Das „schwächste Glied“: Warum gerade Österreich ins Visier russischer Geheimdienste geriet
Der letzte KGB-Chef, Wladimir Krjutschkow, kam ins Schwärmen, als er auf Wien angesprochen wurde: „Es war ein guter Ort für die Arbeit und die Österreicher sind sehr tolerant.“ Daran änderte auch das Ende des Kalten Kriegs nichts. „Bestimmte Nachrichtendienste“ des ehemaligen Ostblocks würden weiter operieren, „als gingen sie die politischen Umwälzungen nichts an“, meinte ein Beamter des Innenministeriums 1991.
Einer der Hauptgründe hierfür war, dass Österreich ein sicherer Hafen für halbseidene Geschäfte bildete: Rund 400 Milliarden Schilling sollen jährlich aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion über Österreich in den Westen geflossen sein. Binnen Kurzem waren damals rund 600 Gesellschaften mit russischen Eigentümern oder Teilhabern im Handelsregister eingetragen. Die Großen der russischen Mafia-Syndikate, so das Magazin Profil, zog es „fast magisch nach Wien, in die traditionelle Drehscheibe des Osthandels, und nächstliegende Bastion westlichen Wohlstands“.
Seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin 1999/2000 haben sich die Akteure auf russischer Seite stark gewandelt: An die Stelle des KGB traten der Auslandsgeheimdienst SWR und der größere Inlandsgeheimdienst FSB. Während der KGB trotz seiner Allmacht über das Leben der einfachen Sowjetbürgerinnen und -bürger unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei stand, ist der FSB keinerlei Aufsicht unterstellt. Der Dienst ist lediglich der obersten Exekutive verpflichtet. Deren Angehörige sind primär frühere Geheimdienstangehörige (silowiki), während das Gros der Mitarbeiter den „neuen Adel“ Russlands bildet. So hat es im Jahr 2000 der FSB-Direktor Nikolai Patruschew formuliert, der im Anschluss bis 2024 Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation war.
Österreich blieben die neuen Machteliten treu. Insbesondere Oligarchen schätzten es, dass sich hier gewisse Dinge schneller bewerkstelligen ließen – gleich ob Passvergabe, Immobilienerwerb, Einstieg in Unternehmen oder die Gründung einer diskreten Privatstiftung. An diesen Zuständen hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 2022 wenig geändert. Nach wie vor ist Österreich ein „Epizentrum für Geldwäsche“, wo mehr Schwarzgeld durchgeschleust wird als im OECD-Schnitt. Oligarchen nutzen insbesondere ein Schlupfloch, das sogenannte Share Deals bei Immobilienkäufen bieten.
Besonders eng und lang zurückreichend sind die Verknüpfungen in Sachen Energie: Am 1. Juni 1968 unterzeichnete Österreich als erstes westliches Land einen Gasliefervertrag mit der damaligen Sowjetunion. In den 2000er Jahren wurde Wien dann zur „Drehscheibe für die wichtigsten russischen Gasaktivitäten in Westeuropa“, so der deutsche Autor Jürgen Roth. 2018 wurden die Gaslieferverträge vorzeitig bis 2040 verlängert. Diese waren ursprünglich bis 2028 befristet gewesen. Zudem kaufte sich OMV in ein russisches Gasfeld ein und beteiligte sich an der Finanzierung der Ostseepipeline Nord Stream 2, die wegen des Ukraine-Kriegs nie in Betrieb ging. Ergebnis war und ist eine einseitig hohe Abhängigkeit: Im Dezember 2023 kamen immer noch 98 Prozent der österreichischen Gasimporte aus Russland.
Die britische Journalistin Catherine Belton hat herausgearbeitet, wie die westlichen Systeme mittels Schwarzgeld oder Schmiergeldfonds korrumpiert und manipuliert wurden. So wie die Finanznetzwerke des KGB die Interessen der Kommunistischen Partei während der Sowjetzeiten vorangetrieben hatten, seien nun Gelder im Interesse des Putin-Regimes verschoben worden. Auf diese Weise war es möglich, die europäische Politik im Sinne des Kremls zu unterminieren – durch die Förderung rechtsextremer Parteien, das Streuen von Desinformation und das Befeuern gesellschaftlicher Spannungen.
