Ökozid: Mit Macht kommt Verantwortung
In den meisten Fällen haben einzelne Menschen einen verschwindend kleinen Anteil an der Zerstörung der Umwelt. In manchen aber einen sehr großen. Völkerrechtlich verantworten müssen sich allerdings auch die größten Umweltsünder nicht. Ein neuer Tatbestand – der „Ökozid“ – soll das ändern. Illusion oder Notwendigkeit?
„Klimaschützer verklagen Bolsonaro beim Internationalen Strafgerichtshof“ las man im Oktober 2021. Das war die Art von Schlagzeile, die viel Aufmerksamkeit generiert, aber langfristig – ziemlich sicher – im Sand verläuft. Der Internationale Strafgerichtshof ist ausgelastet, mit dem russischen Angriff auf die Ukraine nochmal mehr als üblich. Gerade erst hat er einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen, diesem wird das Kriegsverbrechen vorgeworfen, (ukrainische) Kinder nach Russland verschleppt zu haben.
Das zeigt, dass der Internationale Strafgerichtshof und – allgemeiner – das Völkerstrafrecht typischerweise Menschen und (zivile) Gebäude schützt, nicht aber deren natürliche Umgebung. Davon gibt es nur eine Ausnahme: Unverhältnismäßige Angriffe, die großflächige, schwere und langfristige Schäden an der Umwelt herbeiführen, sind Kriegsverbrechen.
Das gilt allerdings ausschließlich während Kriegen und – wie die Umschreibung vermuten lässt – selbst dann nur in wenigen Fällen. Andere „Verbrechen gegen die Umwelt“, etwa – im Falle des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro – die exzessive Abholzung des Regenwalds, sind völkerrechtlich nicht strafbar. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) kennt keinen dahingehenden Tatbestand. Will man jemanden wie Bolsonaro anklagen, muss man das über Umwege tun: Dementsprechend warf ihm die österreichische NGO AllRise – die hinter der Anzeige steht – vor, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Schließlich geht es hier nicht „nur“ um den Amazonas, sondern auch um die unmittelbar betroffene Bevölkerung.
Ökozid, was ist das?
Nur: Bei „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geht es um vorsätzlich begangene „ausgedehnte oder systematische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung“. Dieses Kriterium ist in vielen Fällen extremer Umweltverschmutzung schlichtweg nicht erfüllt.
Daher rührt die Forderung, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs um einen eigenen völkerrechtlichen Tatbestand zu erweitern, der schwerwiegende Verbrechen gegen die Umwelt unter Strafe stellt – den „Ökozid“. Es geht dabei – so viel sei präventiv festgehalten, falls jemandem ein argumentum ad absurdum in den Sinn kommt – also nicht um den Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, der nicht alle Umweltvorschriften eingehalten hat. Vielmehr sollen „große Fische“, also z.B. Präsidenten, Regierungsmitglieder oder Konzernchefs, zur Verantwortung gezogen werden können. Macht korrumpiert, und viel Macht korrumpiert umso mehr, wie schon Lord Acton festgestellt hat.
Das klingt so illusorisch, wie es ist. Die tatsächliche Einführung eines solchen Tatbestands ist ferne, sehr ferne Zukunftsmusik. Noch ist die dahingehende Initiative privater Natur, dahinter steht „Stop Ecocide International“ mit Sitz im Vereinigten Königreich.
Das könnte sich freilich ändern. So arbeiten derzeit über 115 Länder daran, beim Internationalen Gerichtshof (das zentrale Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen) ein Rechtsgutachten zu den völkerrechtlichen Aspekten des Klimawandels zu beantragen – darunter vor allem Staaten, die vom Klimawandel am stärksten betroffen sind. Gut möglich, dass eines von ihnen früher oder später auch beim Internationalen Strafgerichtshof aktiv wird, um eine Novellierung seines Statuts anzustoßen.
Außerdem hat der Vorschlag des Straftatbestands „Ökozid“ durchaus rechtliche Vorläufer: Es gibt in zahlreichen Ländern eigene Gerichte, die sich auf Umweltfragen spezialisieren, in den letzten 50 Jahren hat sich das Umweltvölkerrecht als eigenes Teilgebiet emanzipiert, in manchen Rechtsordnungen haben einzelne natürliche Ressourcen wie Flüsse eine Quasi-Rechtspersönlichkeit, um Klagen in ihrem Namen zu ermöglichen. Umweltkriminalität ist einer der zehn Schwerpunkte des EU-weiten Vorgehens gegen organisiertes Verbrechen, dazu kommen innerstaatliche Straftatbestände zum Schutz der Umwelt, in Österreich §§ 180 und 181 StGB. Der „Ökozid“ wäre damit ein großer Schritt, aber beileibe nicht der erste.
Gedämpfte Erwartungen
Ein Wundermittel wäre er freilich nicht – aber das glaubt auch niemand. So wie es trotz § 75 des österreichischen Strafgesetzbuchs Morde gibt, würde es auch bei Einführung eines „Ökozid“-Straftatbestands weiter massive Umweltverbrechen geben, die von höchster staatlicher Stelle angeordnet oder geduldet werden. Dass etwas verboten ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch verschwindet.
Aber das Strafrecht hat auch eine andere Funktion, es ist schließlich eine institutionalisierte Form der „Missbilligung unerwünschten Verhaltens“, wie der deutsche Kriminologe Sebastian Scheerer sagt. Das Strafrecht soll also nicht (nur) Untaten verhindern beziehungsweise elementare Rechtsgüter schützen, sondern auch gesellschaftliche Wertvorstellungen abbilden.
Das ist der Knackpunkt. Der „Ökozid“-Straftatbestand ist weniger Utopie als lapidarer Ausdruck des Konsens, dass Macht und Verantwortung auch beim Umweltschutz Hand in Hand gehen. Anders ausgedrückt: Wer genug Macht hat, die Umwelt massiv zu schädigen oder derartige Handlungen zumindest zuzulassen, soll sich dafür verantworten müssen – wenn schon nicht faktisch, dann zumindest symbolisch. Das mag oft nicht viel sein. Aber immer noch mehr als das völkerstrafrechtliche Nichts des Status quo.
RALPH JANIK ist Universitätslektor mit Schwerpunkt Völkerrecht, Menschenrechte und Recht des Welthandels. Auf seiner Website beschreibt er sich als „ewig strebend bemüht, die Brücke zwischen Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit zu schlagen“. 2023 erschien sein Buch „Umwelt und Strafe“ (mit einem Vorwort von Philippe Sands) bei Edition Konturen.