Formen der Solidarität und des Widerstands unter Kurieren in Tiflis
Am 5. Februar 2023 organisierten die Fahrer:innen von Lebensmittellieferungen im Zentrum von Tiflis, Georgien, einen Streik, um gegen die Arbeitsbedingungen und das Lohnsystem des in Helsinki ansässigen Lieferunternehmens Wolt zu protestieren. Als Zeichen der Solidarität schlossen sich die Kurier:innen später den Taxifahrer:innen an, die an einem anderen Ort ebenfalls gegen ihre derzeitigen Arbeitsbedingungen protestierten. Es war nicht das erste Mal, dass die Essenskurier:innen in Tiflis mobilisierten, um gegen ihre Arbeitsbedingungen zu protestieren oder sich anderen sozialen Gruppen anzuschließen, um ihre Solidarität zu bekunden. Doch die Entstehung dieser sichtbaren und starken Bewegung geschah nicht über Nacht.
Nach dem Auftreten großer Quick-Commerce-Unternehmen wie Glovo und Wolt im Jahr 2018 und später Bolt Food im Jahr 2020 wurde der Lieferdienst in den großen Städten Georgiens immer beliebter. Die hohe Nachfrage nach Bestellservices in Verbindung mit dem extremen Anstieg der Arbeitslosenquote in Georgien seit Februar 2020 veranlasste die Jugend dazu, sich dem neu entstandenen Sektor der Gig Economy anzuschließen. Der Aufstieg der Lieferdienste in Georgien eröffnete nicht nur neue Arbeitsplätze für junge Arbeitskräfte, sondern auch einen neuen sozialen Raum für kollektive Mobilisierung und Aktivismus. Während der Job den Einzelnen flexible Arbeitszeiten und ein angemessenes Einkommen ermöglichte, offenbarte das System plötzlich seine Probleme. Durch die Regie eines kurzen Dokumentarfilms, Your Delivery Is On Its Way (2022), hatte ich die Möglichkeit, die persönlichen Geschichten von fünf Kurier:innen – Elene, Temo, Irakli, Misha und Rati – und ihre Erfahrungen mit Arbeit, Widerstand und Solidarität zu verfolgen. Zahlreiche Gespräche mit ihnen während und nach den Protesten geben uns einen Einblick in die Entstehung einer der dynamischsten und lautesten sozialen Bewegungen in Georgien.
„Bleib zu Hause! Deine Lieferung ist auf dem Weg!“
„Ich fühlte mich wie eine Heldin“, sagt Elene, als sie sich an die ersten Monate der COVID-19-Pandemie erinnert. Mit den landesweiten Lockdowns gehörten die Straßen von Tiflis nur noch den Polizeiautos, Krankenwagen und Kurier:innen. Es war bald klar, dass der Zustelldienst genauso wichtig war wie die beiden anderen. Gleichzeitig wurde die Arbeit der Kurier:innen prekärer denn je: Die Arbeiter:innen mussten häufig Lebensmittel und Medikamente an die Krankenhäuser und Quarantänestationen liefern, was ihre Angst und das Risiko, sich mit dem damals noch unbekannten Virus zu infizieren, noch erhöhte. Dennoch, so Misha, war er stolz darauf, seine Arbeit zu machen, auch wenn sie gefährlich war. Er erzählte, wie er einer Frau half, indem er ihr während der Ausgangssperre nicht nur Medikamente für ihr Neugeborenes lieferte, sondern es ihr auch ermöglichte, mit dem Apotheker zu sprechen, um medizinischen Rat zu erhalten: „Das war ein sehr emotionaler und stolzer Moment für mich. Sie war eine junge Mutter und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, als ihr Neugeborenes hohes Fieber hatte. Da sie das Haus wegen des Lockdowns nicht verlassen konnte, war ich da, um ihr zu helfen.“ Misha startete sogar eine soziale Kampagne unter den Kurier:innen auf Facebook – „Ich bleibe bei der Arbeit, damit ihr zu Hause bleiben könnt!“. Später beauftragte das Management von Glovo in Georgien einen Grafikdesigner, Graffiti auf die Straßen von Tiflis zu malen, um die Arbeit der Kurier:innen während der Pandemie zu feiern und sie als Superheld:innen darzustellen: „Bleib zu Hause! Deine Lieferung ist auf dem Weg!“
