„Mein Kampf“: Ein deutscher Bestseller
Am 18. Juli 1925 erschien die Erstauflage von Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf“. Bis heute ist es das meisterverkaufte Buch deutscher Sprache. Nach dem Krieg wurde der Nachdruck verboten. Heute findet sich eine digitale Ausgabe in kommentierter Fassung im Internet.
„Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!“ So beginnt das Buch „Mein Kampf“, das Adolf Hitler nach seinem gescheiterten Putschversuch 1924 im Landsberger Gefängnis verfasst. Hitler kann nicht ahnen, dass er schon neun Jahre später Reichskanzler sein wird. Ansonsten hätte er sich wohl nicht so freimütig über seine Weltanschauung, seine politischen Ziele und seine politischen Strategien geäußert, die er seinem Chauffeur und Duz-Freund Emil Maurice, freimütig und überzeugt von seiner Mission, in den Block diktierte.
Mit 39 anderen Putschteilnehmern ist Hitler während seiner Haftzeit in der sogenannten Festungsabteilung untergebracht, in der die Putschisten als eine von anderen Häftlingen abgetrennte eigene, kleine Gemeinschaft unter ausgesprochen komfortablen Bedingungen ihre Strafe verbüßen. Neben Emil Maurice hilft auch Rudolf Heß, Hitlers verlässlicher politischer Weggefährte und Privatsekretär, bei der Niederschrift des Manuskripts. Samstags liest Hitler den mitinhaftierten Kampfgenossen aus den jeweils neuen Kapiteln vor. Alle sind begeistert.
Mit seiner Schrift will Hitler den Deutschen einen geschlossenen Gegenentwurf zum Marxismus präsentieren, seinen Werdegang zum idealen Führer des Nationalsozialismus stilisieren, seinen Anspruch auf die Führung der NSDAP untermauern, mit „Verrätern“ des gescheiterten Hitlerputsches „abrechnen“ und alle Nationalisten auf die Juden als gemeinsamen Feind einschwören. Und er will die Geltung des 25-Punkte-Programms der NSDAP unterstreichen, um seine NSDAP als moderne, unverbrauchte und zielbewusste Sammelbewegung des nationalistischen Lagers der Weimarer Republik darzustellen. Und schließlich: Hitler benötigt Geld. Er hofft darauf, mit den Erlösen aus dem Verkauf seines Buchs Anwaltskosten begleichen zu können.
Goebbels ist begeistert vom „Buch der Deutschen“
Am 18. Juli 1925 erscheint Hitlers Pamphlet, in dem er seine wirre Weltsicht darstellt und sich bereits selbst als „Führer“ stilisiert. Im Folgejahr erscheint ein zweiter Band. Jetzt können nicht nur mitinhaftierte Parteikameraden lesen, wie Hitler denkt – und plant. Er kündigt einen Eroberungskrieg an, denn aus der „Beengtheit des Lebensraumes“ des deutschen Volkes entstehe „das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens“. Aus den „Tränen des Krieges“ erwachse „für die Nachwelt das tägliche Brot“. Wortreich schildert er, wie er während seiner Zeit in Wien vor dem Ersten Weltkrieg zum glühenden Antisemiten wird. Auch die Gaskammern klingen an: Hätte man während des Ersten Weltkriegs „zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mussten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen“. Hitler entwickelt daraus auch seine menschenverachtende „Rassentheorie“. Seine wirre Hetzschrift drückt aus, was damals viele im völkischen und nationalsozialistischen Lager gedacht haben.
