Nach Europas Wahlzyklus: Politische Unsicherheiten und geopolitische Perspektiven
Die Wiederwahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin hat Europa in einer Zeit politischer Unsicherheiten Stabilität gegeben. Interne Spannungen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten belasten aber die EU-Kohäsion. Um global handlungsfähig zu bleiben, muss die EU ihre wirtschaftliche Resilienz stärken und eine einheitliche Außenpolitik verfolgen.
Europa hat eine signifikante Sommerphase der politischen Unsicherheit relativ unbeschädigt überstanden, auch wenn die geopolitischen Implikationen noch lange nicht deutlich sind. Ich werde versuchen, ein wenig Klarheit und Struktur in das Gesamtbild zu bringen. Fangen wir mit der größten und wichtigsten Wahl überhaupt an – der Europawahl im Juni. Ursula von der Leyen konnte wiedergewählt werden, nachdem die Fraktionen der Europäischen Volkspartei, der Sozialdemokraten und der Liberalen sowie der Grünen sie unterstützt haben. Gleichzeitig hat sich jedoch der Trend des Erstarkens der rechtspopulistischen und ultrakonservativen Kräfte bestätigt. Diese Parteien bilden mittlerweile drei unterschiedliche Fraktionen im Europäischen Parlament, wobei eine davon, „Europas Patrioten“ mit der FPÖ an Bord, die Liberalen vom dritten Platz verdrängt hat. Die Tatsache, dass diese Kräfte fraktionstechnisch zersplittert bleiben, während das abgeschwächte Trio der Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen weiterhin zusammenhält, verweist auf eine gewisse politische Stabilität, bis die neuen Institutionen im Herbst ihre Arbeit aufnehmen können. Auch die Wiederwahl von Ursula von der Leyen deutet auf ein politisches Kontinuum hin, das derzeit dringend in Brüssel benötigt wird, da es in Berlin und Paris schwer zu finden ist.
Emmanuel Macrons Schachzug der vorgezogenen Wahlen schien bis zuletzt ein riskantes Unterfangen zu sein, aber letztlich zeigte sich, dass die Mitte gegen rechts- und linksorientierte Kräfte bestehen kann. Die große politische Überraschung war die Unfähigkeit der Rechten, mehr Wählerstimmen zu mobilisieren, während die linken Kräfte zwar geeinter auftreten, aber dennoch kein überwiegendes politisches Gewicht gegen Macron aufbringen konnten. Als Schocksieger erhielt das neu gegründete linke Bündnis NFP nur eine relative Mehrheit im Parlament, was die Frage offen lässt, wie sich das nächste Regierungskabinett zusammensetzen wird. Übergangsweise wird die bisherige Regierung weiterhin das Tagesgeschäft verwalten. Macron bleibt bis 2027 Präsident, allerdings wird seine Präsidentschaft voraussichtlich stark geschwächt sein, wenn seine Partei nicht länger den Premierminister stellt. Insgesamt bringt dieser Zustand Frankreich in ein politisches Vakuum, in dem das Pendel zwischen links und rechts schwingt und Macron geschickt dazwischen navigieren muss. Dies erfordert erheblichen innenpolitischen Einsatz, um sich noch ausführlich geopolitischen Themen widmen zu können. Kürzlich hat Macron vor Europas Sterblichkeit gewarnt und sich dafür ausgesprochen, NATO-Truppen in die Ukraine zu entsenden. Jetzt ist Frankreich im Olympia-Rausch und versucht, sich auf risikoärmere Themen am geopolitischen Rand zu konzentrieren, wie die Anerkennung von Westsahara im Rahmen der marokkanischen Souveränität und die Verbesserung der Beziehungen zu Marokko, was wiederum die Beziehungen zu Algerien belastet hat.
