Das syrische Schachbrett im Kontext globaler Machtkämpfe
Syrien ist seit langem ein Brennpunkt geopolitischer Auseinandersetzungen und verkörpert eine Schnittstelle, an der die Ambitionen globaler und regionaler Akteure aufeinanderprallen. In den vergangenen zehn Jahren war das Land Schauplatz eines vielschichtigen Konflikts, geprägt von wechselnden Allianzen, komplexen Rivalitäten und sich entwickelnden Strategien, die über seine Grenzen hinausreichen. Syriens Bedeutung ist nicht nur geografisch, sondern strategisch, ideologisch und symbolisch für den umfassenderen Machtkampf um Einfluss im Nahen Osten.
Aktuelle Entwicklungen in Syrien
In der vergangenen Woche hat Syrien eine dramatische Eskalation in den nördlichen Regionen erlebt. Die Offensive von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), unterstützt durch gleichzeitige Vorstöße anderer Oppositionsfraktionen, hat das Kräfteverhältnis auf dem Schlachtfeld erheblich verändert. Die Rebellen eroberten mehr als 20 Dörfer und strategische Positionen im Bezirk Aleppo, einschließlich die größte Stadt Syriens selbst, was den bedeutendsten Erfolg der Opposition seit dem Sieg des Regimes im Jahr 2016 darstellt. Unterstützt von der Türkei, die Finanzierung und Ausrüstung bereitstellt, hat die Allianz Syrischer Rebellen auch zahlreiche Dörfer in den Provinzen Idlib und Aleppo erobert und drängt weiter südlich in Richtung Hama, Syriens viertgrößte Stadt. Die schnellen Fortschritte legen die Schwächen des Assad-Regimes offen, das von der Koordination und Intensität der Angriffe überrascht wurde.
Die Schwächung der Hisbollah und die reduzierte Rolle der iranischen Quds-Brigaden – verstärkt durch den Tod von General Qasem Soleimani – haben ein Vakuum in der Sicherheitsarchitektur Syriens geschaffen. Die Hisbollah, die zuvor als wichtiger Verbündeter des Assad-Regimes bei der Kontrolle des Landes fungierte, ist durch eigene existenzielle Herausforderungen im Libanon zufolge der israelischen Angriffe und Enthauptungsoperationen belastet. Diese Schwächung hat ihre operative Effektivität in Syrien erheblich eingeschränkt. Gleichzeitig hat die reduzierte Präsenz der iranischen Quds-Brigaden, insbesondere bei der Bereitstellung strategischer Führung und materieller Unterstützung, die militärischen Fähigkeiten des Assad-Regimes weiter untergraben.
Hinzu kommt die strategische Überlastung Russlands. Da der größte Teil seiner Truppen und Ressourcen in der Ukraine gebunden bleibt, konnte Moskau die notwendigen Verstärkungen zur Unterstützung von Assads Kräften nicht bereitstellen. Berichten zufolge erlitten russische Eliteeinheiten in der Nähe von Aleppo einen verheerenden Hinterhalt, der zu erheblichen Verlusten und der Eroberung wichtiger militärischer Ausrüstung durch HTS führte. Diese Verluste verdeutlichen Moskaus abnehmende Fähigkeit, seine strategischen Interessen in Syrien zu schützen.
Inmitten dieser Entwicklungen sollen die Vereinigten Staaten und die Vereinigten Arabischen Emirate über die Möglichkeit diskutiert haben, die Sanktionen gegen Präsident Baschar al-Assad aufzuheben. Die Bedingung hierfür wäre, dass Assad bereit ist, sich vom Iran zu distanzieren und die Waffenrouten zu unterbrechen, die die Hisbollah im Libanon versorgen. Dieser Ansatz spiegelt eine potenzielle Verschiebung der US-Politik wider, um den Einfluss des Iran in der Region zu schwächen. Gleichzeitig unterstreicht er die prekäre Position Assads. Ein Abbruch der Beziehungen zum Iran (und in der Folge zu Russland) würde ihn wahrscheinlich ohne das notwendige Unterstützungsnetzwerk zurücklassen, auf das er angewiesen ist, und sein Regime effektiv beenden.
Währenddessen zeigt die Koordination zwischen HTS und anderen Oppositionsfraktionen in Aleppo den breiteren Einfluss externer Akteure. Berichte, dass mutmaßliche ukrainische Spezialeinheiten Oppositionskämpfer in Drohnenkriegsführung und Taktiken mit improvisierten Sprengsätzen ausgebildet haben, deuten auf einen bewussten Versuch hin, das Schlachtfeld gegen Russland auszuweiten. Kyivs Beteiligung, obwohl unbestätigt, weist auf eine strategische Verschiebung hin, russische Interessen im Ausland gezielt anzugreifen, als Teil seiner umfassenderen Konfrontation mit Moskau. Der Einsatz von in der Ukraine entwickelten Taktiken in Aleppo verstärkt nicht nur die Effektivität der Oppositionskräfte, sondern veranschaulicht auch die Vernetzung moderner Stellvertreterkonflikte.
