Der IS-KP und sein Aufstieg zum bestimmenden Akteur im islamistischen Terrorismus
Spätestens seit dem Terroranschlag in Moskau ist der IS-KP international bekannt. Der Politikwissenschaftler Nicolas Stockhammer gibt eine Einordnung über die Entstehung und den Aufstieg der IS-Splittergruppe aus Zentralasien.
Der regionale Ableger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ IS-KP (IS-Khorasan Provinz) wurde etwa 2014 – zeitgleich mit dem Aufstieg der Mutterorganisation des IS – als eine Art Franchise der ursprünglichen Kerngruppe in Afghanistan gegründet. Von Anfang an stand der IS-KP in fundamentaler Opposition zu den lokal dominierenden Taliban und strebte anders als diese kein nationales Emirat an, sondern vertrat von Beginn an einen globalen Kalifats-Anspruch.
Grundlage dafür sei jedoch die uneingeschränkte „Kontrolle“ der gesamten, grenzüberschreitenden historischen Region Khorasan – also Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Die historische Region Khorasan ist für den Islam und insbesondere für die salafi-dschihadistische Tradition von großer Bedeutung, aufgrund einer dem Propheten Mohammed zugeschriebenen Lehre, die besagt, dass die Muslime am Ende der Welt in exakt dieser Region gegen die Ungläubigen kämpfen würden.
Der IS-KP befindet sich seit 2015 in einem fortwährenden gewalttätigen Konflikt mit den Taliban – eine Spannung, die sich nach dem Sturz der gewählten afghanischen Regierung im August 2021 nach dem Abzug der USA noch verschärfte. Etwa bis Mitte 2021 war der IS-KP aufgrund aggressiver Anti-Terror-Operationen („War on Terror“) der USA in Afghanistan, Offensiven der Taliban sowie innerer Spaltungen erheblich geschwächt. Der politische und militärische Rückzug des Westens aus Afghanistan hat der Terrorgruppe jedoch die Möglichkeit gegeben, sich als Organisation nachhaltig zu regenerieren. Seitdem hat der IS-KP sich offenbar im Untergrund konsolidiert und seine operative Stärke personell und strukturell ausbauen können: Bis zu 8.000 Kämpfer werden dem IS-KP zugerechnet.
Ursächlich für den Dualismus mit den Taliban ist die exklusive Anschauung des IS-KP, dass es nur einen „islamischen Staat“ und nur einen „rechtmäßigen Kalifen“ geben könne. Die Taliban als „De-facto-Herrscher“ Afghanistans zeigen jedoch keinerlei Intention, diesem Anspruch des IS-KP nachzugeben.
Die Terroranschlagsbilanz des IS-KP
Der Terrorgruppe IS-KP vermochte in der jüngsten Vergangenheit eine Reihe vergleichsweise kleiner dimensionierter Anschläge in Afghanistan zu verüben – etwa drei Viertel aller IS-KP-Anschläge gelten den Taliban. Der große „Coup“ gelang dem IS-KP allerdings im August 2021 mit einem verheerenden Terroranschlag am Flughafen von Kabul. Durch ein Sprengstoff-Selbstmordattentat kamen mehr als 180 Personen (darunter 13 US-Soldaten) ums Leben, und knapp ebenso viele wurden verletzt. Trotz konkreter nachrichtendienstlicher Warnungen im Vorfeld war der IS-KP imstande, dieses großangelegte Terrorszenario vor den Augen der Welt umzusetzen.
In jüngster Vergangenheit gab es mehrere aufsehenerregende Anschläge des IS-KP. Anfang 2024 etwa, als im iranischen Kerman während einer Trauerfeier für den iranischen General Suleimani (der bei einem US-Drohnenanschlag getötet wurde) 90 Menschen getötet wurden – trotz verstärkter Sicherheitsvorkehrungen. Kurz darauf, im Januar 2024, visierten zentralasiatische IS-KP-Terroristen in Istanbul eine Kirche an. Dabei kam ein Mann zu Tode. Nach Koranverbrennungen in den Niederlanden und Schweden, hat der IS-KP zudem Anschläge in diesen Ländern angekündigt.
Der jüngste verheerende Terroranschlag vom 22. März in Moskau hat mit seiner schockierenden Brutalität der ganzen Welt vor Augen geführt, dass der IS-KP in der Lage ist, ein minutiös geplantes und projektiertes Terrorszenario mit mehreren Tätern zu inszenieren. Die synchron durchgeführte Attacke in der Crocus City Hall erinnert frappierend an den Pariser Bataclan-Anschlag vom November 2015 und deutet auf einen im Vorfeld penibel orchestrierten Terroranschlag hin, der mit großer taktischer Disziplin durchgeführt wurde.