Deutsch-französische Inhaltsleere
In Deutschland zeichnet sich eine ähnlich schwierige Situation ab. Laut Medienberichten verzeichnete das Land im zweiten Quartal „überraschend“ kein Wirtschaftswachstum, obwohl die strukturellen Probleme bereits lange bekannt sind. Die Ära des billigen russischen Gases, des unproblematischen Zugangs zum chinesischen Markt und der sicherheits- und verteidigungspolitischen Schirmherrschaft der USA ist vorbei. Vor allem die Investitionen in Ausrüstungen wie Maschinen und in Bauten nahmen ab, was das Land im Vergleich zu anderen großen EU-Staaten zurückwirft. Zu den Kernursachen zählen auch schwierige Wirtschaftsstandortfaktoren und eine deutlich verunsichernde Wirtschaftspolitik. Kanzler Olaf Scholz hat zudem innenpolitisch schwierige Aufgaben zu bewältigen; die Honeymoon-Zeit der Koalition ist längst vorbei. In den ostdeutschen Bundesländern, wo 2024 Wahlen anstehen, führt die AfD laut Umfragen. Diese Partei wäre in Thüringen, Sachsen und Brandenburg momentan die stärkste Partei. Zugleich hat Scholz jedoch angekündigt, im Schlüsselwahljahr 2025 erneut für das Amt des Bundeskanzlers kandidieren zu wollen.
Der aktuelle Zustand des deutsch-französischen Duos, trotz des ersten offiziellen Staatsbesuchs eines französischen Präsidenten seit 24 Jahren, ist eher inhaltsleer und ohne jegliches persönliche Fundament. Zu viele offene Baustellen, zu viele unterschiedliche Positionen belasten die deutsch-französische Zusammenarbeit. Ein großer Streitpunkt ist die Verteidigungspolitik: Während Frankreich eine Emanzipation von den USA anstrebt, kommt die deutsche Zeitenwende, insbesondere im Bereich Verteidigungspolitik, ins Stocken. In der Europäischen Union gibt es neben Deutschland und Frankreich keinen Staat, der wirtschaftlich, politisch und militärisch stark genug wäre, um an diesen beiden Ländern vorbei eine eigene Lösung darzustellen. Auch im Bereich Energiepolitik gehen die Positionen der beiden Länder auseinander, da in Paris auf Atomenergie gesetzt wird, während man in Berlin darauf verzichtet.
Britische Lichtblicke, ungarische Rückschritte
Ein Lichtblick in der europäischen Landschaft ist die politische Wende im Vereinigten Königreich, wo sich die neue Regierung unter Keir Starmer sehr kooperationsbereit gezeigt hat, die Beziehungen zur EU sowie zu Deutschland und Frankreich zu verbessern. Dies wurde besonders während der vierten Tagung der Europäischen Politischen Gemeinschaft im Vereinigten Königreich deutlich. Auch Ursula von der Leyen zeigte sich nach ihrer Wiederwahl vitaler und energiegeladener denn je. Sie hat nun die Chance, eine geopolitische Kommission zu etablieren, was sich an ihren ambitionierten Richtlinien zeigt. Die Erweiterung der EU wird als geopolitisches Gebot betrachtet, insbesondere angesichts des 20-jährigen Jubiläums der größten Erweiterungswelle in der Geschichte der Union. Diese Erweiterung wird als moralischer, politischer und geostrategischer Imperativ angesehen, um die EU zu stärken und ihre Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Eine größere Union würde Europa ein größeres geopolitisches Gewicht und Einfluss auf der Weltbühne verleihen, die Abhängigkeiten verringern und die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Darüber hinaus wird eine neue wirtschaftliche Außenpolitik gefordert, die den Herausforderungen der heutigen geopolitischen und geoökonomischen Landschaft gerecht wird. Mit Kaja Kallas als neuer EU-Chefdiplomatin zeigt Ursula von der Leyen eine klare Bereitschaft, geopolitische Themen, insbesondere den existenziellen russischen Krieg gegen die Ukraine, mit einer neuen Intensität und einem veränderten Mindset anzugehen. Kallas, die ehemalige Ministerpräsidentin Estlands, zählt zu den entschiedensten Unterstützern der Ukraine innerhalb der EU und weltweit. Sie befürwortete von Anfang an die Idee, eingefrorene russische Vermögenswerte für den Wiederaufbau und zur Verteidigung der Ukraine zu verwenden. Inzwischen wurden dafür bereits 1,5 Milliarden Euro an stillgelegtem russischem Vermögen bereitgestellt.
