Was uns eine alternative Messung über die Inflation sagt
Mit Inflationsraten weltweit auf historischen Rekordniveaus wächst auch die Kritik an ebenjenen Institutionen, deren Aufgabe es eigentlich wäre, für Preisstabilität zu sorgen. Zieht man Bilanz über die letzten Jahre, so sieht die Lage aktuell alles andere als gut aus. Zentralbanken und Regierungen rund um die Welt haben das Risiko stark ansteigender Inflationsraten unterschätzt – sogar als sich langsam ein klareres Bild davon abzeichnete, dass das allgemeine Preisniveau über die gewünschten Werte hinauswächst.
„Inflation geht vorbei“, lautete die Bewertung vieler führender Expert:innen. Eingetroffen ist diese Prognose aber nicht, und schon bald gab es in Zeitungen immer mehr Headlines, die das Ausmaß der Inflation in zeitlichen Kontext setzten: eine historisch hohe Inflationsrate im Ausmaß von aktuell 10,5 Prozent in Österreich erlebten wir zuletzt im Jahr 1952. Seit sieben Jahrzehnten mussten wir also keine so extremen Preisanstiege mehr durchleben. Zuletzt erlebten wir solche Werte im Kontext der Nachkriegszeit. Was ist also passiert?
Alte Modelle in einer digitalisierten Welt
In Zeiten von Pandemie, Krieg und global betroffenen Lieferketten funktionieren unsere Modelle zur Berechnung und Prognose von Inflation natürlich nicht ideal. Gleich mehrere Umstände schränken die Aussagekraft klassischer Prognosemodelle ein, z.B. die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, beklagte kürzlich, dass diese sich nicht mehr auf jene Modelle verlassen könne, mit denen bisher Inflation berechnet und prognostiziert wurde. Diese seien in den letzten zwei Jahren wiederholt nach oben adjustiert worden und hätten so einerseits zwischenzeitlich eine falsche Sicherheit darüber vermittelt, wie sich die Inflationsraten weiterentwickeln würden, und andererseits Inflationsrisiken weiter befeuert, da sie Gegenmaßnahmen verzögert hätten. Lagarde sieht kurz- und langfristige Effekte, die für eine höhere Inflation sprechen, darunter Tendenzen hin zur Deglobalisierung.
Eine große Rolle spielt auch, dass wir uns bei der Berechnung von Inflation auf langsame und in mehrerer Hinsicht nicht sehr genaue Methoden verlassen. Die Methodologie kann dabei veraltet sein oder Möglichkeiten zur Manipulation des Inflationswerts bieten. Typische Modelle basieren auf dem Prinzip sogenannter Warenkörbe, die ein möglichst genaues Abbild des Konsumverhaltens von Haushalten eines Landes erzeugen sollen. Für die Berechnung der Inflationsrate wird die Preisentwicklung im Vergleich zum Vorjahr oder einem Basisjahr beobachtet, danach wird sie anhand eines Ausgabenanteils von repräsentativen Haushalten gewichtet. Es handelt sich bei der Datenlage also um Umfragedaten, die von einer begrenzten Anzahl an Datenquellen in repräsentativen Regionen eines Landes erhoben werden.
Um die Inflation in Österreich zu beschreiben, wird in der Regel der Verbraucherpreisindex (VPI) verwendet, der von der Statistik Austria kalkuliert und veröffentlicht wird. Eine Inflationsrate in Höhe von 10,5 Prozent ist dabei das Maß für die Veränderung des Warenkorbs im Vergleich zum selben Zeitpunkt im Vorjahr.
Daneben werden noch detailliertere Indizes und zudem unterschiedliche Zeitintervalle und Arten von Inflation berechnet. Eine wichtige Rolle als Vergleichsmaß der Inflation in Europa und Indikator für die Geldwertstabilität innerhalb der Eurozone spielt z.B. der Harmonisierte Verbraucherpreisindex. In den USA werden beispielsweise der Consumer Price Index (CPI), der Producer Price Index (PPI) und die Personal Consumption Expenditure (PCE) errechnet und in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. All diesen Indizes, die eine gewichtige Rolle für unser Verständnis von Inflation und den Auswirkungen davon zugrunde liegt, lastet an, dass ihre Methodologie nicht das volle Potenzial der technologischen Realität nutzt.
Truflation: Unabhängige, wirtschaftliche und finanzielle Daten in Echtzeit
Truflation ist ein seit Oktober 2021 berechneter unabhängiger Inflationsindex aus den USA. Die Idee dahinter kommt vom Billion Dollar Project, einer Initiative der US-amerikanischen Universitäten MIT und Harvard, die zwischen 2008 und 2016 die täglich verfügbaren Preise von hunderten Online-Händlern in aller Welt erhoben hat, um damit makroökonomische und internationale Forschung zu betreiben. Dabei wurden die täglichen Preisschwankungen von mehr als 15 Millionen Produkten in über 70 Ländern betrachtet.