Graffiti in Tiflis, 2020: „Bleib zu Hause! Deine Lieferung ist auf dem Weg!“
Schließlich fühlten sich die Botenfahrer:innen während der Pandemie von der Öffentlichkeit wertgeschätzt. Einigen Kurier:innen zufolge erkannten die Menschen langsam die Notwendigkeit des Lieferdienstes in ihrem täglichen Leben und wertschätzten ihre harte Arbeit. „In der Vergangenheit war es ziemlich schwierig, gegen etwas zu protestieren; sagen wir, uns gefielen einige der Arbeitsbedingungen nicht … Wir konnten uns nicht einfach versammeln und protestieren. Aber nach der Pandemie, als die Menschen den Wert unserer Arbeit erkannten und begannen, uns zu unterstützen, wurden wir selbstbewusster, und es war einfacher, gegen etwas zu protestieren, was uns nicht gefiel“, erklärte Elene, während sie über die Bedeutung der Pandemie und ihre Rolle bei der späteren Mobilisierung der Botenfahrer:innen sprach.
Die COVID-19-Pandemie spielte zwar eine entscheidende Rolle bei der Popularisierung des Liefergewerbes, der Erschließung neuer Arbeitsplätze für junge Menschen und der Förderung der kollektiven Identität der Botenfahrer:innen in Georgien, doch verursachte sie auch eine Reihe von Problemen, die ihre Mobilisierung noch weiter anheizten. „Die Pandemie führte auch zu einer hohen Nachfrage nach Kurier:innen, und obwohl es nicht einfach war, taten wir unser Bestes und schafften es irgendwie, das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu halten. Und genau in diesem Moment beschloss das Unternehmen, unsere Löhne zu kürzen und unser Bonussystem zu streichen. Das Unternehmen änderte sein Bezahlsystem zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt!“ sagte Misha.
Während die heldenhafte Arbeit ihrer Angestellten in der Öffentlichkeit gefeiert wurde, beschloss die Geschäftsführung der großen Zustellunternehmen, deren durchschnittliches Monatseinkommen zu kürzen. Trotz monatelanger Verhandlungen zwischen den Fahrer:innen und den Unternehmen wurden die strukturellen Änderungen nicht zurückgenommen. Der März 2021 war der Beginn einer Streikwelle unter den Kurier:innen verschiedener Zustellunternehmen. In den folgenden Jahren kam es auch in anderen Ländern wie Aserbaidschan, Malta, der Türkei, Österreich, Spanien und Israel zu ähnlichen Streiks, bei denen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen gefordert wurde. Die Proteste der Kurier:innen in Tiflis entwickelten sich jedoch bald zu etwas, was weit über die Arbeitsrechte hinausging.
„Der Lärm macht uns stärker!“
Am 20. Februar 2022 versammelte sich eine Gruppe von Lebensmittelzusteller:innen vor dem Sportpalast in Tiflis, um gegen die steigenden Preise für Benzin, Lebensmittel, Medikamente und andere Produkte in Georgien zu protestieren. Eine zufällig vorbeikommende Frau fragte mich, was dort los sei. Nachdem ich ihr den Zweck des Protests erklärt hatte, reagierte die Frau stolz: „Gut gemacht, Jungs! Wir sollten alle protestieren!“
Auch nach der Aufhebung des nationalen Lockdowns waren Kurierfahrer:innen überall in den Straßen von Tiflis zu sehen. Die zweirädrigen Fahrzeuge wurden plötzlich zu einem untrennbaren Bestandteil des Tifliser Verkehrs. Darüber hinaus tauchten sie auch in anderen gesellschaftspolitischen Protestszenen auf. So organisierten die Botenfahrer:innen im Mai 2021 eine Hupkundgebung zur Unterstützung der Demonstrant:innen, die sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks Namachwani wehrten. Ende desselben Jahres mobilisierten die Kurier:innen erneut, um gegen die bestehenden COVID-19-Bestimmungen zu protestieren, nach denen sie geimpft sein mussten, um öffentliche Einrichtungen zu betreten.
