Rettet die Wahlannullierung Rumäniens Demokratie?
Das rumänische Superwahljahr 2024 ist vorüber. Doch aufgrund einer Entscheidung der Verfassungsrichter wird es eine Verlängerung geben, die das Land noch zumindest bis weit in das Jahr 2025 hinein beschäftigen wird. Stefan Bichler, NEOS-Representative in Rumänien, berichtet über massive Wahlkampfbeeinflussung auf TikTok, eine zwischen Rechtsstaat und Machterhalt lavierende Sozialdemokratie und eine prowestliche Gesellschaft in Schockstarre.
Wenn es die Grundidee der Großen Koalition aus PSD und PNL war, die sechs rumänischen Wahlgänge in diesem Jahr auf mehr oder weniger zwei Termine zu komprimieren, um ebendieser Koalition einer Absicherung ihrer Position für die kommenden Jahre zu verschaffen, dann ist die Strategie vor allem bei den Herbstwahlen gründlich gescheitert. Beiden Parteien erlebten Desaster. Nutznießer sind die Ultrarechten, deren Kandidat Călin Georgescu mit fast 23 Prozent der Stimmen den ersten Platz erreichte. Es ist nichts Neues, dass in Rumänien ein signifikanter Anteil insbesondere der ländlichen Bevölkerung in seiner Elitenkritik auch ultrarechte Positionen von Protestparteien zumindest billigend in Kauf nimmt. Schon früher haben solche Parteien mitunter über 10 Prozent erreicht. Bei der Präsidentschaftsstichwahl im Jahr 2000 kam Corneliu Vadim Tudor (Großrumänienpartei – PRM) sogar auf 33,17 Prozent. Die personelle und zum Teil inhaltliche Nähe der rumänischen Sozialdemokratie zu den Ultrarechten war auch damals bereits auffallend: Von 1992 bis 1996 wurde das Land von einer PSD-PRM-Koalition regiert.
Die Kandidaten der Regierungsparteien (Marcel Ciolacu 19,5 Prozent und Nicolae Ciucă 8,8 Prozent) haben im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen jeweils das schlechteste Resultat in ihrer Parteiengeschichte erzielt. Die „Geheimwaffe“ von PNL und vor allem PSD war bisher meist der Umstand, dass sie jeweils über eine enorme Anzahl von Bürgermeistern im Land verfügen können (PSD knapp 2.000, PNL über 1.000). Über diese kommunale Macht war es in den vergangenen Jahren vor allem in den ländlichen Regionen möglich, direkten Einfluss auf das Wahlverhalten bzw. die Wahlen auszuüben. Insbesondere gegenüber der PSD standen mehrfach Manipulationsvorwürfe im Raum, die sich zum Teil auch bestätigt haben. Dieses Machterhaltungstool hat bei den Wahlen am 24. November jedoch versagt. Viele Bürgermeister haben die Bukarester Anordnungen offensichtlich ignoriert. Dazu kommt erschwerend, dass PSD-Akteure vereinzelt versucht haben, durch zusätzliche Unterstützung eines ultrarechten Kandidaten den Einzug der liberalen Mittepolitikerin Elena Lasconi von der Partei USR in die Stichwahl zu erschweren, um dem eigenen Kandidaten Ciolacu einen Vorteil zu verschaffen. Der Plan dürfte zwar eher gewesen sein, George Simion (AUR) zu unterstützen, doch der bisher praktisch unbekannte weit rechts stehende Verschwörungstheoretiker Georgescu hat davon profitiert.
Noch mehr als die sich selbst übertölpelnde PSD hat Georgescu aber allem Anschein nach eine massive Unterstützung aus Russland und China geholfen. In einem kaum vorstellbaren Ausmaß wurde er vor allem auf TikTok gepusht, unter anderem durch rund 800 Accounts, die schon 2016 eingerichtet worden sein sollen, als TikTok in Europa noch gar nicht zugänglich war. Die Finanzierung dieser gigantischen Kampagne ist unklar. Spuren führen aber zu abenteuerlichen Firmenkonstrukten im Ausland sowie zur rumänischen Halbwelt. Dies geht aus Geheimdienstprotokollen hervor, die von der Präsidentschaftskanzlei veröffentlicht wurden und die schließlich zur Annullierung des ersten Wahlgangs geführt haben. Dieser Beschluss des Verfassungsgerichts wurde getroffen, nachdem zuvor eine gesamte Neuauszählung der Stimmen beschlossen und das Resultat zuerst bestätigt worden war.
