Was der Bundespräsident kann – und was nicht
Das Amt des Bundespräsidenten wird einerseits über-, andererseits unterschätzt.
Die Überschätzung zeigt sich besonders im Wahlkampf. Man könnte meinen, es gehe um die Wahl eines Regierungschefs. Österreich hat aber kein Präsidialsystem wie etwa die USA, Frankreich oder jetzt die Türkei. Der österreichische Bundespräsident – bisher gab es ja nur Männer, und auch jetzt kandidieren nur Männer – bestimmt nicht die Regierungspolitik. Er kann zwar den Bundeskanzler und auch die ganze Regierung entlassen, einen neuen Bundeskanzler und eine neue Regierung ernennen. Doch die Halbwertszeit „seines“ Bundeskanzlers und „seiner“ Regierung ist kurz, wenn sie nicht das Vertrauen des Nationalrats hat. Seine Befugnisse kann der Bundespräsident regelmäßig – die Entlassung des Bundeskanzlers und der gesamten Regierung ausgenommen – nur auf Vorschlag vor allem der Bundesregierung ausüben; er kann nicht schalten und walten, wie er will.
Unterschätzt wird das Amt nicht nur, was die Befugnisse des Bundespräsidenten in Krisenzeiten angeht. In Krisenzeiten kann der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung gesetzesändernde Verordnungen erlassen. Diese Notverordnungen haben aber nur Bestand, wenn der Nationalrat in Folge ein entsprechendes Bundesgesetz beschließt. Auf Antrag der Bundesregierung kann der Bundespräsident den Sitz der Bundeshauptstadt, den Sitz von obersten Organen und den Sitz des Nationalrats verlegen.
Die Befugnisse des Bundespräsidenten in Krisenzeiten sind bisher – zum Glück – totes Recht geblieben. Doch mindestens ebenso bedeutsam und immer wieder aktuell ist sein Einfluss bei Stellenbesetzungen: Der Bundespräsident ernennt die Bundesbeamten, einschließlich der Offiziere, und die sonstigen Funktionäre des Bundes. Zwar braucht es immer einen Vorschlag der Bundesregierung oder des zuständigen Regierungsmitglieds.
Doch der Bundespräsident muss dem Vorschlag nicht folgen: Er kann verlangen, dass jemand anderes vorgeschlagen wird. Das wird er nicht öffentlich tun. Doch es ist, jedenfalls in der Vergangenheit, immer wieder vorgekommen, dass sich Ernennungen verzögert haben, weil der Bundespräsident mit der vorgeschlagenen Person nicht einverstanden war. Den Bundespräsidenten trifft hier eine besondere Verantwortung. Er muss darauf hinwirken, dass jemand vorgeschlagen wird, der etwas kann – und nicht bloß die richtigen Leute kennt.
Weitere Befugnisse des Bundespräsidenten, wie die Vertretung Österreichs nach außen, der Oberbefehl über das Bundesheer, die Verleihung von Ehrentiteln und Ehrenzeichen und das Gnadenrecht sind eher protokollarischer Natur. So kann der Bundespräsident auf Gesetzesstufe stehende Staatsverträge nur nach Genehmigung durch den Nationalrat abschließen. Dass er den Oberbefehl über das Bundesheer hat, bedeutet nicht, dass er Einsätze anordnen oder gar das Bundesheer in einen Krieg schicken könnte: Einen Krieg erklären kann nur die Bundesversammlung, also Nationalrat und Bundesrat, was noch nie geschehen ist – und hoffentlich auch nie geschehen wird.
Es ist ein fein austariertes System, mit dem die Verfassung die Macht zwischen dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung und dem Nationalrat verteilt. Den Bundespräsidenten zeichnet aus, dass er direkt vom Volk gewählt wird. Das verleiht seiner Stimme besonderes Gewicht, auch wenn er notwendige Maßnahmen nicht anordnen, sondern nur einmahnen kann. Wie überhaupt die Bedeutung des Amtes ganz stark davon abhängt, ob der Amtsinhaber die richtigen Worte findet und sie mit Nachdruck ausspricht. Und ganz entscheidend ist auch, ob der Bundespräsident kraft seiner Persönlichkeit als integrativ, mutig und verantwortungsbewusst wahrgenommen wird. Diese Eigenschaften stehen nicht in der Verfassung, sollten aber die Grundvoraussetzung dafür sein, dass jemand das Amt anstrebt und innehat.
IRMGARD GRISS ist frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofes. Nationale Bekanntheit erlangte sie als Leiterin der Untersuchungskommission zur Causa Hypo Alpe Adria, die das Kontrollversagen von Politik und Behörden feststellte. 2016 trat sie selbst als unabhängige Kandidatin zur Bundespräsidentschaftswahl an, bei der sie im ersten Wahlgang 18,94 Prozent der Stimmen erzielte. Zwischen 2017 und 2019 war sie als Allianzpartnerin der NEOS Abgeordnete zum Österreichischen Nationalrat.