in Estland
Estnische Schüler:innen schneiden in der aktuellsten PISA-Studie besser ab als alle anderen europäischen Länder – und das trotz vergleichsweise niedriger Bildungsausgaben und geringer Kontaktzeit. Während in den anderen leistungsstärksten Ländern, wie Singapur oder Korea, hohe Lernergebnisse mit langen Schultagen und Einzelunterricht einhergehen, lernen estnische Schüler:innen viel in wenig Zeit.
Eine Erklärung für die Effektivität und Effizienz des Bildungssystems ist Estlands Paradigma von evidenzbasierter Entscheidungsfindung. Das gesamte öffentliche Verwaltungssystem agiert mittels einer Verbindung zwischen Politik und Forschung, mit Zuständigkeitsbereichen für jedes Ministerium.
Im Bildungsbereich gibt es zum Beispiel ein öffentlich zugängliches Bildungsstatistik-Portal, das Informationen zu allen Bildungseinrichtungen erhebt und zugänglich macht: Schüler:innenzufriedenheit, Häufigkeit von Mobbing, Fehlstunden, Klassengröße, die Anzahl von Computern, Testergebnisse, Regierungsausgaben pro Schüler:in und vieles mehr. Die Daten werden unter anderem dazu verwendet, die Wirksamkeit von Politikmaßnahmen zu untersuchen, spezifische Herausforderungen zu erkennen und in Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen und dem Bildungsministerium zu adressieren.
Diese evidenzbasierte Denkweise hat auch Eingang in das Lehren und Lernen gefunden. Estland hat einen Lehrplan für Lehrkräfte und Schüler:innen rund um die Wissenschaft des Lernens aufgebaut. Viele Schulen, wie das Pelgulinna-Gymnasium, haben dadurch Fächer wie „Lernen, wie man lernt“ integriert, eine Strategie, die nachweislich zum Lernerfolg der Schüler:innen beiträgt.
Das Wohlergehen junger Menschen als Kernziel von Bildung in Finnland
Während das finnische Bildungssystem in den 1990ern nicht auf dem Radar internationaler Vergleiche war, schneidet Finnland mit Blick auf Lernergebnisse, Bildungsgerechtigkeit und Schüler:innenzufriedenheit seit einigen Jahren sehr gut ab. Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, das Bildungssystem zu verändern, angefangen mit der Kreation einer Vision rund um den Sinn und Zweck von Bildung in den frühen 1970er Jahren.
Österreich kann im Hinblick auf Bildung viel von Finnland lernen – insbesondere von einer gesellschaftlichen Einstellung, die verschiedenste Entscheidungen zu Lehrplänen, Lehrkräfteausbildung und Infrastruktur beeinflusst. Die Gesundheit und das Wohlbefinden der Schüler:innen sind zentrale Anliegen von politischen Entscheidungsträger:innen und Pädagog:innen. Körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden gelten als notwendige Voraussetzungen für qualitativ hochwertiges Lehren und Lernen in der Schule.
Der Schulalltag ist deshalb so gestaltet, dass Kinder und Lehrkräfte eine gesunde Balance zwischen akademischer Sitzarbeit, körperlicher Aktivität und außerschulischem Lernen haben. Spielen ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit jeder Schule. Der finnische Bildungsexperte Pasi Sahlberg schreibt dazu:
„Nach der Spielpause im Freien rasten die Kinder voller Energie und Freude, erfrischt und bereit für die nächste Aktivität, zurück ins Schulgebäude. Wie nur wenige andere Länder auf der Erde versteht Finnland, dass die ständige körperliche Aktivität, die Natur, das Spielen an der frischen Luft und eine emotional warme, kooperative Lehrer-Schüler-Beziehung zu den grundlegendsten Bausteinen des Lernens und Wohlbefindens gehören.“
Die Bedeutung für Österreich
Bildung und Lernen untermauern fast alle individuellen, sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Ziele. Hervorragende Bildungssysteme können dazu beitragen, eine Gesellschaft aufzubauen, die Lösungen zu den dringendsten Herausforderungen findet.
Bildungseinrichtungen so zu verbessern, dass Kinder Zugang zu bestmöglicher Bildung haben, sollte die höchste politische Priorität erhalten. Um das Ziel zu erreichen, allen Kindern, unabhängig von deren sozio-ökonomischem Hintergrund, Zugang zu exzellenter Bildung zu ermöglichen, können wir einiges von Estland und Finnland lernen: Evidenzbasierte Entscheidungsfindung und die Priorisierung des Wohlergehens von Schüler:innen und Lehrkräften wären Inspirationsquellen mit großer Hebelwirkung.
EVA KEIFFENHEIM berät gemeinnützige Organisationen und Entscheidungsträger:innen bei der Entwicklung von Initiativen rund um die Veränderung von Bildungssystemen. Sie ist Mitautorin des Bildungsreports „A New Education Story: Three Drivers to Transform Education Systems“ und hat bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine globale Initiative rund um den Zweck von Bildung ins Leben gerufen. Sie ist TEDx Speaker, Teach For Austria Alumna, Salzburg Global Fellow, und Mitgründerin von Speed Up, Buddy! – einer Mentoring-Plattform für Erstakademiker:innen.