Ein Plädoyer für den Feminismus
Die Liste der Gründe, warum das Thema Feminismus noch lange nicht „abgehakt“ und ad acta gelegt werden kann, ist lang – auch wenn all die mutigen Frauen der Generationen vor mir schon Großartiges geleistet haben. Der folgende Beitrag ist deshalb ein Plädoyer für den Feminismus und den aufrichtigen Versuch, als Gesellschaft gemeinsam Schritte in Richtung Gleichstellung und Gleichberechtigung zu setzen.
Warum Feminismus so wichtig ist – ein persönliches Beispiel aus dem Alltag
Vor einigen Monaten war ich wie immer im Fitnessstudio trainieren. Ich wollte anschließend ein wenig „Sonne“ tanken und begab mich in einen der beiden Solarium-Räume. Ich fing an, das Solarium zu desinfizieren und wollte gerade meine Sportkleidung ablegen, als ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ich schaute instinktiv zur Trennwand – die sich nicht bis ganz zur Decke erstreckte – und sah, wie ein Handy über die Wand gehalten wurde. Ich weiß nicht mehr, was ich geschockt und panisch gerufen habe, doch ich weiß noch genau, wie ich mich in diesem Moment gefühlt habe. Und ich denke, kein (Cis-)Mann der Welt wird das je nachvollziehen können.
Sexismus und sexuelle/körperliche Gewalt
Frauen werden seit jeher im öffentlichen und privaten Umfeld auf ihre Körper reduziert und damit objektifiziert; sie sind tagtäglich mit Catcalling und anderen übergriffigen Verhaltensweisen konfrontiert. Doch damit nicht genug, ihnen wird nicht selten die Schuld dafür gegeben: „Sie braucht sich doch nicht wundern, wenn sie so freizügig angezogen ist.“ Klassische Täter-Opfer-Umkehr.
In diesem Zusammenhang ist oft auch der Arbeitsplatz kein sicherer Ort für Frauen, wie die folgende Zahl belegt: Mehr als jede vierte Frau in Österreich ist von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen. Und auch die Tatsache, dass sexualisierte Gewaltverbrechen an Frauen in Österreich nach wie vor ein großes Problem sind, ist nicht von der Hand zu weisen: Jede dritte Frau über 15 Jahren hat innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen schon mindestens einmal körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Im Jahr 2022 wurden österreichweit 28 Femizide begangen, davon größtenteils Beziehungs- oder Familientaten: Ex-Partner, Partner, Familienmitglied.
Der Gender-Health-Gap
Doch nicht nur diese Zahlen weisen deutlich darauf hin, dass feministische Perspektiven und Herangehensweisen in unserer Gesellschaft mehr als notwendig sind. Ein Blick in die Gesundheitsversorgung bzw. Medizin zeigt klar, dass Frauen auch da strukturell benachteiligt werden – Stichwort „Gender-Health-Gap“. Die Palette reicht von Schmerzen, die vor allem von männlichen Ärzten nicht ernst genommen oder fehldiagnostiziert werden, über Medikamente, die auf Männerkörper zugeschnitten sind und Frauen damit hinsichtlich Wirkung und Nebenwirkungen benachteiligen, bis hin zur erhöhten Wahrscheinlichkeit, als Frau nach einer OP zu sterben, weil ein männlicher Arzt sie operiert hat.
Es gäbe allein im Kontext Gesundheit noch viele weitere Beispiele für die reale Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Frauen, doch das würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle noch auf eine weitere medizinische Praxis eingehen, weil die Art der Objektifizierung, Grenzüberschreitung und Bevormundung, die dabei zutage kommt, fassungslos macht. Die Rede ist vom sogenannten Husband Stitch: Dabei wird Frauen nach einer Entbindung mit Dammschnitt die Scheide bewusst enger genäht als nötig – ohne ihr Einverständnis und oft auch unwissentlich. Die Begründung der – fast ausschließlich männlichen – Ärzte, die so praktizieren, ist unglaublich: Die Verengung der Scheide soll zu mehr sexueller Befriedigung des (Ehe-)Manns beitragen.
Sexistisch sind immer die anderen
Warum wir Feminismus brauchen? Genau aus solchen erniedrigenden Gründen. Doch auch die Tatsache, dass den Menschen, die sich für eine Verbesserung einsetzen, tagtäglich mit Feindseligkeit begegnet wird, macht die Wichtigkeit der kleinen und großen feministischen Kämpfe deutlich. Feminist:innen werden belächelt, beschimpft oder als unglaubwürdig bezeichnet – ungeachtet der Datenlage. Doch warum ist das so?
Wenn Menschen einen Spiegel vorgehalten bekommen, dann ist die erste Reaktion eine Abwehrhaltung: Nicht das, was im Spiegel gesehen wird, ist das Problem, sondern es sind diejenigen, die den Spiegel vorhalten. Und leider kommen viele Menschen nicht über diesen Punkt hinaus; sie setzen sich nicht mit ihren eigenen problematischen Denk- und Verhaltensweisen und den wissenschaftlichen Daten und Fakten auseinander und reproduzieren somit Sexismus, Vorurteile und Genderbias.
Männliche Fragilität
Männer halten es seit jeher für ihr inhärentes Grundrecht, bestimmte Dinge, Privilegien, Verhaltensweisen und Emotionen für sich zu beanspruchen, darunter auch die Anerkennung durch das weibliche Geschlecht. Das bedeutet, dass eine grundlegende Nehmer-Erwartungshaltung und eine Abhängigkeit der Männer von Frauen und deren Gunst bestehen – wenn auch unterbewusst. Wird ihnen diese weibliche Verfügbarkeit verwehrt, gerät ihr Konzept der „Männlichkeit“ ins Wanken, was unter anderem zu den oben genannten Übergriffen führt.
Die selbstbewussten und selbstbestimmten Menschen, die all das einfordern, was Männern ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt zugestanden wird, werden als Bedrohung gesehen. Man könnte auch sagen: Feminist:innen machen Männern ihre Privilegien – und die Angst um sie – bewusst.
Wir können alle gewinnen
Doch es geht beim Feminismus weder darum, Männern etwas wegzunehmen, noch darum, Frauen als das „bedeutendere“ oder „bessere“ Geschlecht darzustellen und sie auf ein Podest der Überlegenheit zu heben. Das würde die Problematik nur umkehren. Wir kämpfen für Gleichberechtigung und Gleichbehandlung in allen Bereichen der Gesellschaft, des täglichen Lebens – sei es im Berufs- oder Privatleben. Auch wir haben es verdient, dass uns auf Augenhöhe begegnet wird und wir ernst genommen werden.
Um das zu erreichen, müssen wir uns unserer stereotypen und sexistischen Verhaltensweisen und der Benachteiligung von Frauen bewusst werden und diese zu überwinden versuchen. Nur dann, wenn wir offen sind zu lernen und aufrichtig zuhören, können wir etwas bewirken.
SOPHIE MÜLLER ist freiberufliche Sprach- und Kommunikationsexpertin. Neben ihrer Tätigkeit als Lektorin und Übersetzerin für die Sprachen Deutsch und Englisch befasst sie sich mit den Themen Feminismus, Gender und Diversity. Ausschlaggebender Punkt für ihr Engagement war die Forschungstätigkeit im Rahmen ihrer Masterarbeit zum Thema Genderbias in der Fachkommunikation. Heute setzt sie sich vor allem in ihren Social-Media-Kanälen für Gleichberechtigung und die Bedeutung von genderinklusiver Sprache ein.