Indiens Premier zu Besuch in Österreich: Eine geopolitische Analyse
Premierminister Narendra Modi wird sich auf eine diplomatische Mission nach Österreich begeben, die im Kontext des 75-jährigen Jubiläums der diplomatischen Beziehungen zwischen Indien und Österreich stattfindet. Diese Reise ist historisch bedeutsam, da Modi nach der ehemaligen Premierministerin Indira Gandhi (im Jahr 1983) der erste indische Staatschef seit 41 Jahren ist, der das neutrale Land besucht.
Schwerpunkte des Besuchs
Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Besuchs von Premierminister Modi in Wien ist hervorzuheben, dass das Kabinett Modi 3.0 nicht nur ein politisches Kontinuum darstellt, sondern auch die wichtigsten Positionen unverändert besetzt hat. Als Zeichen der Kontinuität behielt Modi vier seiner ranghöchsten Minister in den Bereichen Inneres, Verteidigung, Finanzen und Auswärtige Angelegenheiten bei. Während seines Aufenthalts in Österreich wird Modi mehrere hochrangige Treffen abhalten. Er wird sich mit Präsident Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler Karl Nehammer treffen. In seiner Erklärung betonte Modi, dass Österreich ein treuer und verlässlicher Partner Indiens sei und beide Länder die Ideale von Demokratie und Pluralismus teilen. Die Gespräche werden sich auf neue Bereiche wie Innovation, Technologie und nachhaltige Entwicklung konzentrieren. Zudem sind Diskussionen über Handels- und Investitionsmöglichkeiten geplant, um wirtschaftliche Beziehungen zu fördern, die beiden Seiten Vorteile bringen.
Neben den bilateralen Gesprächen zwischen Indien und Österreich werden auch regionale und globale Themen eine Rolle spielen. Ein zentrales Thema wird die russische Aggression in der Ukraine sein und ihre geoökonomischen Implikationen für den globalen Süden, insbesondere im Hinblick auf Energie- und Nahrungsmittelversorgung, Inflation und Friedensbemühungen. Weitere Diskussionen könnten sich mit dem zunehmenden Selbstbewusstsein Chinas sowie der Entwicklung terroristischer Netzwerke wie ISPK in Afghanistan befassen. Indien positioniert sich zunehmend als Sprecher der Länder des globalen Südens, die stark von den globalen Auswirkungen des russischen Krieges in der Ukraine betroffen sind, und zeigt sich besorgt über den Anstieg terroristischer Aktivitäten und Anschläge in der Region.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Potenziale
Ein zentrales Ziel dieses Besuchs ist die Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen. Modi und Nehammer werden sich mit österreichischen Industrievertretern treffen, um Möglichkeiten für gegenseitige Handels- und Investitionsprojekte zu erkunden. Besonders im Bereich des Infrastrukturausbaus, der Agrarinfrastruktur und der Fertigungsindustrie gibt es großes Potenzial für österreichische Unternehmen.
Während seiner Wahlkampagne hat Modi umfangreiche Pläne zur Stärkung der indischen Wirtschaft angekündigt. Er hat versprochen, dass Indien zur drittgrößten Wirtschaftsmacht neben den USA und China aufsteigen wird. Indien stellt derzeit die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft unter den G20-Staaten dar, mit einer beeindruckenden Wachstumsprognose von etwa 8 Prozent. Zudem hat Indien im Gegensatz zu Europa eine äußerst positive demografische Entwicklung und überholte im letzten Jahr China mit 1,4 Milliarden Menschen als bevölkerungsreichstes Land der Welt. Im selben Jahr verdrängte Indien Großbritannien vom fünften Platz der größten Volkswirtschaften weltweit.
Indien gilt inzwischen als einer der wichtigsten Handelspartner Österreichs außerhalb der EU, mit einem Handelsvolumen von 2,7 Milliarden Euro. Die österreichischen Direktinvestitionen in Indien beliefen sich Ende 2023 auf 733 Millionen Euro, während indische Investitionen in Österreich zuletzt 1,6 Milliarden Euro erreichten. Es besteht enormes Potenzial für weiteres Wachstum, insbesondere im Hinblick auf die geoökonomischen Ambitionen der neuen EU-Kommission, die ein Freihandelsabkommen mit Indien noch in dieser Amtszeit aushandeln möchte. Ein solches Abkommen würde nicht nur den Zugang zum EU-Binnenmarkt erleichtern, sondern auch die Gespräche über eine geregelte Arbeitsmigration erweitern, um dem in vielen Ländern, darunter auch Österreich, spürbaren Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Die Bedeutung von Geopolitik und Energie nimmt weltweit zunehmend zu. Themen wie Entwicklung und Nachhaltigkeit, aufkommende Technologien und Digitalisierung sowie erneuerbare Energien, insbesondere grüner Wasserstoff, stehen dabei weit oben auf der Agenda im indischen Kontext. Indien strebt danach, ein internationaler Hub für grünen Wasserstoff zu werden, und investiert zugleich massiv in Solarenergie. Außerdem engagiert sich das Land in verschiedenen Gremien und Foren, wie dem Quadrilateralen Format mit den USA, Japan und Australien, um die Resilienz und Rekonfiguration von Lieferketten sowie den Zugang zu seltenen Erden und Metallen sowie pharmazeutischen Produkten zu verbessern, die für die Energiewende, die Digitalisierung und das Gesundheitswesen entscheidend sind.