Während die Zusammensetzung der laufenden Proteste in der Regel nicht homogen war – nicht jede:r Kurier:in schloss sich jedem Solidaritätsprotest an -, war die im Februar 2022 organisierte Kundgebung zur Unterstützung der Ukraine nach der russischen Invasion eine der lautstärksten und demonstrativsten. Die Mobilisierung der Kurier:innen richtete sich nicht mehr gegen ihre Arbeitsrechte oder die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Umstände im Land, sondern gegen größere geopolitische Prozesse.
Solidaritätskundgebung für die Ukraine in Tiflis. Szene aus dem Film Your Delivery Is on Its Way (2022).
Von Streiks zu großangelegten Mobilisierungen
Der Fall der georgischen Botenfahrer:innen zeigt, wie eine Gruppe, die sich in einer Krisenzeit gebildet hat, unter bestimmten Bedingungen mobilisieren kann und wie sich ihre Agenda im Laufe der Zeit zu etwas Größerem entwickeln kann. Nachdem ich sie besser kennengelernt und an mehreren Protesten mit ihnen teilgenommen hatte, schien mir eine Frage immer noch unbeantwortet: Warum Kurier:innen? Warum sind sie es, die bei jedem großen sozialen Protest in Tiflis auftauchen?
Die Antwort hat zwei Seiten. Erstens hat die Lieferindustrie, wie die Fahrer:innen selbst erklärten, einen neuen sozialen Raum für sie geschaffen, in dem sie miteinander interagieren und ihre Meinungen zu verschiedenen Themen austauschen konnten, wenn sie beispielsweise vor verschiedenen Restaurants auf die Zubereitung ihrer Bestellungen warteten. „Ich habe durch meine Tätigkeit als Kurier viele enge Freunde gefunden. Einer von ihnen wird sogar mein Trauzeuge bei meiner Hochzeit sein“, erzählte mir Rati. Die Kurier:innen betonten auch den bemerkenswerten Sinn für Solidarität, den sie füreinander haben; egal was passiert, sie würden einander nie in einer schwierigen Situation allein lassen, vor allem wenn einer von ihnen in einen Verkehrsunfall verwickelt wird oder ihr Moped kaputt geht. In gewissem Sinne hat die hohe Prekarität ihrer Arbeit ihr Bedürfnis, aufeinander aufzupassen, noch verstärkt.
Zweitens macht sie die Tatsache, dass sie mobil und kakophonisch sind, sichtbarer und schafft ein gewisses Maß an Gruppenzugehörigkeit. Mit Blick auf die Solidaritätskundgebung für die Ukraine sagte Elene: „Der Lärm macht uns stärker. Wir können mit diesem Lärm viele Dinge tun, nicht nur Solidarität zeigen. Wir können tatsächlich etwas verändern. Und ich hoffe, das werden wir auch.“ Das Hupen und die Motorengeräusche wurden zur Besonderheit des Aktivismus der Kurierfahrer:innen in Tiflis, der bis heute anhält.
NANA KOBIDZE ist Sozialanthropologin aus Tiflis, Georgien, und promoviert derzeit in Soziologie und Sozialanthropologie an der Central European University in Wien. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Mobilität, soziale Bewegungen, Gouvernementalität und Nationenbildung im Südkaukasus. Neben der Sozialforschung hat Nana bei ethnografischen Filmprojekten Regie geführt.