In dieser Tradition entwickelt Truflation einen täglich verfügbaren Inflationsindex für mehrere Länder, der aus einer Fülle an online jederzeit verfügbaren Daten gebildet wird. Während in den USA durch das Bureau of Labor Statistics ein monatliches Abbild von ca. 80.000 Produkten in 75 einzelnen, repräsentativen Regionen erzeugt wird, verarbeitet der Truflation-Index aktuell die Preisveränderungen von mehr als 18 Millionen Produkten auf landesweiter Ebene. Zusätzlich verwendet Truflation zur Berechnung seiner Indizes mehr als 50 verschiedene Datenquellen, darunter Statista, Yahoo, Zillow (den größten Immobilienmarktplatz der USA) oder auch McDonalds (siehe Big-Mac-Index). Das täglich verfügbare Echtzeit-Bild, das dadurch über Preisveränderungen und die daraus abzuleitende Inflation geschaffen wird, ist ein unvergleichbar genauerer Zugang zum Thema Inflation.
Als weiterer markanter Unterschied zu staatlicher oder zentralbanklicher Methodologie wird ein Index berechnet, der unabhängige Datengewichte auf der Grundlage der umfangreichen Verbraucherausgaben aus Zensusdaten, dem Minizensus und hochwertigen Verbraucher- und Händlerumfragen generiert. Ziel ist, ein möglichst genaues Bild der tatsächlichen Auswirkung der Inflation auf die Geldbörsen der Bürger zu berechnen.
Dazu wird auch auf die Verwendung von sogenannten hedonischen Preisen verzichtet. Diese werden angewandt, um gewisse Qualitätsveränderungen aus den Preisen von Produkten heraus zu isolieren. Die hedonische Preismethode ist eine umstrittene Herangehensweise, um Veränderungen in Qualität und Preis voneinander zu unterscheiden und so Auswirkungen auf den VPI nur auf reine Preisveränderung zurückzuführen. Die tatsächlichen Preisanstiege von Produkten können dabei „hedonisch“ nach unten korrigiert werden, obwohl gleichzeitig mehr für diese Produkte bezahlt werden muss.
Diese Methode ist besonders für Computer, Laptops, Handys, TV-Geräte, Autos und vergleichbare Produkte relevant. Das neue iPhone kostet mehr, kann aber auch mehr, also ist es hedonisch „günstiger“ als das Vorgängermodell zu bewerten. Für die Käufer:innen dieses iPhones wirkt sich der höhere Preis jedoch natürlich trotzdem budgetär entsprechend aus – die Inflation ist an dieser Stelle verzerrt. Der Truflation-Index berechnet daher objektive Preise, ohne eine manuelle und subjektive Anpassung von Qualitätsveränderungen.
Was uns der Truflation-Index sagen kann
Die schnelle Verarbeitung von einem breiten Spektrum an unmanipulierten Daten ergibt ein anderes Bild als jenes, das von staatlichen Stellen gezeichnet wird: So sind die USA bereits in einer Phase sinkender Inflation. Diese Erkenntnis zeigte sich erst Monate verspätet im offiziellen Consumer Price Index und benötigte noch länger, um als Trend statt als einzelner Datenpunkt identifiziert zu werden. Laut Truflation wurde der Höchststand der Inflation in den USA mit 11,97 Prozent bereits im März 2022 erreicht, wogegen der offizielle CPI diesen im Juni 2022 vermerkt. Dieser Trend lässt sich zeitversetzt seit Juli 2022 über die offizielle Inflationsberechnung ablesen und ist inzwischen durch mehrere monatliche CPI-Datenpunkte belegt. Über den tagesaktuellen Truflation-Index wissen wir bereits heute, dass sich dieser Trend voraussichtlich fortsetzen wird.
Damit steht die Inflationsentwicklung der USA in einem starken Kontrast zu jener in Europa. Hier sind viele große Volkswirtschaften weiterhin mitten in einem Umfeld steigender Inflation und verzeichnen jeden Monat neue Rekordwerte. Das zeigt sich besonders am Beispiel von Großbritannien, dessen Truflation-Index einen hohen Wert von 17,32 Prozent Preisanstieg zum Vorjahreszeitpunkt ergibt, während die aktuellsten offiziellen Daten einen Wert von 10,1 Prozent errechnen. Hier zeigt sich der Unterschied in der Methodologie anhand eines um 71,5 Prozent erhöhten Inflationswerts.
Zahlen für Europas größte Volkswirtschaft Deutschland sind über Truflation aktuell noch nicht verfügbar. Hier lässt sich nur die Aussage treffen, dass es mit 10,0 Prozent Inflation im September 2022 ebenso wie in Österreich ein 70-Jahre-Hoch ergibt.
Eines zeigt sich jedoch sehr deutlich: Während die USA auf dem Weg zur Normalisierung sind, ist Europa weiterhin mittendrin in einer gefährlichen Inflationsepisode mit Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft.
LUKAS LEYS ist Unternehmer, Gründer des Legal-Tech-Startups kontractory und Betreiber der Plattformen immobily.io, mietrecht.ai und gmbh.legal. Ihn treibt ein starkes Interesse am technologischen Fortschritt und an den gesellschaftlichen Auswirkungen, die diese mit sich bringen wird. Sein Schwerpunkt liegt auf Blockchain-Technologie, Smart Contracts und dem Metaverse.