Der große Agentenaustausch in Mitteleuropa
Die neuesten Zahlen zu in Österreich akkreditiertem Botschaftspersonal aus Russland legen nahe, dass der russische Spionageapparat rund um Wien und Budapest neu aufgestellt wird.
Die jüngsten Zahlen aus dem Außenministerium zu in Österreich akkreditiertem Botschaftspersonal der Russischen Föderation sind zum einen wenig spektaktulär, zum anderen aber äußerst aufschlussreich. Dass sich die Gesamtzahl von zuletzt 273 (Herbst 2023) temporär auf 258 Akkreditierungen (Stand März 2024) verringerte, ist weniger dem Druck des Außenministeriums geschuldet, als vielmehr Anzeichen von Personalrochaden. Schwankungen im mittleren einstelligen Prozentbereich bei Botschaftspersonal sind zudem nicht ungewöhnlich. Wien liegt auch mit 258 aktuellen Akkreditierungen aus der Russischen Föderation noch immer einsam an der Spitze in Europa, dahinter folgen die Schweiz (220) und der EU-Sitz Brüssel mit weniger als 200.
Eine weitere Zahl, die Außenminister Alexander Schallenberg auf Anfrage der Abgeordneten Stephanie Krisper nannte, allerdings sehr signifikant: Seit dem Überfall auf die Ukraine wurden 110 in Österreich akkreditierte Personen durch Russland abgemeldet, 80 Personen rückten nach, in beiden Fällen betraf das etwa zu gleichen Teilen diplomatisches wie technisch-administratives Personal. Binnen zweier Jahre wurde also mehr als ein Drittel des in Österreich akkreditierten Personals der Russischen Föderation ausgetauscht.
Eine Fluktuation solchen Ausmaßes in so kurzer Zeit ist ungewöhnlich und ein klares Anzeichen dafür, dass Russland seinen Spionageapparat in Europa reorganisiert beziehungsweise völlig neu aufstellen muss – denn nach dem Überfall auf die Ukraine hatten die EU-Staaten und Großbritannien einen akkordierten Schlag gegen russische Agenten geführt, die unter diplomatischer Tarnung agierten.
Die Zerschlagung des Spionageapparats
Quer durch Europa wurden um die 700 Botschaftsangestellte russischer Nationalität zu personae non gratae erklärt und mussten ihre Gastländer abrupt verlassen. In Deutschland waren das in einer ersten Tranche rund 40 Personen, in Italien 30, in Polen 45.
Und dabei blieb es nicht: Denn in fast allen EU-Staaten wurden in mehreren Wellen weitere russische Staatsbürger ausgewiesen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ließ in Folge vier von fünf russischen Generalkonsulaten schließen, die Slowakei forderte 35 Akkreditierte zum Verlassen des Landes auf. Im jahrzehntelang sehr russlandfreundlichen Bulgarien wurden im Juli 2022 auf einen Schlag gleich 70 Personen zu non gratae erklärt. In allen hier erwähnten Fällen lautete die offizielle Begründung auf Verstoß gegen die Wiener Konvention für Diplomatie. Übersetzt heißt das „Verdacht auf Spionagetätigkeit“: Geheimdienstanalysten gehen davon aus, dass gut ein Drittel aller russischen Botschaftsangestellten Agenten sind, die etwa zu gleichen Teilen als Diplomaten bzw. als technisch-administratives Personal firmieren.
Es war eine akkordierte Aktion aller EU-Mitgliedstaaten samt Großbritannien, allerdings nur fast – zwei EU-Staaten hatten nämlich nicht mitgemacht. In Ungarn wurde niemand des Landes verwiesen, in Österreich waren es seit Februar 2022 zehn non gratae. Im selben Zeitraum stieg in Wien die Gesamtzahl jedoch von 260 auf 273, um zuletzt wieder auf 258 zurückzugehen. In Ungarn war im selben Zeitraum ebenfalls ein signifikanter Anstieg bei diplomatischem Personal zu beobachten. Wie der ungarische Aufdecker Szabolcs Panyi berichtete, stieg die Zahl der Diplomaten: von 46 im Herbst 2021 auf 69 im Oktober 2023.
Österreich, Ungarn und die Schweiz
All das sind klare Indizien dafür, dass diese fundamentale Reorganisation der russischen Spionage rund um Wien und Budapest bzw. Debrecen passiert. Im gesamten EU-Raum sind nur noch diese Standorte weiterhin voll funktionsfähig, dazu kommen noch die beiden Botschaften in Genf und Bern mit stattlichen 220 Akkreditierten. Wie in Ungarn wurden auch in der Schweiz keine russischen Staatsangehörigen ausgewiesen. In diesen drei Staaten zusammen sind rund 550 Personen aus der Russischen Föderation stationiert. Legt man den Spionage-Parameter daran, dann sind davon an die 200 Personen mit ganz anderen Tätigkeiten beschäftigt, als in ihrer offiziellen Agenda steht.