Indien plant darüber hinaus den Ausbau mehrerer Transport- und Konnektivitätskorridore, darunter den beim G20-Gipfeltreffen in Indien verkündeten IMEC-Korridor (Indien-Mittlerer Osten-Europa Korridor). Dieser multimodale Korridor auf See und Land bietet insbesondere im Hinblick auf die Vertiefung der Beziehungen zu Italien große Chancen für den österreichischen Handel. Dies bedeutet unter anderem erhebliche öffentliche Investitionen in die heimische Infrastruktur, aber auch im Agrarsektor und bei der Steigerung der Produktivität. Der Eisenbahnminister Ashwini Vaishnav hat Pläne für 2.500 neue Reisezugwagen und 10.000 zusätzliche Güterwagen angekündigt. Darüber hinaus sollen 50 neue Amrit-Bharat-Züge produziert werden, um den Fuhrpark vor dem Unionshaushalt 2024 zu modernisieren. Angesichts der konsequenten Fokussierung der indischen Regierung auf Infrastrukturprojekte seit 2014 erwartet der Markt gespannt einen wachstumsorientierten Unionshaushalt 2024 mit besonderem Augenmerk auf Energie, Elektrizität, Eisenbahnen und weitere Infrastrukturbereiche.
Diese spannenden Entwicklungen eröffnen der österreichischen Industrie erhebliche Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten, sowohl in den Bereichen Green Tech und erneuerbare Energien als auch bei der Modernisierung der Industrie, wie dem Anlagenbau, der Automatisierung, der Automobilbranche und der Verkehrsinfrastruktur. Spezielle Nischen wie Startups und Digitalisierung gewinnen ebenfalls an Bedeutung. Indien ist bereits das Land mit den meisten digitalen Transaktionen, und es könnten sich weitere Gespräche im Bereich der digitalen Finanzleistungen ergeben.
Geopolitische Rolle Indiens als Vermittler und Brückenbauer
Es ist hervorzuheben, dass Bundeskanzler Nehammer bis vor kurzem der einzige EU-Leader war, der seit Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine den russischen Präsidenten Putin in Moskau besucht hat. Diese umstrittene Reise, zusammen mit dem jüngsten Besuch des ungarischen Premierministers Viktor Orbán in Russland und seiner darauffolgenden Überraschungsreise nach China, zeigt ein anderes Verständnis von diplomatischen Bestrebungen, die jedoch nicht im Einklang mit der gemeinsamen Position der EU-Mitgliedstaaten sowie der EU-Institutionen steht. Während es Indien gelingt, seine Beziehungen sowohl zum westlichen als auch zum östlichen Machtblock zu pflegen und erfolgreich auszubauen, könnte es als geopolitischer Brückenbauer in globalen Angelegenheiten und Krisenherden agieren – eine Rolle, die Österreich als neutraler Staat in Europa immer wieder selbst ins Auge gefasst hat, für die ihm jedoch die geopolitische und geoökonomische Exposition fehlt, um sie auszuüben.
Indien hat in der jüngsten Vergangenheit eine überaus wichtige und vermittelnde Position auf der Weltbühne eingenommen, insbesondere beim letzten G20-Gipfel in Neu-Delhi. Trotz früherer Bedenken Chinas und Russlands hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem russischen Krieg in der Ukraine gelang es Indien, eine gemeinsame Erklärung zu formulieren, die das menschliche Leid und die wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs betonte, jedoch eine direkte Verurteilung Russlands vermied. Diese diplomatische Leistung unterstreicht Indiens Fähigkeit, zwischen verschiedenen Weltmächten als geopolitischer Brückenbauer zu vermitteln und Kompromisse zu erzielen, während es gleichzeitig die strategische Autonomie der eigenen Entscheidungsfindung bewahrt und nationale Interessen in den Vordergrund stellt.
Der anhaltende Krieg in der Ukraine mit seinen langwierigen Auswirkungen wird unumstritten im Mittelpunkt der bilateralen Gespräche zwischen Indien und Österreich sein. Darüber hinaus könnte es zu einem Austausch über den Konflikt im Nahen Osten und das Erstarken terroristischer Netzwerke kommen. Beide Seiten teilen viele Überschneidungspunkte in ihren Positionen zu den Gefahren und Risiken durch Terroranschläge sowie der Notwendigkeit der Konfliktbeilegung im Nahen Osten. Beide Länder sind auch für ihre politische Unterstützung für Israel, aber auch ihre langwierigen energie- und handelspolitischen Interessen in Moskau bekannt.
Fazit
Der Besuch von Premierminister Modi in Österreich bietet eine bedeutende Gelegenheit, die bilateralen Beziehungen zu stärken. Indiens wachsende Wirtschaft und positive demografische Entwicklung schaffen eine solide Basis für eine intensivere Zusammenarbeit. Österreichische Unternehmen können von Indiens umfangreichen Investitionsprogrammen, insbesondere in Infrastruktur und grüne Technologien, profitieren. Das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien könnte den Zugang zum EU-Binnenmarkt erleichtern und Arbeitsmigration fördern, was angesichts des Arbeitskräftemangels in Europa, einschließlich Österreichs, besonders wichtig ist. Der India-Middle East-Europe-Korridor wird zusätzliche Handelswege, auch nach Österreich, eröffnen, und stärkt somit die wirtschaftlichen und handelspolitischen Verbindungen. Diese Entwicklungen bieten vielfältige Chancen für die Zusammenarbeit in den Bereichen Technologie, nachhaltige Entwicklung und Handel, von denen beide Länder langfristig profitieren können.
VELINA TCHAKAROVA ist Gründerin des Forschungs- und Beratungsunternehmens FACE (For A Conscious Experience e.U.) und Visiting Fellow an der Observer Research Foundation in Indien. Als geopolitische Expertin gibt sie ihre Einschätzung zu Entwicklungen der internationalen Beziehungen ab.