Gleichzeitig starteten die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) eine parallele Offensive an der Ostfront von Aleppo. Ihre Eroberung des internationalen Flughafens der Stadt stellt einen strategischen Schlag gegen das Assad-Regime dar und isoliert Aleppo weiter von wichtigen Versorgungslinien. Die Koordination zwischen unterschiedlichen Oppositionsfraktionen – trotz ihrer unterschiedlichen Ideologien und Ziele – hat den Druck auf die Regimetruppen erheblich erhöht und sie gezwungen, sich aus Schlüsselpositionen taktisch zurückzuziehen.
Strategische Bedeutung Syriens für Russland
Für Russland stellt Syrien einen unverzichtbaren Baustein seiner geopolitischen Strategie dar. Moskaus Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg im Jahr 2015 markierte einen Wendepunkt, der es Russland ermöglichte, sich als globale Macht neu zu positionieren und Ergebnisse weit über seine unmittelbare Peripherie hinaus zu beeinflussen. Der Wert Syriens für Russland liegt in seiner Funktion als Anker für Moskaus Präsenz im östlichen Mittelmeerraum, einer Region von enormer strategischer Bedeutung. Die Marinebasis in Tartus und der Luftwaffenstützpunkt in Hmeimim sind mehr als militärische Einrichtungen – sie sind Symbole für Russlands Rückkehr auf die globale Bühne als bedeutende Macht.
Russlands Engagement in Syrien verfolgt dabei mehrere strategische Ziele: Es ermöglicht Moskau, Macht über das Mittelmeer und nach Nordafrika zu projizieren, und bietet Einfluss auf maritime Handelsrouten, die Europa, den Nahen Osten und Asien verbinden. Zudem dient Syrien als Testfeld für über 200 Waffensysteme, was sowohl die Verteidigungsindustrie Russlands stärkt als auch die Einsatzbereitschaft seiner Streitkräfte verbessert.
Doch der Krieg in der Ukraine bindet erhebliche Ressourcen und Aufmerksamkeit, was Moskaus Fähigkeit einschränkt, seine Dominanz in der Region zu bewahren. Ein Verlust an Einfluss in Syrien würde eine weitreichendere Schwächung seiner globalen Ambitionen bedeuten, seine Glaubwürdigkeit als verlässlicher Verbündeter untergraben und die miteinander verknüpften Achsen seines Einflusses von der Arktis bis nach Afrika stören.
Die Türkei als Gegenpol und die Volatilität Nordsyriens
Die Türkei verfolgt in Syrien eine Kombination aus Sicherheitsinteressen und geopolitischen Ambitionen. Im Zentrum steht für Ankara die Kurdenfrage. Kurdische Gruppen, insbesondere die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die von der Türkei mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gleichgesetzt werden, gelten als direkte Bedrohung für die territoriale Integrität des Landes. Die Militäroperationen der Türkei in Nord-Syrien zielen darauf ab, diese Gruppen zu neutralisieren und Pufferzonen zu schaffen, um eine kurdische Konsolidierung entlang ihrer Südgrenze zu verhindern.
Darüber hinaus strebt die Türkei danach, ihren Einfluss in Syrien und im weiteren Nahen Osten auszubauen. Die andauernde Instabilität bietet Ankara Chancen, sich als regionale Macht zu profilieren, insbesondere in Gebieten, in denen russischer oder iranischer Einfluss nachlässt. Die jüngsten Offensiven der türkisch unterstützten Syrischen Nationalarmee unterstreichen Ankaras Entschlossenheit, die Landschaft Nordsyriens neu zu gestalten. Durch die Eroberung strategischer Gebiete wie Tel Rifaat und die Randgebiete Aleppos stärkt die Türkei ihre Verhandlungsposition in den komplexen Machtspielen der Region.
Diese Handlungen bergen jedoch Risiken. Die transaktionale Beziehung der Türkei zu Russland, in der Kooperation und Wettbewerb nebeneinander bestehen, erfordert eine heikle Balance. Moskaus fortgesetzte militärische Präsenz in Syrien setzt Ankaras Ambitionen Grenzen, und ein Fehltritt könnte zu einer direkten Konfrontation führen. Zudem muss Ankara den möglichen Widerstand Irans, eines weiteren wichtigen Akteurs im syrischen Konflikt, berücksichtigen, dessen Stellvertreter und Milizen in der Region stark vertreten sind.