Der überwiegende Teil ist mit „klassischer“ Spionage beschäftigt, das ist in erster Linie Sache des Militärgeheimdiensts GRU, aber auch der Inlandѕgeheimdienst FSB hat seine Fühler weit nach Europa ausgestreckt. Zur Jahreswende 2020 war etwa die berüchtigte Cybertruppe „Turla“ des FSB auf den Servern des Wiener Außenministeriums zu Besuch. Man wollte offenbar überprüfen, ob mit dem Antritt der neuen türkis-grünen Regierung (Kurz II) in der Außenpolitik alles beim Alten geblieben war.
Und noch ein weiterer Geheimdienst der Russischen Föderation ist an allen genannten Standorten vertreten, in Wien besonders prominent: Der SWR ist für Signals Intelligence (SIGINT), also für „technische Nachrichtenaufklärung“ zuständig, und das wird über die Satelliten-Spionagestationen praktiziert. In blanker Missachtung der Wiener Konvention für diplomatische Beziehungen hatte Russland die Dächer seiner Botschaftsgebäude in ganz Europa mit SIGINT-Schüsseln vollgestellt.
Russki SIGINT
Die Anlage auf dem Dach der russischen UN-Botschaft im 22. Bezirk wurde systematisch zur größten SIGINT-Station in Europa ausgebaut. Ein gutes Dutzend großer Schüsseln ist dort auf westliche Kommunikationssatelliten ausgerichtet, auf drei weiteren Botschaftsgebäuden in Wien befinden sich ebenfalls große Spiegel. Mit rund zwei Dutzend Sat-Antennen insgesamt ist Wien damit seit Jahren der weitaus größte Standort für Sat-Spionage der Russischen Föderation in Europa.
Auf dem Dach des russischen Generalkonsulats in Debrecen sind sechs Schüsseln zu sehen, auf der russischen Botschaft in Budapest befindet sich eine Anlage mit einem halben Dutzend Discone-Antennen zur Überwachung des Flugverkehrs. Auf dem Dach der russischen UN-Botschaft in Genf herrschen wiederum Schüsseln vor. Nur diese Stationen sind noch in Betrieb.
Das enorme Netz aus SIGINT-Anlagen wurde nach dem Überfall auf die Ukraine weitgehend neutralisiert. Bei den Ausweisungen wurde nämlich besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass möglichst alle Nachrichtentechniker zu personae non gratae erklärt wurden. Und das hat funktioniert – denn in Polen, Belgien, den Niederlanden und anderswo wurden Empfangsmodule an den Schüssel abmontiert, um keine Rückschlüsse auf ihre Ziele zuzulassen. Auf dem inzwischen geschlossenen russischen Generalkonsulat in Bonn wurden vor der Räumung sogar die Schüsseln selbst zerstört.
Die vier SIGINT-Stationen der Russischen Föderation stehen nun natürlich umso augenfälliger in Wien herum, seit fast alle anderen Stationen in den EU-Staaten weggefallen sind. Für die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN), die nach dem Spionagedesaster im Innenministerium zu kämpfen hatte, um wieder an den Informationsfluss des Berner Clubs der westlichen Nachrichtendienste zu kommen, sind diese SIGINT-Stationen ein „erhebliches Sicherheitsrisiko“ für die Spionageabwehr. Nach der Razzia im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) 2018, als subalterne Polizeibeamte vertrauliche Unterlagen der BVT-Partnerdienste beschlagnahmten, hatte Österreich keine Informationen über Russland mehr erhalten.
Für Österreich entstehe durch die russischen Spіonage-Stationen „ein erheblicher Schaden in Form des Verlustes internationaler Reputation und einer Minderung der Attraktivität als Standort internationaler Organisationen“, heißt es dazu im aktuellen Verfassungsschutzbericht der DSN. Und weiter:
„Problematisch ist, dass bei einem solchen Handeln, das nicht unmittelbar und klar zum Nachteil Österreichs erfolgt, keine Strafbarkeit nach § 256 StGB (Geheimer Nachrichtendienst zum Nachteil Österreichs) gegeben ist, beziehungsweise keine adäquaten rechtlichen Möglichkeiten zur Aufklärung des Informationsabflusses bestehen.“
Wenn der russische Spionageapparat seine Aktivitäten jetzt dort intensiviert, wo ihm das noch möglich ist, dann genügt es für die Agenten von GRU, FSB und SWR, sich an eine einzige Regel zu halten, um ihren Tätigkeiten hierzulande auch weiterhin ungestört nachzugehen. Solange sie keine österreichischen Institutionen oder Unternehmen ausspionieren, kann Österreichs Spionageabwehr kaum etwas dagegen unternehmen.
Die ist ihren Widerparts aus Russland nicht nur zahlenmäßig unterlegen, der DSN steht jetzt auch noch die Oberliga russischer Spione gegenüber. Die enormen Personalrochaden in Wien und Budapest der letzten beiden Jahre sind offensichtlich darauf zurückzuführen, dass nun das Führungspersonal der russischen Dienste aus ganz Europa an diesen beiden Standorten zusammengezogen wurde.
ERICH MOECHEL (Mag. phil.) ist investigativer IT-Journalist, spezialisiert auf EU-Verordnungen, Überwachung, Geheimdienste und militärische IT im Spannungsfeld mit Bürgerrechten im digitalen Raum. Er ist Mitgründer der International Big Brother Awards (1996) und European Digital Rights (EDRi, 2002). Callsign OE3EMB.