Mann, Mensch, Medizin
Als Erika sich gerade mit einer Tasse Kaffee und einem Croissant, das sie sich in der Mittagspause vom Bäcker am Eck geholt hat, zurück an ihren Arbeitsplatz setzt, hat sie plötzlich höllische Bauchschmerzen. Ihr wird übel. Sie sackt auf ihrem Bürostuhl zusammen und bekommt kaum Luft. Ihr Rücken schmerzt, und in ihrer linken Hand macht sich ein Taubheitsgefühl breit.
Erika hat einen Herzinfarkt.
Dass man bei den oben beschriebenen Symptomen vielleicht nicht direkt an einen Herzinfarkt denkt, liegt daran, dass wir Herzinfarkte überwiegend mit einem stechenden Schmerz in der Brust assoziieren – so, wie er bei Männern auftritt. Doch bei einem Herzinfarkt durchleben und beschreiben Frauen oft andere Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Kiefer-, Nacken- oder Halsschmerzen, Kurzatmigkeit. Das bekannte Gefühl von Schmerzen in der Brust wird von Frauen eher als subtiler Druck oder Engegefühl beschrieben. Dieser Unterschied beeinflusst Reaktion, Diagnose und Behandlung und kann sogar über Leben oder Tod entscheiden, denn bei einem Herzinfarkt ist jede Minute entscheidend.
Herzinfarkte sind nur ein Beispiel in einer Reihe von Erkrankungen, bei denen sich die Symptome, Verhalten und Krankheitsverläufe von Frauen und Männern unterscheiden. Die Unterschiede können subtil sein oder auffällig – was sie jedenfalls gemein haben, ist, dass sie noch wenig bekannt und erforscht sind.
Der Mann, der Mensch
Bis heute ist der „Durchschnittsmensch“ ein weißer, 78 Kilo schwerer 1,75 Meter großer Mann. „Androzentrismus“ heißt der Fachbegriff für eine Weltanschauung, bei der der Mann als Zentrum, Maßstab und Norm fürs Menschsein verstanden wird. Alles, was nicht dem Männlichen entspricht, gilt als Abweichung von dieser Norm. Die Gleichsetzung von „Mensch“ mit „Mann“ ist Grundlage für Sexismus und Diskriminierung, die oft unbewusst geschieht, weil sie gesellschaftlich tief verwurzelt ist. In einigen Sprachen sind sogar die Wörter für Mann und Mensch ident.
Schon die Philosophin Simone de Beauvoir behandelt dieses Phänomen in ihrem berühmten Werk „Das andere Geschlecht“ und schreibt darin: „Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich.“ Damit wird die Frau und alles, was nicht dem männlichen Stereotypen entspricht, als „das andere“ oder das „von der Norm Abweichende“ aufgefasst.
Die Annahme, dass Männlichkeit der Normalfall sei und Weiblichkeit eine Abweichung von der Norm, ja sogar Mangel und Defizit wäre, vertrat zuvor bereits Sigmund Freud mit seiner Theorie über den Penisneid. Er war sich sicher, dass Frauen und Mädchen Männer unbewusst um ihren Penis beneiden, weil ihnen ein Teil des Körpers fehle.
Der Gender-Data-Gap
It’s a man’s world – vor allem, wenn es um Daten geht. In Wissenschaft und Wirtschaft werden Daten immer noch fast ausschließlich von und über Männer erhoben. Und diese Daten bestimmen vielfältigste Bereiche des Lebens – und zwar von allen Menschen. Die Datenlücke, die dadurch entsteht, dass Daten über Männer einen Großteil unseres Wissens ausmachen, wird als Gender-Data-Gap bezeichnet und stellt eine wesentliche Hürde für die Gleichstellung aller Geschlechter dar.
Caroline Criado-Perez schreibt darüber in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“. Im Buch zeigt sie, wie der Gender-Data-Gap unsere Gesellschaft beeinflusst: von Filmen über Nachrichten, Literatur, Wissenschaft und Stadtplanung bis zur Wirtschaft. Laut Perez ist der Gender-Data-Gap:
„schlicht und einfach Ergebnis eines Denkens, das seit Jahrtausenden vorherrscht und deshalb eine Art Nicht-Denken ist. Sogar ein doppeltes Nicht-Denken: Männer sind die unausgesprochene Selbstverständlichkeit, und über Frauen wird gar nicht geredet. Denn wenn wir ‚Mensch‘ sagen, meinen wir meistens den Mann.“
Die Folgen des Gender-Data-Gap reichen von unangenehm bis tödlich. Unangenehm, weil Frauen frieren, wenn die Temperaturnormen in Büros an den Bedürfnissen von Männern ausgerichtet sind, oder sie Regale in Supermärkten nicht erreichen können, da diese gemäß der männlichen Körpergröße gebaut wurden. Tödlich, weil Frauen mit einer fast 50 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall schwer verletzt werden, wenn Sicherheitsvorrichtungen nur männliche Körpermaße berücksichtigen. Auch eine vor kurzem veröffentlichte großangelegte kanadische Studie kam zum Ergebnis, dass Frauen, die von einem männlichen Chirurgen operiert werden, ein um bis zu 15 Prozent höheres Risiko für Komplikationen haben als Frauen, die von Chirurginnen behandelt wurden.
