Telegram und Todesgefahr: Der Alltag von Kriegsreportern in der Ukraine
Kriegsreporter in der Ukraine müssen nicht nur durch die Gefahren des Kriegs navigieren, sondern sich auch durch das Dickicht digitaler Kommunikationskanäle kämpfen, um ihre Arbeit zu erledigen. Der Gegensatz zwischen der Gefahr an der Front und dem scheinbar normalen Leben im Hinterland prägt ihren Alltag – und birgt große Risiken.
„In der Stadt der Minenarbeiter ist Kriegserfahrung lebensrettend: Schießt die ukrainische Artillerie, dann hört man einen lauten Knall, geht eine russische Granate in Wuhledar nieder, dann tut sie das mit einem dumpfen Wumms, manchmal hört man vorher ein sirrendes Pfeifen. Je lauter das Pfeifen, desto näher saust die Granate vorbei. Dann gibt es noch diese Explosionsserien: weniger dumpf, dafür mehrere Einschläge kurz hintereinander. Die stammen von Mehrfachraketenwerfern, des Typs Grad – eine gefürchtete Waffe, denn „Grad“ heißt Hagel, es wird meist ein größeres Gebiet zerstört als mit Artillerie. Maschinengewehrfeuer macht einen zwar nervös, ist aber weniger schlimm, denn es stammt von den ukrainischen Verteidigern der Stadt, die aus der Stadt heraus und nicht in sie hineinschießen. Wenn sie ihre kurzen Feuerstöße abfeuern – taktaktak, taktaktak, taktaktak –, dann bedeutet das, dass irgendwo ein ukrainischer MG-Schütze sein Feuer auf russische Soldaten hält. Die Reichweite dieser Maschinengewehre liegt bei maximal 1.200 Metern. Weit weg können die Stellungen der russischen Infanterie nicht sein.“
Dies war mein Bericht aus Wuhledar, einer Stadt, die ich im vergangenen Jahr besuchte, als sie unter schwerem Beschuss stand.
Aber wie ist es, wenn man die rote Zone, das Gebiet nahe der Front, verlässt, und wie ist es, wenn man wieder im (scheinbar) sicheren Hotel zurück ist, wenn es darum geht, die nächste Geschichte zu planen und vorzubereiten?
„Die Ukraine wurde als TikTok-Krieg bezeichnet, wegen der Art und Weise, wie ihre Bilder in den sozialen Medien geteilt wurden. Für Journalisten freilich dreht sich alles um WhatsApp, Signal und Telegram“, schreibt Joel Simon in der Columbia Journalism Review.
Tatsächlich bevölkern Journalisten, Fahrer, Feldproduzenten, Sprecher der ukrainischen Regierung und NGO-Mitarbeiter verschiedene Telegram-Kanäle, in denen Journalistinnen Übersetzerinnen oder Producer suchen, oder Fahrer ihre Dienste anbieten. In den Telegram-Gruppen werden Fragen gestellt, wie man am besten von A nach B kommt, wo man eine schusssichere Weste oder ein IFAK (Individual First Aid Kit) mieten kann, oder um herauszufinden, welches Hotel in welcher Frontstadt oder Region am beliebtesten – was in der Ukraine heute bedeutet: am sichersten – ist. Es gibt spezielle Kanäle für jede größere Stadt oder Region: für Charkiw, Odessa, Kiew und Lwiw. Reporter stehen über WhatsApp und Signal mit ihren Redakteuren in Kontakt; sie posten auf X (ehemals bekannt als Twitter), TikTok, Threads und Instagram, auf Bluesky, Youtube und Facebook. Ständig sind sie im Internet unterwegs.
Der Kern der Kriegsberichterstattung bleibt aber, vor Ort zu sein, zu beobachten und Betroffenen Fragen zu stellen. Es geht darum, die Geschichten zu finden und diese dann zu berichten. Diese Arbeit wird in der düsteren analogen Kriegsrealität geleistet und nicht im digitalen Raum.
