Elementarpädagogik: Kreativität und soziale Kognition als Grundstein für Bildung
Wir stehen vor gewaltigen gesellschaftlichen, geopolitischen, technologischen und umweltpolitischen Herausforderungen. Um gegenwärtigen und zukünftigen Problemen zu begegnen, brauchen wir die besten Köpfe – junge Köpfe mit neuen Ideen. Wie können wir junge Menschen fördern, um innovative Ideen zu forcieren? Wie geeignet ist unser Bildungssystem, um kognitives Potenzial zu heben?
Wenn wir über Bildung reden, beziehen wir uns meist auf den Erwerb von Faktenwissen. Andere Lernprozesse, wie somatosensorisches und kinästhetisches Lernen, emotionales/Amygdala-abhängiges Lernen und die Ausreifung höherer kognitiver Funktionen wie Entscheidungsfähigkeit, Impulskontrolle, Reflexion, Empathie usw. werden in der Regel nur am Rande erwähnt. Um eine gesamtheitliche Bildungsdebatte zu führen, müssen wir allerdings unseren Blick auch für andere Lernprozesse schärfen.
Konvergentes und divergentes Denken
Unsere Bildungseinrichtungen legen einen starken Fokus auf konvergentes Denken und die Reproduktion von Lerninhalten. Bei konvergenten Denkprozessen geht es darum, klar definierte Lösungen für ein Problem zu finden. Das ist für viele Bereiche unseres täglichen Lebens wichtig. Wir wollen schließlich sicher sein, dass Experte A und Experte B zu einem übereinstimmenden Ergebnis kommen, wenn wir unseren kaputten Fernseher oder unser defektes Auto reparieren lassen oder wenn wir mit gebrochenem Bein in die Ambulanz des Unfallkrankenhauses gebracht werden.
Worauf unser Bildungssystem hingegen kaum ausgerichtet ist – und das ist kein österreich-spezifisches, sondern ein globales Problem der Bildungsvermittlung –, ist die Förderung von divergentem Denken. Divergentes Denken ist ein kreativer Prozess, der mehrere, auch unkonventionelle Problemlösungen zulässt. Divergentes Denken hilft uns wenig, wenn es darum geht, ein Auto zu reparieren, ist aber notwendig, um Herausforderungen zu begegnen, die komplexe Systeme, wie gesellschaftlich-soziale oder ökonomische Systeme und Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur mit sich bringen.
Unterschätzte Arten des Lernens
Es sei erwähnt, dass die Geringschätzung von divergentem Denken kein Phänomen unseres heutigen Bildungssystems ist. Der 2002 verstorbene österreichische Physiker, Kybernetiker und Philosoph Heinz von Foerster erzählte die folgende Begebenheit: Der siebenjährige Sohn seiner Freunde musste in der Schule nachsitzen, weil er auf die Frage „Wie viel ist 2 x 3?“ nicht mit „6“, sondern mit „3 x 2“ geantwortet hatte. „6“ wäre die Problemlösung im konvergenten Sinne gewesen.
Von Foerster wollte wissen, wie der Junge auf seine Antwort kam. Dieser nahm Papier und Bleistift, zeichnete drei Punkte und darüber drei weitere Punkte. Das sind „3 x 2“ sagte er. Dann drehte er das Paper um 90 Grad, zeigte auf die drei Zeilen mit jeweils zwei Punkten und meinte: „Siehst du Heinz, das sind 2 x 3.“ Der Siebenjährige hatte auf seine eigene Weise durch divergentes Denken das Kommutativgesetz der Multiplikation entdeckt.
Die Rolle des Gehirns
Dieses Beispiel soll uns zeigen, dass Lernen nicht einfach mit Erwerb und Reproduktion von Faktenwissen gleichzusetzen ist. Lernen ist kein monolithischer Prozess, sondern umfasst vielschichtige und ineinandergreifende Prozesse. Dennoch werden nichtkonvergenten Lernprozessen, wie Kreativität, emotionalem und sozialem Lernen sowie der kognitiven Entwicklung exekutiver Funktionen in der Bildungsdebatte oft wenig Gewicht beigemessen. Jedoch möchte ich gerade in Bezug auf einen vielschichtigen Wissenserwerb die Elementarpädagogik hervorheben. Elementare Bildung legt den Schwerpunkt gezielt auf multimodales Lernen, Kreativität und soziale Kognition. Bei all diesen Lernprozessen spielen sogenannte Neuromodulatoren wie Dopamin, endogene Opioide und Oxytozin eine wichtige Rolle.