Regionale Dynamiken und Assads Anfälligkeit
Das Regime von Präsident Baschar al-Assad, das zwar weiterhin an der Macht ist, sieht sich einer prekären Zukunft gegenüber. Assads Überleben verdankt sich einer Kombination aus russischer militärischer Unterstützung, iranischer finanzieller, militärischer und logistischer Hilfe sowie innerer Repression. Dennoch werden die Risse in seinem Regime immer offensichtlicher. Das jüngste Erstarken oppositioneller Kräfte, darunter Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), verdeutlicht die Fragilität von Assads Kontrolle über Schlüsselterritorien.
Die Wiedereingliederung Assads in die Arabische Liga, obwohl symbolisch bedeutsam, hat wenig dazu beigetragen, Syriens tief verwurzelte Probleme zu lösen. Die Abhängigkeit des Regimes von externen Unterstützern macht es anfällig für Veränderungen in deren Prioritäten. Russlands Fokus auf die Ukraine und Irans Überdehnung in der Region haben deren Kapazitäten, Assads Macht zu sichern, geschwächt. Die zunehmende Desorganisation der syrisch-arabischen Armee, die sich in ihrer Unfähigkeit zeigt, oppositionelle Vorstöße in Aleppo und Hama abzuwehren, unterstreicht die schwindenden militärischen Fähigkeiten des Regimes.
Globale Akteure: USA, China und der internationale Kontext
Auf globaler Ebene hat sich die Rolle der USA in Syrien erheblich verringert. Der Fokus Washingtons liegt auf der Eindämmung Russlands in der Ukraine und dem strategischen Wettbewerb mit China im Indopazifik. Die Zurückhaltung in Syrien schafft ein Vakuum, das regionale Mächte sowie Russland und Iran zu füllen suchen. Das Fehlen eines konsistenten US-Engagements birgt die Gefahr, den Einfluss in einer für die globale Stabilität entscheidenden Region zu verlieren.
Chinas Ansatz in Syrien ist vorsichtig, aber strategisch. Peking betrachtet den Nahen Osten als essenziellen Bestandteil seiner Belt-and-Road-Initiative, und der Wiederaufbau Syriens bietet wirtschaftliche Chancen. Dennoch vermeidet China tiefgreifende militärische Verstrickungen und agiert lieber als stabilisierende Wirtschaftsmacht, denn als geopolitischer Schiedsrichter. Dieses begrenzte Engagement erlaubt es China, Beziehungen zu allen Parteien aufrechtzuerhalten, ohne sich in die komplexen Konflikte der Region zu verwickeln.
Herausforderungen und vernetzte Risiken
Die Zukunft Syriens hängt von einer Vielzahl interdependenter Faktoren ab. Die Fähigkeit Russlands, sein Engagement aufrechtzuerhalten, wird darüber entscheiden, ob es seinen Einfluss im östlichen Mittelmeerraum sichern kann. Die Aktionen der Türkei in Nord-Syrien, insbesondere ihre Bemühungen, die ethnische und politische Landschaft der Region umzugestalten, werden die Resilienz bestehender Machtstrukturen auf die Probe stellen. Assads Fähigkeit, angesichts zunehmender interner und externer Zwänge die Kontrolle zu behalten, bleibt ungewiss.
Der neu entflammte Konflikt in Syrien fügt sich nahtlos in das komplexe geopolitische Muster eines zweiten Kalten Kriegs ein, in dem der Westen auf der einen und die Allianz des Drachenbären – also Russland und China – auf der anderen Seite stehen. Während Russland militärisch präsent ist, verfolgt China in der Region eine wirtschaftliche Strategie. Syrien stellt dabei ein Schlüsseltheater dar, in dem die strategischen Interessen und Stellvertreterkonflikte dieser globalen Rivalität aufeinandertreffen. Im Kontext des zweiten Kalten Kriegs dient Syrien als eine Art geopolitisches Labor, in dem lokale Konflikte durch globale Rivalitäten verstärkt und erweitert werden. Das Land ist ein Symbol für die Fragmentierung der internationalen Ordnung, in der keine einzige Macht vollständig die Kontrolle übernehmen kann. Der syrische Konflikt verdeutlicht nicht nur die Komplexität und Vernetzung moderner Kriege, sondern auch die wachsende Bedeutung von Stellvertreterkonflikten als Mittel, um globale Machtverhältnisse zu beeinflussen.
VELINA TCHAKAROVA ist Gründerin des Forschungs- und Beratungsunternehmens FACE (For A Conscious Experience e.U.) und Visiting Fellow an der Observer Research Foundation in Indien. Als geopolitische Expertin gibt sie ihre Einschätzung zu Entwicklungen der internationalen Beziehungen ab.