Interessantes Detail am Rande: Bei sämtlichen dieser erwähnten Anschläge waren Terroristen mit zentralasiatischem Hintergrund federführend involviert, vor allem Tadschiken. Tadschikistan ist ein bevorzugter Rekrutierungsort des IS-KP. Nicht minder in Österreich konnte der IS-KP zu einer relevanten Bedrohung avancieren: Die drei größeren, glücklicherweise rechtzeitig vereitelten, „Terrorszenarien“ von Wien des Jahres 2023 – zunächst im Vorfeld der Pride-Parade, als eine Gruppe lokaler Dschihadisten einen Anschlag plante, dann ein junger „Lone Wolf“, der am Wiener Hauptbahnhof wahllos Passanten mit einer Stichwaffe attackieren wollte, und schließlich eine transnational agierende Dschihadistenzelle rund um den Jahreswechsel, die „größere“ Anschläge beim Stephansdom und dem Kölner Dom plante – verdeutlichen insgesamt eine Verbindung zur bzw. Urheberschaft der Terrorgruppe IS-KP. Auch in diesem Kontext gibt es glaubwürdige Informationen, dass sich unter den unmittelbar Tatbeteiligten jeweils Personen mit zentralasiatischem Hintergrund befinden sollen.
What’s next?
Die IS-KP hat sich aufgrund der beschriebenen aktuellen Terroranschläge erfolgreich zu einem überregionalen Faktor des islamistischen Terrorismus entwickeln können. In Summe hat dies dazu beigetragen, dass der lokale IS-Ableger am Hindukusch sich im dschihadistischen Spektrum einen Ruf als effektive Organisation erarbeiten konnte und weltweit Anhänger gewinnt.
Es ist davon auszugehen, dass der IS-KP kurz- bis mittelfristig sehr wahrscheinlich vermehrt als Urheber größerer islamistischer Terroranschläge in Europa in Erscheinung treten wird, was einerseits in den realen operativen Möglichkeiten einer kontinuierlich wachsenden Terrororganisation liegt, aber noch viel mehr in ihrer ideologischen Strahlkraft begründet ist. Dem IS-KP haftet in Dschihadistenkreisen der Nimbus eines „Siegers“ gegen die westlichen Besatzer in Afghanistan an, obwohl die Taliban hierzu den Löwenanteil „beigetragen“ haben und, was deren Machtübernahme im Land betrifft, offensichtlich auch die unmittelbaren Profiteure des Abzugs der Koalitionstruppen sind.
Zweifellos gilt der IS-KP als frische, unverbrauchte Kraft, die dem zwischenzeitlich abgenutzten IS-Narrativ eine gänzlich neue Dynamik hinzufügt. Denn seit der Pandemie war dem IS bei seinen angestammten Zielgruppen sukzessive und graduell die Glaubwürdigkeit als schlagkräftige islamistische Terrororganisation abhanden gekommen. Darüber hat es nach dem Terroranschlag von Wien vor allem in Europa zu keinen größeren, nennenswerten Terrorattacken mit großer internationaler Aufmerksamkeit mehr gegeben. Der IS-KP hat die schrittweise dschihadistische Deutungshoheit übernommen, und wir können nicht ausschließen, dass aus dieser Fraktion eine neue bedeutende Terrororganisation entstehen könnte, die sich von der Mutterorganisation abkapselt. Wie dazumal der IS von Al-Qaida.
NICOLAS STOCKHAMMER ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Sicherheitspolitik und Terrorismusforschung. Von 2004 bis 2006 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hochschullehrer am Lehrstuhl für Politische Theorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bis 2021 war Stockhammer als Senior Post-Doc-Forscher der Forschungsgruppe Polemologie und Rechtsethik an der Universität Wien tätig. Derzeit ist Nicolas Stockhammer mit der wissenschaftlichen Leitung und Koordination des Forschungsclusters „Counter-Terrorism, CVE (Countering Violent Extremism) and Intelligence“ im Department für Recht und Internationale Beziehungen an der Donau-Universität Krems betraut. Aktuelle Publikationen: „Routledge Handbook on Transnational Terrorism“, London: Routledge 2023 (als Herausgeber); „Lehrbuch Terrorismusbekämpfung und Extremismusprävention“, Wiesbaden: Springer VS 2023 (zus. mit Stefan Goertz) sowie „Trügerische Ruhe. Der Anschlag von Wien und die terroristische Bedrohung in Europa“, Wien: Amalthea Signum 2023.