Neuromodulatoren beeinflussen die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen, indem sie die Wirkung wichtiger Botenstoffe nuancieren. Sie zeigen oft langanhaltende Effekte, die weite Teile des Gehirns und des peripheren Nervensystems betreffen können. Bei Lern- und Gedächtnisprozessen spielen zahlreiche Neuromodulatoren eine wichtige Rolle, unter anderem die oben genannten: Dopamin, körpereigene Opioide und Oxytozin. Dopamin ist die Schlüsselkomponente des Belohnungssystems in unserem Gehirn. Es reguliert Verlangen und Erwartungen und fungiert als wichtiger Motivator. Körpereigene Opioide tragen zum eigentlichen Glücksgefühl bei, ihre Aktivierung löst einen Glücksimpuls aus und hebt das individuelle Zufriedenheitslevel kurzfristig an. Oxytozin, häufig auch „Kuschel-“ oder „Bindungshormon“ genannt, steuert unser Sozial- und Bindungsverhalten. Es stärkt das Vertrauensgefühl und die emotionale Bindung zwischen Menschen – das betrifft Eltern-Kind-Beziehungen, Partnerschaften, aber auch Beziehungen zwischen Schüler:in und Pädagog:in.
Lernen ist ein sozialer Prozess
Pädagogische Arbeit unterstützt das Zusammenspiel von diesen Neuromodulatoren und ermöglicht das Ineinandergreifen multipler Lernprozesse. Bindungsarbeit forciert die Ausschüttung von Oxytozin, Spielen und Bewegung regt die Aktivierung körpereigener Opioide an, und spielerisches Entdecken und Aha-Erlebnisse fördern die Ausschüttung von Dopamin. Diese Neuromodulatoren sind auch im späteren Leben für Motivation und erfolgreiches Lernen unabdingbar.
Durch die Förderung multimodalen und sozialen Lernens werden divergentes Denken, Empathie, Kreativität, rekursives Denken, Impulskontrolle und die Bereitschaft zu Kooperation gefördert. Der Schlüssel zum Erfolg in der elementarpädagogischen Arbeit liegt in der Beziehungsarbeit. Denn Lernen ist ein sozialer Prozess, der nur dann in geeigneter Weise funktioniert, wenn eine positive, reziproke Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden vorliegt. Stabile und sichere Beziehungen stärken außerdem die Resilienz – denn Oxytozin wirkt antagonistisch zu Stresshormonen.
Darüber hinaus weiß man aus der Hirnforschung, dass die ersten Lebensjahre eine besonders wichtige Phase der Gehirnentwicklung sind, die maßgeblich zu späteren Lernerfolgen beiträgt. In dieser Zeit wird ein Überschuss an Synapsen (Synapsen = Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, an denen die Informationsübertragung stattfindet) gebildet. Im Laufe der Entwicklung kommt es zu einer selektiven Verstärkung oder Reduktion von Synapsen. Welche Synapsen verstärkt und welche eingeschmolzen werden, hängt von deren Verwendung ab; je häufiger synaptische Verbindungen aktiviert werden, desto stabiler werden sie; je weniger sie aktiviert werden, desto eher gehen sie verloren. In der wissenschaftlichen Literatur findet man dieses Phänomen unter dem Prinzip „Use it or lose it“. („Verwende es oder verliere es“)
Warum sich Elementarbildung lohnt
Die Hirnforschung bestätigt also die Wichtigkeit von elementarer Bildung für die kognitive Entwicklung und für einen erfolgreichen Bildungsweg. Elementarpädagog:innen sind daher viel mehr als Kinderbetreuer:innen; sie sind Pädagog:innen und Bezugspersonen, die insbesondere soziales Lernen und divergentes Denken vermitteln. Damit schaffen sie die Voraussetzung für die Entwicklung von kognitivem Potenzial, den Erwerb von sozialen und fachlichen Kompetenzen sowie ganz allgemein einen Rahmen für Wissbegierde und Lernbereitschaft.
Diese Fähigkeiten werden zu einem späteren Zeitpunkt in anderen Bildungseinrichtungen nicht mehr explizit vermittelt, sondern schlichtweg für den Wissenserwerb vorausgesetzt. Aufgrund dieser Erkenntnisse sollte klar sein, dass ein optimaler Betreuungsschlüssel und pädagogisch geschultes Personal in elementarpädagogischen Einrichtungen das Fundament für die weitere Bildungskarriere von Kindern legen.
Elementare Bildung gibt unserer jüngsten Generation die Chance, zukünftigen Herausforderungen entgegenzutreten, indem sie Ideen entwickeln und Entscheidungen treffen, die auf kreativer Lösungsvielfalt sowie zwischenmenschlicher und ökologischer Empathie basieren. Mit Blick auf diese Herausforderungen scheint eine Investition in die Elementarpädagogik, wirtschaftlich gesprochen, eine risikoarme Anlage mit potenziertem Gewinn zu sein.
ISABELLA SARTO-JACKSON ist Präsidentin der Österreichischen Neurowissenschaftlichen Gesellschaft (ÖGN) und forscht am Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung in Klosterneuburg. In ihrem Buch „The Making and Breaking of Minds“ beschäftigt sie sich damit, wie soziale Interaktion das Gehirn beeinflusst.