Das Annullierungsurteil des rumänischen Verfassungsgerichts hat in Westeuropa viel Begeisterung ausgelöst. Ist es aber angebracht, die Richter wie Helden einer wehrhaften Demokratie zu verehren? Drei Umstände werden beim Applaus für die neun Juristen vergessen:
- Die rumänische Sozialdemokratie (PSD) befindet sich seit drei Wochen in der wohl tiefsten Krise seit ihrer Existenz. Bis zum Urteil der Verfassungsrichter hatte es den Anschein, die PSD könnte durch diesen Schock entweder vor ihrem Ende oder vielleicht vor einer grundlegenden Neuerfindung stehen. Das Ende der PSD wurde nun durch die Verfassungsrichter auf ein unbestimmtes Datum verschoben, und für eine Neuerfindung fehlt wie eh und je die Motivation.
- Die künstliche Kluft, die sich durch Rumäniens Gesellschaft zieht, wurde durch das Verfassungsgericht massiv verschärft. Wenn es etwas gibt, was die Millionen Wähler von Georgescu und jene von Lasconi eint, dann ist es ihre enorme Unzufriedenheit mit der politischen Elite. Diese wiederum wird seit 35 Jahren von der PSD dargestellt wie von kaum irgendeiner anderen Bewegung. Es ist nur verständlich, dass es Wut hervorruft, wenn nun kurz vor dem Erreichen des ersehnten Ziels, die PSD zu bezwingen, ausgerechnet ein Verfassungsgericht, in dem die Mehrheit der Mitglieder PSD-Angehörige sind oder dieser Partei nahestehen, die Wahlen annulliert.
- Staatspräsident Klaus Johannis wird von vielen als entscheidender Faktor dieser PSD-Rettungsaktion gesehen: Hätte er die auf die Präsidentschaftswahlen bezogenen Teile der Geheimdienstprotokolle nicht veröffentlicht, hätte auch das Verfassungsgericht nicht so entscheiden können. Auch Chronologie der Abläufe war wichtig: Durch die Neuauszählung der Stimmen nach dem ersten Wahlgang wurden Lasconi und die USR als mögliche Profiteure von Auszählungsfehlern in eine dubiose Ecke gerückt und für die Parlamentswahlen beschädigt. Nach den von der PSD gewonnen Parlamentswahlen wurde schließlich die Präsidentschaftswahl annulliert, nicht aber die Parlamentswahl, denn dafür fehlten mangels einer Veröffentlichung durch den Präsidenten die Motive.
Das Dilemma mit der rumänischen Sozialdemokratie
Warum ist eine Zusammenarbeit für die Liberalen von der USR und die PSD aber auch inhaltlich viel schwieriger als anderswo? Nicht alle, aber weiteste Teile des sozialdemokratischen Elektorats stehen dem esoterischen ultrarechten Kandidaten Georgescu oder dem Anführer der Parlamentspartei AUR (auch wenn es für mittel- und westeuropäische Linke schwer zu glauben ist) deutlich näher als der zentristischen, bodenständigen Liberalen Elena Lasconi. Nicht nur die Chapel-Hill-Analysen, sondern auch einfache, regelmäßige Beobachtungen weisen die PSD konstant als Außenseiter unter Europas Sozialdemokraten aus. Wer sich etwa progressive Kultur- oder Gesellschaftspolitik erwartet, wird bitter enttäuscht sein, denn es überwiegt eher das Gegenteil: Kirchennähe und konservative Standpunkte prägen das Bild. Zur Befürwortung einer EU-Mitgliedschaft hat sich die Partei erst in den späten 1990er Jahren und frühen 2000ern mehrheitlich durchgerungen. Seither gab es unter der Leitung des wegen Amtsmissbrauchs vorbestraften Liviu Dragnea sogar noch den (letztlich gescheiterten) Versuch, die Partei EU-feindlich auszurichten. Wirklich klassisch sozialdemokratische Vorschläge findet man dort fast nur in der Fiskalpolitik. In Fragen der Rechtsstaatsreform gilt die PSD als veritable Gefahr. Zweitweise ist das Schützen ihrer korruptionsverdächtigen Mitglieder vor Strafverfolgung eine ihrer zentralen politischen Motivationen. Sowohl die Gründe, PSD-Mitglied zu sein, als auch der Wählerzuspruch der Partei resultieren daher in den meisten Fällen nicht etwa aus ideologischer Überzeugung, sondern aus materieller bzw. persönlicher Abhängigkeit oder zumindest Netzwerk-Ergebenheit. Auf eine Verbundenheit zwischen Sozialdemokraten und Liberalen in humanistischer Eintracht zu hoffen, wäre daher sehr naiv.
Die Gegnerschaft zur PSD und die strikte Ablehnung ihrer latent rechtsstaatsgefährdenden Politik ist übrigens ein zentraler Teil der Gründungsumstände von Lasconis Partei USR gewesen und weiterhin ein wichtiges Markenzeichen. Jedwede Koalition mit der PSD galt bisher als No-Go. Durch die Ereignisse der der vergangenen beiden Wochen wird aber genau das von manchen erwartet: ein proeuropäisches Mehrparteienkabinett, in dem USR- neben PSD-Ministern sitzen, höchstwahrscheinlich unter einem PSD-Premier. Die Skepsis ist vorprogrammiert, und die angesagte Zweckkooperation zur Rettung von Rumäniens prowestlicher Ausrichtung könnte Verluste einiger bisheriger Stammwähler bringen.