Der NSDAP-Parteiverlag Franz Eher Nachfolger GmbH preist das Buch in seiner Verlagswerbung als „Das Buch der Deutschen“ an. Doch die Nachfrage ist eher zurückhaltend. Das deutsche Volk stürmt nicht in die Buchhandlungen. Auch die öffentliche Resonanz über die Parteigrenzen hinaus bleibt überschaubar. Lediglich in einigen völkischen Buchhandlungen lässt der Verlag knallrote Plakate im Stile der üblichen Bekanntmachungen nationalsozialistischer Veranstaltungen aufhängen. Selbst im parteieigenen Völkischer Beobachter erscheint erst am 29. Juli, elf Tage nach der Auslieferung, eine Werbeanzeige. Von einer „politischen Sensation“, wie später oft behauptet, kann also keine Rede sein. Die großen deutschen Zeitungen ignorieren das Buch, die liberalen, linken Blätter ohnehin. Die bürgerliche Frankfurter Zeitung attestiert Hitlers Buch ein „nationalistisch-proletarisches Gedankengemisch“ und gleichzeitig eine „terroristische Demagogie“. Fazit des Rezensenten: „Die Freunde konstruktiver Politik werden das Buch Hitlers zur Hand nehmen und daraus sehen, wie recht sie mit allem hatten, was sie dachten. Die Zeit ist weitergeschritten; Hitler aber ist – vollends nach diesem Selbstbekenntnis – erledigt.“
Doch es gibt auch viele Bewunderer. Zu den frühen Urteilen über Hitlers Buch gehören drei Einträge in Joseph Goebbels’ Tagebuch. Der junge, aufstrebende NSDAP-Funktionär hatte Hitler erst wenige Tage vor Erscheinen persönlich kennengelernt und am 14. Juli 1925 begeistert notiert: „Welch eine Stimme. Welche Gesten, welche Leidenschaft. Ganz wie ich ihn wollte. Ich kann mich kaum halten. Mir steht das Herz still. Ich warte auf jedes Wort. Und jedes Wort gibt mir Recht.“ Am 10. August 1925 schreibt er: „Ich lese Hitlers Buch und bin erschüttert von diesem politischen Bekenntnis.“ Knapp drei Wochen später hält er fest: „Wundervoll Hitlers Buch. So viel an politischem Instinkt.“ Mitte Oktober schließlich sein euphorisches Urteil: „Ich lese Hitlers Buch zu Ende. Mit reißender Spannung!“
Nur die Bibel übertrifft die Auflage
Trotz Goebbels Begeisterung: Das Buch ist zunächst alles andere als ein Verkaufserfolg. Die erste Auflage von knapp 10.000 Exemplaren verkauft sich nur schleppend. Zwar setzt der Verlag die Startauflage bis November 1925 ab und lässt noch einmal 8.000 Exemplare nachdrucken – doch es braucht drei Jahre, bis sie Ende 1928 verkauft werden. Noch schlechter sieht es beim Ende 1926 erschienenen zweiten Band aus: die 10.000 Exemplare der Startauflage werden erst Ende 1929 verkauft sein. Ab 1928 gibt es eine bibelähnliche „Volksausgabe“, in der beide Teile zusammengefasst werden. Doch mit dem Erfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl 1930 steigen die Absatzzahlen rasant. Von der einbändigen Volksausgabe werden bis zur „Machtergreifung“ im Januar 1933 knapp 300.000 Exemplare verkauft. Heute würde man von einem Mega-Bestseller sprechen. Bis 1945 werden mehr als zwölf Millionen Exemplare verkauft – oder verschenkt, beispielsweise an Brautpaare auf dem Standesamt. In den meisten deutschen Wohnstuben findet sich das Werk des „Führers“ im Bücherschrank. Mindestens jeder fünfte Deutsche wird das Buch bis 1945 ganz oder teilweise gelesen haben – so jedenfalls berichtet es die NS-Propaganda. Hitler bringt das Buch Millioneneinkünfte, die er nur – wie später festgestellt wird – unzureichend versteuert.
Historiker sind dennoch der Meinung, man dürfe die Wirkung des Buches nicht überschätzen. Es sei nicht die Blaupause für alles, was ab 1933 passiert sei. Und die NSDAP sei nicht wegen „Mein Kampf“ an die Macht gekommen. Hitlers eigentliche Stärke sei die öffentliche Rede, der mündliche Vortrag gewesen. Mit seinen Reden habe er die Leute für sich eingenommen. Dennoch ist Hitlers Buch mit mehr als 12 Millionen gedruckten Exemplaren (nicht gerechnet Übersetzungen) bis heute der meistverkaufte Titel deutscher Sprache. Nur die Bibel übertrifft die Auflage.
Mit dem Kriegsende und dem Zusammenbruch der NS-Diktatur verschwindet auch „Mein Kampf“ unter den Trümmern des „Tausendjährigen Reichs“. Hitlers Deutsche üben sich nun im notorischen Beschweigen oder verlieren sich in ihren Aussagen und Ausreden im gewohnten rhetorischen Schleier: Alle waren immer schon dagegen und wussten von nichts. Alle kannten das Buch, niemand aber will es wirklich gelesen haben. Aus einem Volk von Jublern ist ein Volk von Stummen geworden. Ein Volk steht vor einer politischen und moralischen Reinigungsprozedur durch die Siegermächte.