Michael Seifert beim Gespräch mit einem Soldaten in der Ukraine
Trügerische Normalität und das Gefühl von Surrealismus
Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 haben mehr als ein Dutzend Journalisten ihr Leben verloren. Die russische Armee und Luftwaffe greift regelmäßig zivile Objekte an. Journalistinnen, die in der Ukraine arbeiten, sind rund um die Uhr und jeden Tag in Gefahr – selbst wenn sie sich weit von der Frontlinie entfernt aufhalten: Am 27. Juni 2023 wurde etwa Viktoriia Yuriivna Amelina bei einem russischen Iskander-Raketenangriff auf Kramatorsk tödlich verwundet, als sie in dem beliebten Restaurant RIA Pizza zu Abend aß. Sie starb am 1. Juli 2023 im Mechnikow-Krankenhaus in Dnipro im Alter von 37 Jahren und wurde in Lwiw beigesetzt. Der kolumbianische Romanautor, Essayist, Journalist und Herausgeber Héctor Abad Faciolince, der kolumbianische Friedensvermittler Sergio Jaramillo und das kolumbianische Parlamentsmitglied, Schriftstellerin und Journalistin Catalina Gómez wurden bei demselben Angriff verletzt, der elf Menschen, darunter vier Kinder, tötete.
Der britische Guardian meldete damals: „Der ukrainische Katastrophenschutzdienst teilte mit, dass mindestens 56 Menschen verletzt wurden, einige von ihnen schwer, als am Dienstagabend zwei Iskander-Raketen in das Café im Stadtzentrum einschlugen, als es voller Gäste war. Das Restaurant ist bei Zivilisten und internationalen Journalisten beliebt.“
Michael Slackman, der die Büros der New York Times weltweit dirigiert, wird in einem Artikel in der Columbia Journalism Review zitiert: „Was den Ukraine-Konflikt für Journalisten so dramatisch gefährlich macht, ist, dass sie sich unter die Zivilbevölkerung mischen, die von den russischen Streitkräften bombardiert wird. Sie arbeiten und leben jeden Tag mit den Menschen, die ins Visier genommen werden.“
Der „Transitraum“ von der Front-Zone, aus denen die Journalisten berichten, ins Hinterland, wo sie während ihrer Arbeit in der Ukraine stationiert sind, kann eine desorientierende Erfahrung sein. Denn das „Normale“ kann ziemlich surreal erscheinen, wenn man gerade aus einer Realität zurückgekehrt ist, die alles andere als normal ist.
Dazu kommt: Es gibt keine Sicherheit. Nirgends.
Nicht in der Pizzeria RIA in Kramatorsk, oder der OKKO-Tankstelle auf dem Weg zur Front: Die OKKO-Tankstellen führen Red Bull und Mars-Riegel, es gibt Caffè Latte, Coke Zero und Hotdogs – nur wenige Kilometer von den Gefechten entfernt.
Oder der gut sortierte Supermarkt in Charkiw im Mai 2022: Während im Nordosten der Stadt Artilleriefeuer zu hören ist, hat der „Class“-Supermarkt in der Nähe der Metrostation 23. Serpnya (der 23. August 1943 ist der Tag der Befreiung von Charkiw von der Wehrmacht) alles, was das Herz begehrt: Nutella, Pasta, Fleisch, Milchprodukte, Käse, Orangen und sogar Kiwi. Wie die frischen Produkte diesen Supermarkt erreichen, nur wenige Wochen nachdem der russische Angriff auf die Stadt abgewehrt wurde, bleibt jedermanns Rätsel. Ein ukrainischer „Class“-Supermarkt sieht nicht viel anders aus als jeder große Supermarkt in Österreich, während die sehr aktive Frontlinie zu dieser Zeit weniger als 15 Kilometer entfernt war.