Mit Frankreich und Deutschland im politischen Führungs-Vakuum und den baltischen sowie skandinavischen Ländern, die durch den russischen Krieg gegen die Ukraine gebunden sind, bleibt Ursula von der Leyen auf die Unterstützung von Italiens Premierministerin Giorgia Meloni in geopolitischen Schlüsselfragen angewiesen. Meloni besuchte kürzlich China, um die bilateralen Beziehungen nach dem Austritt aus der Seidenstraße zu normalisieren und konkrete Kooperationsfelder zu eruieren.
In den letzten Tagen kam es zu einer Reihe von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ungarn. Ungarns Premierminister Viktor Orbán hielt eine Rede, in der er Polen der Heuchelei beschuldigte und behauptete, dass das Land russisches Öl über Mittelsmänner kaufe. Der stellvertretende polnische Ministerpräsident Władysław Teofil Bartoszewski reagierte daraufhin mit der Klarstellung, dass Polen keine Geschäfte mit Russland mache. Er fragte zudem, warum Orbán nicht „eine Union mit Putin und einigen autoritären Staaten dieser Art“ anstrebe, anstatt Mitglied der EU und der NATO zu bleiben. In einem Interview mit dem Online-Magazin Visegrad Insight erklärte der polnische Außenminister Radosław Sikorski, dass sein ungarischer Amtskollege Péter Szijjártó seine Meinung über einen polnischen Vorschlag, ein EU-Treffen in der Ukraine abzuhalten, offenbar geändert habe, nachdem er Anweisungen aus Budapest erhalten hatte. Der ungarische Minister Szijjártó wies diese Aussage zurück und beschuldigte seinen polnischen Amtskollegen Sikorski der Lüge, was den diplomatischen Streit weiter verschärfte. Seit dem ersten Tag der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft gibt es weitere Spannungen, insbesondere angesichts Orbáns selbsterklärter Friedensmission 3.0, die Aufenthalte in der Ukraine, Russland und China einbezog. Orbáns enge Beziehungen zu Moskau und seine ablehnende Haltung gegenüber den EU-Sanktionen gegen Russland sowie seine kritische Haltung zur Eröffnung von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine haben zu scharfer Kritik seitens der EU und der NATO geführt.
Geopolitische Implikationen
Die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa haben weitreichende geopolitische Implikationen. Erstens zeigt sich eine zunehmende Fragmentierung innerhalb der EU, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Diese Fragmentierung könnte die Handlungsfähigkeit der Union in kritischen geopolitischen Fragen beeinträchtigen, insbesondere in Bezug auf die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten zu Russland, China und der transatlantischen Partnerschaft erschweren eine einheitliche europäische Geopolitik. Die Spannungen zwischen Polen und Ungarn, die sich in der jüngsten Auseinandersetzung offenbarten, verdeutlichen die Herausforderungen, vor denen die EU in Bezug auf ihre interne Kohäsion steht.
Zweitens steht die EU vor der Herausforderung, ihre wirtschaftliche Resilienz zu stärken, um den globalen geopolitischen und geoökonomischen Wettbewerbsdruck zu bewältigen. Die Initiativen zur Diversifizierung der Lieferketten, zur Förderung von Investitionen in strategische Technologien und zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit sind entscheidend, um die Abhängigkeiten von externen Einflüssen zu reduzieren und die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene neue Wirtschaftsaußenpolitik, die sich auf wirtschaftliche Sicherheit, Handel und Investitionen in Partnerschaften konzentriert, zielt darauf ab, die EU in einer Welt der Großmächte als eigenständigen Akteur zu positionieren. Dies erfordert jedoch eine koordinierte Umsetzung auf europäischer Ebene und die aktive Beteiligung aller Mitgliedstaaten.
