Schweiz: Die Wahl, die nicht polarisiert
In der ruhigen Ecke Europas bereitet sich ein Land auf seine stille Veränderung vor. Am 22. Oktober 2023 wählt die Schweiz ein neues Parlament: den Nationalrat und den Ständerat. Während der europäische Kontinent diese Woche gebannt auf die Wahlen in Polen schaute, könnten die eidgenössischen Wahlen leicht übersehen werden, sogar von ihren Nachbarn.
Ja, eigentlich sogar auch in der Schweiz selbst, zeichnen sich die Schweizer Wahlen doch auch durch eine im europäischen Vergleich auffallend niedrige Wahlbeteiligung aus. Diese lag in den letzten 20 Jahren stets nur zwischen 45 und 49 Prozent. Im Vergleich dazu zieht es in Österreich mit 75 bis 84 Prozent deutlich mehr Menschen in die Wahllokale.
Und während viele europäische Nationen, und Österreich ganz besonders oft, politische Erdbeben erleben, scheint die Schweiz auf dem seismographischen Radar der Politik fast unsichtbar. Die Wahlergebnisse unterscheiden sich von Jahr zu Jahr kaum. Schweizer Werte wie Verlässlichkeit und Beständigkeit finden sich auch in den Wahlergebnissen wieder.
Doch wer die Schweiz kennt, weiß, dass dies kein Mangel an politischer Leidenschaft ist. Was also hält die Hälfte der Schweizer:innen davon ab, ihre Stimme abzugeben? Und warum bleibt die andere Hälfte so konsistent in ihrer Wahl? Das Geheimnis liegt in der einzigartigen Form der Schweizer Demokratie.
Der Ausgang der Wahlen in der Schweiz ist nicht maßgeblich für die Zusammensetzung der Regierung
Ja, Sie haben richtig gelesen. Die Schweizer Regierung, der Bundesrat (nicht zu verwechseln mit der österreichischen Länderkammer), wird nicht nach jeder Wahl wild neu zusammengewürfelt, wie es in Österreich der Fall ist. Die Schweiz setzt langfristig auf eine siebenköpfige Konsensregierung, wie es sie sonst nirgendwo gibt.
Die Zusammensetzung beruht auf einem politischen Konsens, der nur nach langanhaltenden politischen Veränderungen angepasst wird. Seit 1959 gilt die sogenannte Zauberformel: Die drei stärksten Parteien stellen je zwei Bundesrät:innen, und die viertstärkste Partei stellt einen. In der politisch stabilen Schweiz hieß das bis in die 1990er Jahre: 2 FDP, 2 CVP, 2 SP, 1 SVP. Als 2003 der anhaltende Erfolg der SVP, die inzwischen zur stärksten Partei aufgestiegen war, nicht länger zu ignorieren war, wanderte ein Sitz von der CVP zur SVP. Mit den zu erwartenden Verlusten der Grünen am Sonntag, wird auch die 2019 aufgekommene Debatte über einen möglichen grünen Bundesratssitz wieder verstummen. Skeptiker:innen sehen sich bestätigt, dass ein isolierter Erfolg nicht über die Zusammensetzung des Bundesrates entscheiden sollte.
Mit der beständigen Schweizer Konsensregierung entfällt also, was in Ländern wie Österreich eine wesentliche Motivation sein kann, zu Wahlen zu gehen: die bestehende Regierung abzuwählen. Wesentlich wichtiger, als die Eliten auszutauschen, ist in der Schweizer Demokratie die direkte Beteiligung der Bevölkerung an der Gesetzgebung. Diese liefert auch eine zweite Erklärung, warum die Wahlbeteiligung in der Schweiz so niedrig ist.
Wer direkt mitbestimmen kann, den kümmert das Parlament weniger
So direkt wie in der Schweiz können Bürger:innen in keinem anderen Land über Gesetze mitentscheiden. Wenn 50.000 Schweizer Bürger:innen mit einem Gesetzesbeschluss des Parlaments unzufrieden sind, können sie eine Volksabstimmung verlangen. 2023 fanden zwei solcher fakultativen Referenden statt: über ein Klimagesetz und über die Verlängerung des Covid-Gesetzes. In beiden Fällen bestätigte das Schweizer Volk aber den Entscheid von Bundesrat und Parlament.
Anders als in Österreich sind also die Parlamentswahlen in der Schweiz nicht der einzige Weg, sich nachhaltig am politischen Prozess zu beteiligen. Bei vielen, gerade auch kontroversen Themen, gibt es die Möglichkeit, als Bürger:in direkt die eigene Meinung kundzutun. Das Parlament und die Wahlen sind dadurch etwas weniger stark im Fokus, was sich auf die Beteiligung auswirkt.
So stehen auch die eidgenössischen Wahlen 2023 am Sonntag nicht für eine Revolution, sondern für die Bestätigung einer bewährten politischen Kultur. In einem Europa, das sich ständig wandelt, bleibt die Schweiz ein Anker der politischen Beständigkeit. Das bescheidene aus- wie inländische Interesse an den Wahlen ist Ausdruck eines politischen Systems, das in seiner Stabilität und direkter Bürger:innenbeteiligung seinesgleichen sucht.
CHRISTIAN BITSCHNAU war Büroleiter der EU-Abgeordneten Claudia Gamon und arbeitet heute an der Schnittstelle von Industrie und Politik in der Schweiz. Er studierte Politik und Philosophie am University College London und an der Sciences Po Paris.