Für Verlage ist es nicht möglich, das Buch nachzudrucken. Die Alliierten übertragen die Urheber- und Verwertungsrechte des Buches auf das Land Bayern, da Hitler bis zu seinem Tod seinen offiziellen Wohnsitz in München hatte. In Großbritannien und den USA durfte das Buch weiterhin gedruckt werden, weil der Münchener Eher-Verlag – in dem „Mein Kampf“ ursprünglich erschien – in den 1930er Jahren die englischsprachigen Rechte verkauft hatte. Die bayerische Landesregierung versucht in den Folgejahren alles, um Neuauflagen von „Mein Kampf“ mit strafrechtlichen Mitteln zu verhindern – auch aus Respekt vor den Opfern des Nationalsozialismus. Für viele KZ-Überlebende ist der Gedanke unerträglich, dass das Buch wieder im deutschen Buchhandel erhältlich sein wird. Freilich: Wer das Buch unbedingt haben wollte, konnte es ohne viel Aufwand in Antiquariaten und auf Flohmärkten besorgen. Der Bundesgerichtshof hatte 1979 entschieden, dass der Besitz, Kauf und Verkauf antiquarischer Exemplare des Buchs in Deutschland nicht strafbar sind. Nur der Neudruck des Buches war nach dem Urheberrecht unzulässig.
Hitlers Hetzschrift wird entmythologisiert
Erst am 8. Januar 2016, unmittelbar nach dem Ablauf des Urheberrechts an Hitlers Werk am 31. Dezember 2015, erscheint eine Neuausgabe von „Mein Kampf“ – eine ganz besondere Ausgabe, eine „kritische Edition“, erstellt und herausgegeben von Historikern des Instituts für Zeitgeschichte in München. Die etwa 2.000 Seiten starke zweibändige Neuausgabe „ordnet die historischen Fakten ein, erklärt den Entstehungskontext, legt Hitlers gedankliche Vorläufer offen und kontrastiert seine Ideen und Behauptungen mit den Ergebnissen der modernen Forschung”, heißt es dazu im Vorwort.
Mit der Edition erfüllte das Institut eine doppelte Aufgabe: Zum einen machte es „Mein Kampf“ als unentbehrliche Quelle zur Geschichte Hitlers und des Nationalsozialismus erstmals in Form einer kritisch erschlossenen und kommentierten Gesamtausgabe der Öffentlichkeit zugänglich. Zum anderen galt es der Gefahr entgegenzutreten, dass Hitlers Machwerk unkommentiert und gemeinfrei vagabundierte. Wie der Rückblick zeigt, sind beide Ziele erreicht worden. Nicht nur die Wissenschaft verfügt nun über eine in der Tiefe erschlossene Ausgabe des Originaltexts, die der Hitler-Forschung ein unentbehrliches Arbeitsinstrument zur Hand gibt. Zugleich erwies sich die zuvor häufig geäußerte Befürchtung, Hitlers rassistische Hetzschrift könne aktuellen rechtsradikalen Tendenzen Auftrieb geben, als unbegründet. Die Erstellung des wissenschaftlich seriösen und öffentlich sichtbaren Referenzwerks, auf das sich von Beginn an die Aufmerksamkeit richtete, hat entsprechende Initiativen gar nicht erst aufkommen lassen. Wer sich nicht durch die seitenstarken gedruckten Exemplare wühlen möchte, für den gibt es seit Juli 2022 eine digitale Fassung kostenlos im Internet. Und es gibt ein Buch, das verständlich und faktenreich „die Karriere eines deutschen Buches“ beschreibt, das der Journalist und Sachbuchautor Sven Felix Kellerhoff verfasst hat. Ein Aufklärungsbuch im besten Sinne, das mit den bekannten Legenden und Mythen um Hitlers Machwerk aufräumt – und Hitler als Fälscher seiner eigenen Biografie entlarvt. Bereits 2015 erschienen, ist es ein Buch ohne Verfallsdatum.
Ob analog oder digital: beiden Büchern kommt das Verdienst zu, die Debatte um „die Bibel des Nationalsozialismus“ intensiviert und zugleich versachlicht zu haben – vor allem: Hitlers Werk entmythologisiert zu haben. In Zeiten, in denen sich Erinnerungskultur gegen leichtfertige, unwissende und beschämende Normalisierungen und Relativierungen der NS-Vergangenheit wehren muss, eine wichtige und erhellende Lektüre. Sie kann vor allem der jüngeren Generation vergegenwärtigen, dass es eine Verpflichtung gibt: sich zu erinnern!
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Lesetipps:
Institut für Zeitgeschichte München – Berlin
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition
Sven Felix Kellerhoff
„Mein Kampf“ – Die Karriere eines deutschen Buches
Verlag Klett-Cotta
HELMUT ORTNER hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien, veröffentlicht. Zuletzt erschienen: „Heimatkunde – Falsche Wahrheiten. Richtige Lügen“ (2024), „Das klerikale Kartell. Warum die Trennung von Kirche und Staat überfällig ist“ (2024) und „Volk im Wahn – Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit“ (2022). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.