Drittens spielt die Erweiterung der EU eine zentrale Rolle in den geopolitischen Überlegungen. Die geplante Integration neuer Mitgliedstaaten, insbesondere aus dem westlichen Balkan und der östlichen Nachbarschaft, wird als strategische Notwendigkeit betrachtet, um die Union zu stabilisieren und ihren Einfluss in der Region zu festigen. Diese Erweiterungspolitik ist jedoch nicht ohne Risiken. Sie könnte bestehende interne Spannungen innerhalb der EU verstärken, insbesondere wenn neue Mitglieder unterschiedliche geopolitische Interessen verfolgen oder die Werte und Normen der Union nicht vollständig teilen. Die Integration dieser Länder erfordert daher eine sorgfältige Vorbereitung und eine klare Kommunikation der Vorteile und Herausforderungen sowohl an die neuen als auch an die bestehenden Mitgliedstaaten.
Viertens hat der russische Krieg gegen die Ukraine tiefgreifende Auswirkungen auf die europäische Sicherheit und die transatlantischen Beziehungen. Die EU steht vor der Herausforderung, ihre Verteidigungsfähigkeiten zu stärken und gleichzeitig die transatlantische Partnerschaft zu pflegen. Die Uneinigkeit zwischen Frankreich und Deutschland in Verteidigungsfragen, wie die unterschiedliche Haltung zur strategischen Autonomie und zur Zusammenarbeit mit den USA, könnte die europäische Sicherheitsarchitektur schwächen. Es ist entscheidend, dass die EU eine kohärente Verteidigungsstrategie entwickelt, die sowohl die Interessen der Mitgliedstaaten als auch die Notwendigkeit einer starken transatlantischen Bindung berücksichtigt.
Interne Instabilitäten
Schließlich wird die Rolle der EU auf der globalen Bühne durch interne politische Instabilitäten und das Fehlen einer klaren Führung beeinträchtigt. Die unsicheren politischen Verhältnisse in Frankreich und Deutschland, die Unsicherheiten über die Zukunft der britisch-europäischen Beziehungen nach dem Brexit und die internen Spannungen in der EU erschweren die Fähigkeit der Union, als geeinter Akteur in der internationalen Politik aufzutreten. Um ihre globale Position zu stärken, muss die EU ihre internen Differenzen überwinden und eine klare und kohärente Außenpolitik verfolgen.
Es ist schlussendlich wichtig zu betonen, dass die geopolitische Schwäche und ein innenpolitisches Vakuum in Europa nicht nur zu einer Verzögerung bei der umfassenden Hilfeleistung für die Ukraine im äußerst kritischen Zeitraum 2024–2025 führen können. Bereits 2022 wurde deutlich, dass der Zeitpunkt des russischen Kriegsbeginns gegen die Ukraine nicht nur mit dem Ende der Olympischen Spiele in China abgestimmt war, sondern auch mit dem politischen Vakuum in Deutschland aufgrund der Vorbereitung und Verhandlungen über eine neue Koalitionsregierung nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 sowie in Frankreich aufgrund der bevorstehenden Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2022. Nun befinden wir uns erneut in einer ähnlichen Situation: Scholz’ Wiederwahlkampagne hat bereits begonnen, und Macron navigiert in den unruhigen innenpolitischen Gewässern nach den vorgezogenen Wahlen. Es bleibt abzuwarten, ob Ursula von der Leyen es beim zweiten Versuch tatsächlich schaffen wird, eine geopolitische Kommission zu etablieren. Zeit ist erneut von entscheidender Bedeutung, und die aktuelle Lage scheint den geopolitisch Unentschlossenen nicht zugute zu kommen.
VELINA TCHAKAROVA ist Gründerin des Forschungs- und Beratungsunternehmens FACE (For A Conscious Experience e.U.) und Visiting Fellow an der Observer Research Foundation in Indien. Als geopolitische Expertin gibt sie ihre Einschätzung zu Entwicklungen der internationalen Beziehungen ab.