Policy Slam: Geisel
Dieser Beitrag entstand für den „Sagt sonst keiner!“ Policy Slam, der anlässlich 10 Jahre NEOS im Parlament in der Wiener Urania veranstaltet wurde. In einem freundschaftlich-abwechslungsreichen Redewettbewerb traten drei (Ex-)Abgeordnete gegen drei Slammer:innen aus der Szene an.
Geisel
eine buchstabensuppe
aß ich neulich
und bin fast daran erstickt
war es ein text, der
von der brühe zensuriert wurde
und sich angeschickt
hatte im hals stecken zu bleiben
oder war sie zu stark eingedickt?
jedenfalls hab ich dann
ein paar lettern
rausgepickt
und auf einen zettel
aufgeklebt
randomisiert
ganz random
eine ransom note
kam da heraus
oh my goth
es wurde ein erpresserschreiben
unbefleckt empfangen
ohne erbschaft
ohne sünde
erbschaftsündensteuerfrei
ohne gebühren
ohne information
ohne service
auch ohne grund
bedingungsloses
kommen
und noch benommen
hab ich es
sowohl bedingungslos
als auch grundlos akzeptiert
wie angekommen
und hab damit die meinung
an sich ohne es zu wollen
als geisel eingenommen
naturgemäß aus meiner sicht
zu ihrem schutz
sie lief gefahr sich anzupassen
anzuschmiegen an das mittelmaß
dem durchschnitt wollte sie gefällig sein
feilte alle schroffheit glatt
zum rundum
konformen
feigheitsblatt
im feuilleton der heutigen „la lâcheté“
setzte sie an
zu einem engagement
das keines war
aber von applaus begleitet wurde
bis in den himmel
wie zwangskreative bluesky zu nennen pflegen
weil ihnen auch sonst nichts einfällt
außer den öffentlichen rundfunk
zu beklatschen
(aber das ist ein anderer alm-psalm)
„hey meinung“, sagte ich
(ohne vorwarnung)
„weißt du was?“
„konformität
ist auch nur ein anderes wort für
faschismus der freiwilligkeit“
das triggerte sie
wir sprachen weiter und
bald schon
entwickelte die meinung
ein stockholm syndron
syndrom
bei den neuen puritanerinnen
lernte sie:
zuerst kommt die identität
und dann die moral
jetzt war sie nicht mehr so sicher
die schere in ihrem
kopf ging immer weiter auf
bis die blätter
180 grad im spagat
völlig im geraden grat
zu einer klinge wurden
die ockhams rasiermesser
noch die schneid abkaufte
die meinung hatte sich selbst befreit
und verlangte nach einer warmen mahlzeit
in diesem sinn
„sehr geehrter herr präsident
geschätzte kolleginnen und kollegen
liebes publikum auf fs3
einen hamburger bitte“
plant based
oder medium rare?
nebensächlich
non-binär
zugezogen feminin
bipolar maskulin
es ist eigentlich egal
hauptsache
liberal
NIKO ALM war Herausgeber von Vice, Gründer der Agenturgruppe Super-Fi und zuletzt Geschäftsführer der investigativen Rechercheplattform Addendum. Aktuell ist Alm mit Average unternehmerisch tätig. Von 2013 bis 2017 war er für NEOS Abgeordneter zum Nationalrat mit den Schwerpunkten Medien, Wirtschaft, Weltraum und Kultur. Darüber hinaus engagiert sich Niko Alm in mehreren Initiativen für Laizität. 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“.