Ein neues Fachgebiet: Gendermedizin
Gendermedizin ist ein noch junger Bereich in der Medizin, der sich mit der geschlechtsspezifischen Erforschung und Behandlung von Krankheiten befasst. Das ist ein wichtiger und nötiger Schritt – doch dabei sollte nicht vergessen werden, dass sowohl biologisches als auch soziales Geschlecht ein Spektrum sind und auch Faktoren wie sozialer Hintergrund, Fitness oder Familiengeschichte einen wichtigen Einfluss haben.
Aktuell fokussieren sowohl Gendermedizin als auch Maßnahmen zur Schließung des Gender-Data-Gap noch sehr auf die binären Geschlechterkategorien „Mann” und „Frau”. Dort ist eine Weiterentwicklung nötig, denn es gibt verschiedene biologische Marker für Geschlecht, die unterschiedlich kombiniert sein können: Chromosomen, Hormone, primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale. In Österreich gibt es seit 2018 die dritte Geschlechtsoption im Reisepass. Der österreichische Verfassungsgerichtshof folgte damit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der sich bereits 2003 dafür ausgesprochen hat, dass die selbstbestimmte Wahl der Geschlechtsidentität ein fundamentales Menschenrecht ist.
Das ist wichtig, denn immer mehr Menschen – vor allem jüngere – können sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, identifizieren. Erhebungen des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research zufolge identifizieren sich in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen in den USA rund 3 Prozent als nichtbinär. Als trans identifizieren sich ungefähr zwei Prozent der unter 29-Jährigen. Und auch hierzulande steigt die Zahl jener, die sich nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren können, rasant, meint die AKH-Psychologin Diana Klinger und spricht in einem Interview mit dem Standard von einem „geradezu exponentiellen Anstieg“.
In Österreich gibt es dazu keine aktuellen Zahlen – nur Unverständnis und Vorurteile.
Den Systemwandel feministisch und intersektional denken
Gesundheitsforschung und -förderung für alle Geschlechter sind zentral für die Realisierung von Chancengleichheit. Wenn Forschung und Wissenschaft von Männern und für Männer betrieben werden, ist Diskriminierung vorprogrammiert. Deshalb braucht es mehr Daten, die sowohl körperliche Unterschiede als auch soziale und gesellschaftliche Erwartungen berücksichtigen. Es braucht einen Systemwandel, der sich an der Realität orientiert, denn die Hälfte der Menschheit ist nicht männlich.
In einer Welt, die immer stärker auf Daten basiert, dürfen wir Menschsein nicht mit Mannsein gleichsetzen. Das ist ein fataler Fehler, der schon jetzt schwerwiegende Folgen hat – und durch die rasante Verbreitung von datengetriebener künstlicher Intelligenz (KI) neues Diskriminierungspotenzial mit sich bringt. Denn es ist gefährlich zu behaupten, Programme und Software wären ausschließlich faktenbasiert, objektiv und neutral. Sei es durch ausgewählte Trainingsdaten oder implizite Regeln und Mechanismen: Wenn wir kein Auge darauf haben, werden bereits vorherrschende Verzerrungen und Diskriminierungen übernommen und im schlechtesten Fall noch verstärkt. Bereits heute unterstützt KI Ärzt:innen bei Diagnosestellungen.
In diesem neuen Kontext ist es umso dringender geboten, die Geschlechterlücke in den Daten zu schließen. Dabei muss man aber intersektional denken und unterschiedliche Formen der Diskriminierung berücksichtigen.
SOFIA SURMA ist Feministin, Gründerin und Vulva-Enthusiastin. Seit sie 2018 Viva La Vulva gegründet hat, beschäftigt sie sich intensiv mit der Enttabuisierung weiblicher* Sexualität und der Vulva. Auch als Gründerin des Vulva Shops setzt sie sich für die Gleichberechtigung und die Enttabuisierung der weiblichen* Sexualität ein.