Viele ausländische Beobachter haben über die entsetzte Reaktion Lasconis nach der Entscheidung der Verfassungsrichter gestaunt. Muss nicht die prowestliche, liberale Ausrichtung des Staates über jeder Art von Parteipolitik stehen? Sollte man also nicht glücklich und erfreut über diesen Beschluss und den nun zu erwartenden Ausschluss Georgescus von den Wahlen sein? Adrian Echert, Mitglied der nationalen USR-Parteileitung, erklärt die unmittelbare und sehr scharfe Reaktion der USR auf die Entscheidung der Verfassungsrichter im Gespräch mit Materie so:
„Die massiven Manipulationen des Wahlkampfs sind selbstverständlich eine Bedrohung, der entschieden entgegengetreten werden muss, von Rumänien wie auch von unseren Partnern in der EU und in der NATO. Als Reformpartei sehen wir als USR jedoch auch sehr viele Versäumnisse im eigenen Land. Es ist erwiesen, dass die Informationen der Geheimdienste schon früher vorlagen. Warum wurden sie so spät bekannt gegeben und dadurch die Wahl zu einem Zeitpunkt abgebrochen, als die Menschen in der Diaspora sogar schon zu wählen begonnen hatten? Darauf verlangen wir – unabhängig von den anderen schwerwiegenden Sorgen – umgehend Antworten.“
Adrian Echert (USR)
Wie könnte es weitergehen?
Mit einer Neuaustragung der Präsidentschaftswahlen ist voraussichtlich erst im Frühjahr zu rechnen. Bis dahin bleibt auf der Grundlage der Rechtsauslegung des Verfassungsgerichts der alte Staatspräsident im Amt.
Erste rechtliche und politische Schritte zur Aufarbeitung des Geschehenen haben begonnen: Die rumänischen Behörden konnten am 8. Dezember Mitglieder einer Söldnertruppe vorübergehend verhaften, die auf dem Weg nach Bukarest waren. Diese Leute hatten Waffen, Namenslisten von Journalisten und Politikern sowie hohe Mengen an Bargeld in unterschiedlichen Währungen dabei. Rechercheplattformen konnten eine direkte Verbindung zu Georgescu, aber auch zu Teilen der PSD belegen. Einzelne Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft fordern auch ein Köpferollen bei der Zentralen Wahlbehörde, die diese Kandidaturen trotz verschiedener Einsprüche zugelassen hat. In der politisch wieder stark gewordenen PSD bereitet man sich auf eine Regierungszusammenarbeit mit den proeuropäischen Parteien vor. Hinter den Kulissen laufen aber auch Vorbereitungen auf eine allfällige Koalition mit den Ultrarechten.
Derzeit zeichnen sich in den öffentlichen Debatten zwei Varianten einer Regierungsmehrheit ab: Eine breite Koalition aller proeuropäischen Kräfte (PSD, PNL, USR, UDMR mit oder ohne der technischen Fraktion der ethnischen Minderheiten) war insbesondere während der Tage vor der Wahlannullierung eine realistische Variante. In dieser Konstellation wurde nun auch am 10. Dezember beschlossen, über eine Koalition zu verhandeln. Seit klar ist, dass die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2025 neu ausgetragen werden wird, scheint eine Koalition aus PSD, PNL, UDMR und Minderheiten ohne USR aber durchaus wahrscheinlicher. In wirtschafts- und fiskalpolitischer Hinsicht haben PSD, PNL und UDMR miteinander nämlich deutlich mehr Schnittmengen als mit der USR.
Die parlamentarisch vertretenen Parteien
Unabhängig davon, wie sich die Entwicklungen in den kommenden Wochen gestalten werden, bleibt die rumänische politische Auseinandersetzung, die von außen betrachtet ein Zweikampf zwischen „Proeuropäern“ und „Prorussen“ ist, in Wirklichkeit ein Dreikampf zwischen proeuropäischen Reformkräften, verschwörungstheroetischen Putinisten und alten korrupten Netzwerken. Letztere sind zwar nicht prorussisch, aber radikale Gegner jedweder Reformen in Richtung Transparenz und Stärkung des Rechtsstaats. Daher bleibt die politische Lage vorerst angespannt.
STEFAN BICHLER (Jg. 1977) stammt aus Niederösterreich und lebt seit mehr als 25 Jahren in Sibiu (Hermannstadt), Rumänien. Er ist Veranstalter von Bildungsevents zu politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Themen und NEOS-Representative für Rumänien.