Kriegsberichterstattung wurde durch Technologie revolutioniert
Die Kriegsberichterstattung wurde durch Technologie ständig revolutioniert, von den ersten Fotos des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs 1847 bis zur ersten Schlacht, die 1897 gefilmt wurde (die Schlacht von Volo in Thessalien, Griechenland im April 1897), den ersten Farbfotos im Ersten Weltkrieg und den Radioberichten und Wochenschauen aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch während die Kameratechnologie schon weiterentwickelt war, dauerte es eine Weile, bis auch die Bildübertragungstechnologie verfügbar wurde.
Als Reporter in den 1960er und 1970er Jahren über die vorderste Linie der Kämpfe in Vietnam berichteten, übergaben sie ihre Notizen und 35mm-Filmrollen häufig an US-Army-Hubschrauberbesatzungen, die das Material dann nach Saigon brachten. Doch mit der zunehmenden Verfügbarkeit digitaler Kameras ab 1999 und Satellitenkommunikation etwa zur gleichen Zeit konnten (Foto-)Journalistinnen von jedem Punkt der Erde in Kontakt mit ihren Redakteuren bleiben.
Seither hat sich die Kommunikationstechnologie weiter revolutioniert.
In der Ukraine können Mobiltelefone an den meisten Orten ein gutes Signal empfangen, außer in vordersten Frontbereichen, wo die Übertragungsstationen sehr oft ohne Strom, zerstört oder zumindest beschädigt sind. Dennoch, abgesehen von solchen „heißen“ Bereichen, in denen Starlink oder andere Satellitenkommunikation benötigt wird, senden Journalisten ihre Berichte über Mobilfunknetze oder über überraschend schnelle Glasfaser-Internetleitungen.
„Die Streitkräfte der Ukraine sind nicht verantwortlich für Ihr Leben“
Aber während die Technologie es einfacher macht, spannende und packende Geschichten zu erzählen, müssen Reporter in der Ukraine auch langweiligen bürokratischen Kram erledigen: Journalisten benötigen eine militärische Akkreditierung, um in den „heißen“ Zonen der Ukraine arbeiten zu können – wobei der Akkreditierungs-Prozess recht unkompliziert läuft. Es werden die üblichen Informationen benötigt: eine Passkopie, ein Akkreditierungsschreiben und Arbeitsproben. Man kann davon ausgehen, dass die ukrainischen Behörden eine Anfrage an die jeweiligen Botschaften des Herkunftslandes des Journalisten stellen, der die Akkreditierung beantragt, um mehr über die Person zu erfahren und zu überprüfen, ob die Person als Journalist bekannt ist.
Der Text auf dem Presseausweis, der von der ukrainischen Armee ausgestellt wird, lautet:
„Der Presseausweis ermöglicht die Durchführung redaktioneller Aufgaben in der Kampfzone und während der Ausgangssperre. Bei Verstoß gegen die Bedingungen, Weitergabe vertraulicher Informationen (Verletzung der operationalen Sicherheit) oder Weitergabe des Ausweises an andere Personen kann Ihnen die Akkreditierung ohne das Recht auf Erneuerung entzogen werden. Die Streitkräfte der Ukraine sind nicht verantwortlich für Ihr Leben und Ihre Gesundheit, während Sie sich in der Kampfzone befinden.“
THOMAS SEIFERT ist ehemaliger stellvertretender Chefredakteur der Wiener Zeitung. Er berichtet seit 2014 über den Krieg in der Ukraine und hat davor über die Kriege im Irak und in Syrien, im Libanon, Israel und dem Westjordanland, in Tschetschenien, Bergkarabach und Sierra Leone und dem Südsudan berichtet. Er lieferte Reportagen aus den beiden Koreas sowie aus China, Taiwan, Bangladesch, Sri Lanka, Indien, Pakistan und einer Vielzahl anderer Länder. Er ist der Autor der Bestseller „Schwarzbuch Öl“ und „Die pazifische Epoche“.