Österreich wurde offenbar als „schwächstes Glied in der Kette“ gesehen – geeignet, um Entscheidungen auf EU-Ebene in prorussischem Sinne zu beeinflussen. Denn mit der zunehmenden wirtschaftlichen Verschränkung waren auch die politischen Bande enger geworden. So setzte sich Österreich auf EU-Ebene dafür ein, die Sanktionen gegen Moskau im Gefolge der Krim-Annexion so rasch wie möglich zu beenden. Am 24. Juni 2014 gab es großen Bahnhof für Putin in Wien. Es war sein erster Auslandsbesuch nach der Okkupation. Die Rechtspartei FPÖ wiederum hatte bereits 2008 mit einer Annäherung an Moskau begonnen. Symbolischer Höhepunkt war 2016 die Unterzeichnung einer „Vereinbarung über Zusammenwirken und Kooperation“ mit der Putin-Partei „Einiges Russland“. 2018, als die FPÖ der Regierung angehörte, lud die von der FPÖ nominierte Außenministerin Karin Kneissl Putin zu ihrer Hochzeitsfeier ein. Der war für rund 90 Minuten zugegen und tanzte mit der Braut. Die Bilder davon gingen um die Welt.
2022 zerstörte der Ausbruch des Ukraine-Kriegs endgültig die Illusion, dass sich auf Basis enger wirtschaftlicher Verflechtungen eine stabile europäische Friedensordnung gründen ließe. Es war ein bitteres Erwachen, insbesondere für Österreich.
Im Rückblick erscheint vieles wie ein abgekartetes Spiel. Rund um den Abschluss der OMV-Gasverträge hatten sich russische Geheimdienstaktivitäten gehäuft: 2018 platzte ein Spionagefall rund um einen pensionierten Salzburger Offizier, der mit dem Militärnachrichtendienst GRU seit Anfang der 1990er Jahre zusammengearbeitet haben soll. Ende 2018/Anfang 2019 folgte ein massiver Cyberangriff auf das Außenministerium in Wien. Eine Hackergruppe, die dem FSB zugerechnet wird, soll dafür verantwortlich gewesen sein. Ebenfalls 2020 wurde ein tschetschenischer Blogger Opfer eines Auftragsmords. 2021 häuften sich Fälle des mysteriösen „Havanna-Syndroms“ unter der Belegschaft der US-Vertretung in Wien.
Vor allem aber war der mutmaßliche FSB-Agent und Wirecard-Manager Jan Marsalek ab 2015 damit beschäftigt, in seiner Heimat Österreich Kontakte zu Politikern, Beamten aus dem Sicherheitsapparat und zur Russland-Lobby in der Wirtschaft zu knüpfen. Laut Medienberichten gelang Marsalek die Rekrutierung zweier früherer Insider im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Auf diese Weise soll Moskau an hochsensible Informationen über abtrünnige Agenten, Investigativjournalisten und andere Regimegegner gekommen sein.
Das BVT selbst wurde 2018 unter FPÖ-Innenminister Herbert Kickl zum Ziel einer Razzia, nachdem Marsalek über einen Mittelsmann in der Österreichisch-russischen Freundschaftsgesellschaft gezielt das Misstrauen der FPÖ in die Behörde geschürt haben soll. Die ohnehin personell schwach aufgestellte Spionageabwehr lag daraufhin einige Zeit brach. Möglicherweise war geplant gewesen, eine neue Struktur auf den Trümmern des BVT aufzubauen und Marsaleks Vertraute an den Schaltstellen zu platzieren.
Abgesehen davon war Wien bereits seit der Zwischenkriegszeit ein wichtiger Hub für die russischen Geheimdienste. Bedingt war das durch die geografische Lage und die laxe Rechtslage in Sachen Spionage, später kam die hohe Zahl an internationalen Organisationen hinzu. Die russische Botschaft ist nicht umsonst eine der größten weltweit. Laut kolportierten Zahlen eines anonymen Nachrichtendienstchefs aus „Zentraleuropa“ von Anfang 2024 sind mindestens 100 Spione unter den zahllosen russischen Diplomaten. Diese starke Präsenz bedeutet nicht nur ein Risiko für Österreich selbst.
Zusammengefasst geht es aber nicht „nur“ um Spionage: Österreich wurde durch eine konzentrierte Kampagne geschwächt und korrumpiert. Das fiel leicht: Jahrzehntelang hatte Korrosion durch russisches Geld gewirkt. Währenddessen verstrickte sich der selbsternannte neutrale „Brückenbauer“ sorglos in Abhängigkeiten. Von der sich abzeichnenden Bedrohung fühlte man sich erst betroffen, als der Schaden offensichtlich war. Umso wichtiger ist es, nach Klärung der strafrechtlich relevanten Vorwürfe auch die Frage nach der politischen Verantwortung zu stellen. Für Österreich selbst ist es der letzte Weckruf, sich einer veränderten geopolitischen Realität zu stellen und sich endlich entsprechend anzupassen.
THOMAS RIEGLER ist Historiker in Wien und hat sich zuletzt in seinem Buch „Österreichs geheime Dienste. Eine neue Geschichte“ (2022) mit dem Thema Spionage auseinandergesetzt.