Der doppelte Schröder oder: Wenn Opportunisten einen Oppositionellen würdigen
Am Freitag ist Alexei Nawalny erneut von Putins Justiz verurteilt worden: zu einer nun insgesamt 19 Jahre andauernden Lagerhaft. Tags darauf wurde er mit dem „Europapreis für politische Kultur“ der Hans Ringier Stiftung in Ascona ausgezeichnet. Eingeladen hatte Frank A. Meyer, ein enger Bekannter von Putin-Versteher Gerhard Schröder.
Der „Europapreis für politische Kultur“ wird alljährlich im Rahmen des traditionellen „Dîner républicain“ im schweizerischen Ascona vergeben. Diesmal zum 17. Mal. Er ist mit 50.000 Franken dotiert. Unter den bisherigen Preisträgern befinden sich Politiker wie Jean-Claude Juncker, Jean-Claude Trichet, Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Schäuble oder Mario Draghi, aber auch Philosophen wie Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk oder der Historiker Heinrich August Winkler. Stellvertretend für ihren in Russland inhaftierten Ehemann Alexei nahm Julija Nawalnaja die Auszeichnung entgegen.
„Alexei Nawalny steht für die Kraft von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Vor seiner Unbeugsamkeit kann sich Europa nur verneigen – in Dankbarkeit und Bewunderung”, verlautbarte Frank A. Meyer, Präsident der Hans Ringier-Stiftung, die Wahl. Der umtriebige Journalist ist ein medialer Hansdampf in allen Gassen: Buchautor, TV-Talker, (Vis-a‘-Vis) Kolumnist (SonntagsBlick, Cicero). Ein virtuos-vernetzter Strippenzieher, der gerne die Polit-Prominenz umarmt. Frank A. Meyer, Schweizer Staatsangehöriger und Berliner Bürger, scheint parteiübergreifend alle zu kennen und alle kommen gerne, wenn er als Gastgeber alljährlich ins feine Hotel Castello del Sole ins sonnige Tessin einlädt, zur gepflegten Debatte über den Zustand der Welt und was zu tun ist, die Widrigkeiten der Wirklichkeit erträglicher zu gestalten. Und weil die Küche des Hauses exzellent, die Weine vorzüglich und die Tessiner Sonne sanft ist, lässt sich dort angenehm parlieren und palavern.
Ein geschätzter Freund des Hauses Ringier und persönlicher Freund des Gastgebers aber fehlte: Gerhard Schröder. Der Ex-Kanzler war Berater des russischen Präsidenten, er saß für ihn in Aufsichtsräten und nannte ihn einen „lupenreinen Demokraten“. Erst der Ukraine-Krieg beendete die Amigo-Liaison. Auch beim Ringier-Verlag verdiente sich der Ex-Kanzler ein Zubrot, als politischer Berater und Welterklärer oder was auch immer, in jedem Fall gut dotiert.
Der doppelte Schröder: Ein Putin-Freund bei der Preis-Verleihung an einen Putin-Gefangenen? Das hätte dann doch für Irritation gesorgt. Wem seine Freundschaft etwas wert ist, der schützt seine Freunde. Und so ließ das Medienhaus Ringier in professioneller Marketing-Rhetorik ohne Schröders Beisein verlauten, mit Nawalny werde „eine Persönlichkeit geehrt, die weit über Russland hinaus europäische Werte” verkörpere.
Joachim Gauck, deutscher Bundespräsident a.D., würdigte den Preisträger in seiner Laudatio: „Mit ihrem Europapreis würdigt die Hans Ringier Stiftung einen Menschen, der hinter Gefängnismauern verschwunden ist, weil er Unrecht, Korruption und Krieg anprangert.” Weiter sagte Gauck: „Mit seinem außergewöhnlichen Mut stellt er sich denen entgegen, die ihn ermorden wollten und ihn jetzt mit brutalen, unmenschlichen Haftbedingungen brechen wollen. Weil er in seiner Heimat zum Verstummen gebracht werden soll, braucht er die Solidarität und Unterstützung derer, die frei sprechen können.“ Danach bat Gastgeber Frank A. Mayer zu Tisch.
Etwas von der „Solidarität und Unterstützung derer, die frei sprechen können”, die sich der Ex-Bundespräsident und seine Festgesellschaft gerne anheften, wäre auch für Julian Assange eine Hilfe, der in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis zum Verstummen gebracht werden soll. Wie Nawalny ist er ein politischer Gefangener. Assange sitzt seit vier Jahren in seiner Zelle. Davor hatte er sieben Jahre in der Botschaft Ecuadors in der britischen Botschaft festgesessen, um einer Festnahme und einer Auslieferung an die Vereinigten Staaten zu entgehen.
Gerade hat sich der australische Ministerpräsident Anthony Albanese für seine Freilassung eingesetzt. „Genug ist genug“, sagte Albanese am Freitag dem australischen Sender ABC, just an dem Tag, als Nawalny in einem stalinistischen Schauprozess zu einer weiteren langjährigen Lagerhaft verurteilt wurde. Im Tessin verlor der Laudator Gauck kein Wort über ihn. Keine Frage: Nawalnys Mut ist bewundernswert, sein Widerstandwillen ehrenwert – der „Europapreis“ gebührt ihm, seiner Frau, seinen Anwälten und Unterstützern. Vorbehaltlos! Und doch: vom Tessiner Opportunismus-Gewitter möchte man verschont bleiben.
HELMUT ORTNER hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien, veröffentlicht. Zuletzt erschienen: „Widerstreit: Über Macht, Wahn und Widerstand“ und „Volk im Wahn – Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit“ (April 2022). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt.