„Wenn ich nur gehen würde“: Auswanderung aus Georgien
Sehr oft denke ich über mein Leben nach, und wie es wäre, wenn ich unter anderen Umständen geboren worden wäre: eine andere geografische Lage, ein anderes Temperament, weniger Patriarchat und toxische Männlichkeit, äußere Einflüsse und der ewige Kampf ums Überleben. Der Gedanke, aus Georgien wegzugehen, wurde später noch präsenter.
Georgien liegt zwischen Osteuropa und Westasien und verfügt über ein reiches kulturelles Erbe, atemberaubende Landschaften und eine jahrtausendealte Geschichte. Seit den 1990er Jahren hat das Land jedoch, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, eine erhebliche Abwanderung seiner Bevölkerung erlebt, da die Georgier:innen auf der Suche nach besseren Möglichkeiten und Lebensbedingungen im Ausland sind. Die Geschichte Georgiens, die von Invasionen, Konflikten und Grenzverschiebungen geprägt ist, hat die Demografie und die Migrationsmuster des Landes geformt, die sich in letzter Zeit dramatisch verändert haben.
Unter Freund:innen sagen wir oft, dass sich die Luft in Georgien seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine verändert hat. Das Umfeld wurde stärker von politischen Spielchen und sozialer Spaltung durchdrungen, was zu großer Unsicherheit und Unentschlossenheit unter den Menschen führt, denen das derzeitige soziopolitische Wetter im Land nicht gefällt. Schließlich wandern nicht nur die jungen Leute aus, sondern auch die älteren; diejenigen, die sich bereits ein stabiles finanzielles und soziales Leben aufgebaut haben, und diejenigen, die sich ein solches erst noch schaffen müssen. In diesem Artikel geht es darum, wie sich die Auswanderungsdynamik in Georgien nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verändert hat, um Arbeitslosigkeit, Langeweile und die Suche nach innerem Frieden.
Nachwehen des Krieges
Der Kontext, der durch den russisch-georgischen Krieg 2008 und die anhaltende Präsenz russischer Streitkräfte in Abchasien und Südossetien geschaffen wurde, führte zu einem spürbaren Gefühl der Unsicherheit. Aus Angst vor den möglichen Folgen einer Eskalation des Konflikts entschieden sich zahlreiche Menschen dafür, das Wohlergehen ihrer Familien und Angehörigen durch Auswanderung zu sichern. Am 6. November 2023 wurde der georgische Staatsbürger Tamaz Ginturi von russischen Besatzern bei einem Versuch der illegalen Verhaftung getötet. Die russische Besatzung des Landes ist also andauernd und real.
Darüber hinaus haben sich die Dinge in Georgien in den letzten Jahren aufgrund des prorussischen Kurses der georgischen Regierung (nicht einmal im Verborgenen) dramatisch verändert. Das Klima, das eine Zeit lang mehr oder weniger als frei und liberal galt, wurde restriktiv und unterdrückend, wenn man bedenkt, wie öffentliche Kundgebungen und freie Medien verfolgt werden. Die Trolle und Bots der Regierung, die Massenmedien und die sozialen Medien sowie die kulturelle Propaganda haben ihren Höhepunkt erreicht, was bei den Menschen ein starkes Gefühl der Uneinigkeit, der Einschränkungen und der Unsicherheit hervorgerufen hat.
Russische Dominanz nimmt zu
Unter der offen prorussischen Regierung, die unter dem Namen „Georgischer Traum“ ihre russischen Träume in einem Land verwirklicht, verlassen junge und ältere Menschen ihr Heimatland. Wenn man in Georgien lebt, hört man in letzter Zeit oft, dass ein Freund, eine Verwandte oder ein Nachbar illegal über die US-/mexikanische Grenze in die Vereinigten Staaten eingereist sei. Die Menschen gehen unter „Gott weiß was für Bedingungen“, zahlen tausende Dollar, riskieren ihr Leben und das ihrer Kinder, um eine bessere Zukunft zu finden.
Der russische Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 hat die Sicherheitsbedenken der Georgier:innen verstärkt. Wenn man in Tiflis spazieren geht, sieht man ukrainische Flaggen an den Balkonen hängen, und die Häuserwände sind blau und gelb gestrichen, als Zeichen der Unterstützung für das ukrainische Volk. Seit Februar 2022 verwandeln sich Balkone und Straßen in Protestflächen. Die meisten Graffiti handeln vom georgischen Widerstand und Protest gegen den anhaltenden Krieg in der Ukraine, die schleichende Besetzung Georgiens und die enorme Zahl russischer Einwanderinnen und Einwanderer. Der russische Zustrom in das Land hat die Lebensbedingungen für alle Georgier:innen völlig verändert. Unter dem Titel „Kontrolle über die Straßen – wie antirussische und patriotische Bilder in Tiflis bekämpft werden“ widmet sich auch Radio Liberty diesem Thema.
Graffitis in Tiflis, Georgien (© Lela Jobava)
„Als die wichtigsten Vertreter meines Landes seit dem Beginn der Invasion in die Ukraine kein einziges Wort zur Unterstützung der Ukraine gesagt haben und behaupteten, dass die ukrainischen Behörden versuchen, Georgien im Krieg zu ertränken, wurde mir klar, dass das Schlimmste gerade erst begonnen hat. Vorher haben sie uns auf etwas Schreckliches vorbereitet“, sagte Natia (33), die Georgien im September 2022 verließ. Ihre Karriere in der Videoproduktion und im Produktdesign war auf dem Höhepunkt, als sie sich aufgrund des ständigen Stresses, der durch eine weitere Welle russischer Eingewanderter ausgelöst wurde, endgültig entschloss, das Land zu verlassen.
„Im Saburtalo-Viertel in Tiflis, wo ich lebte, eröffneten die ,September-Neulinge‘, die vor der zweiten Mobilisierungswelle geflohen waren, ihre russischen Salons, Cafés und Buchläden. Ironischerweise muss man ihnen erklären, dass die offizielle Sprache Georgiens Georgisch ist und dass ich ein Recht darauf habe, eine Dienstleistung in der lokalen georgischen Sprache zu erhalten.“
Natia sagte, dass einige der Russ:innen antworteten, sie sprächen die Sprache nicht und seien nicht verpflichtet, Dienstleistungen in der Landessprache zu erbringen. „Fast jeder in Georgien spricht Russisch. Sie können Google Translate benutzen!“, sagten sie zu Natia. „Ich lächelte und ging. Es war unsinnig, diesen Leuten zu erklären, warum es uns so wichtig ist, dass unsere Kultur, unsere Sprache und unsere Identität respektiert und nicht vernachlässigt werden, wie sie es tun, wie es unsere Regierung tut.“
Sie erwähnte, dass diese Art von Situation Teil ihres Lebens wurde. Sie fühlte sich in ihrer eigenen Wohnung nicht mehr wohl. Natia denkt nicht daran, wieder in ihr Land zu ziehen. Darüber hinaus möchte sie auch ihre Eltern in die Niederlande holen.
„Es war an der Zeit zu gehen“
Salome (32) hat ähnliche Gründe für ihre Auswanderung. Sie zog vor ein paar Monaten aus Tiflis weg. Mit ihrem deutschen Lebensgefährten lebte sie einige Jahre in Tiflis, bevor die Preise für Mieten und Produkte so stark stiegen, dass sie gezwungen waren, nach München zu ziehen. „Bevor der Krieg in der Ukraine richtig losging, zahlten wir 400 US-Dollar für die Wohnung im Stadtzentrum, bald wurden es 600. Später verdoppelte der Vermieter den Preis und gab uns nur einen Monat Zeit, um zuzustimmen oder eine andere Wohnung zu finden. Natürlich konnten wir nicht so viel bezahlen, also beschlossen wir, nicht an einen anderen Ort zu ziehen, sondern nach Deutschland.“
Salome erwähnte, dass sie Miete, Steuern, Lebensmittel und Nebenkosten bezahlen konnten, bevor die Preise erhöht wurden. Aber nach einem starken Zustrom von Russ:innen stiegen die Kosten für alles so stark an, dass sie es kaum noch von einem Monat zum anderen schafften, und die Zahl der russischen Migrant:innen wuchs weiter. Der Zustrom aus Russland war einer der Hauptgründe, warum sie das Land verließen, so Salome:
„Es war für mich unerträglich, so viele Menschen aus dem Land zu sehen, das sich jetzt im Krieg befindet und mein Land seit Jahrhunderten überfallen und kolonisiert hat. Leider hat die Art und Weise, wie die derzeitige Regierung die Russ:innen schützt und ihre eigene Bevölkerung leiden lässt, alle Hoffnungen auf ein besseres Leben zunichte gemacht. Es war an der Zeit zu gehen.“
Auf meine Frage „Warum bist du gegangen?“ antwortete die 42-jährige Produzentin und Drehbuchautorin Nini, dass sie der Proteste überdrüssig geworden sei und sie glaubt, dass die georgische Regierung genau das versuche – die Menschen müde zu machen und sie zum Gehen zu bringen. „Unsere Proteste nehmen kein Ende. Man hat vielleicht einen guten Job, eine Familie, Freunde – was gibt es sonst noch da draußen? Aber nein. Es ist unerträglich geworden, wohin uns die heutige Politik gebracht hat und wie sie sich entwickelt. Warum sollte ich mein Leben damit verbringen, für das zu kämpfen, was mir schon längst hätte gehören sollen? Ich bin schon 42 und möchte ein erfülltes, gerechtes und schönes Leben haben. Ich bin fertig mit dem Kämpfen. Ich möchte auch nicht, dass meine Kinder kämpfen müssen.“ Heute lebt sie in Frankreich und arbeitet in verschiedenen Bereichen wie der Kulinarik und dem Filmemachen.
Viele Gründe für Abwanderung
„Warum fliehen junge Menschen aus dem Land?“ Auf diese häufig gestellte Frage gibt es viele Antworten. Die Migrationsmuster und die Gründe für dieses Phänomen sind vielfältig: Neben dem Zustrom aus Russland sind die wirtschaftlichen Herausforderungen Georgiens, darunter Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und soziopolitische Unsicherheit, eine anhaltende Triebfeder für die Auswanderung. Politische Unruhen und Fragen der Staatsführung haben die Georgier:innen hinsichtlich der Aussichten auf positive Veränderungen in ihrem Land entmutigt.
Vor allem junge Georgier:innen suchen im Ausland nach Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten, da sie sich außerhalb ihres Heimatlands bessere Perspektiven und eine bessere berufliche Entwicklung versprechen. Für das Jahr 2022 meldete das nationale Statistikamt Georgiens, dass mehr als 100.000 Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren das Land verlassen haben.
Quelle: Das Nationale Statistikamt von Georgien
Für Sandro (24) war der russische Zustrom kein ausschlaggebender Faktor, der ihn dazu veranlasste, nach Brüssel zu ziehen. „Ich bin queer. Ich kann nicht unpolitisch sein. Ich habe nicht den Luxus, unpolitisch zu sein. Das ständige Gefühl der Angst, der Ungerechtigkeit und der zunehmenden rechtsgerichteten, nationalistischen und homophoben Stimmung hat mich zur Flucht veranlasst.“ Er erinnerte sich an eine Situation, die ihn schließlich dazu brachte, Georgien zu verlassen, als er auf der Straße von drei Männern wegen seines „weiblichen Aussehens“ angegriffen wurde:
„Zuerst fragten sie mich, ob ich ein Junge oder ein Mädchen sei, dann fingen sie an, mich anzufassen und mich aggressiv zur Seite zu zerren. Als ich ihnen sagte, dass ich die Polizei rufen würde, wenn sie sich nicht zurückziehen würden, schlug mir einer von ihnen so fest ins Gesicht, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich wusste, dass ich in Gefahr war.“ Bemerkenswert ist, dass Sandro mir diese Geschichte mit einem ansteckenden Lächeln und einem Gefühl der Erleichterung erzählte.
Weil die derzeitige soziopolitische Lage des Landes nicht vielversprechend ist, tendieren viele weitere dazu, das Land zu verlassen. Der Exodus georgischer Bürger:innen als Reaktion auf den russischen Zustrom nach dem Krieg in der Ukraine spiegelt im Wesentlichen eine komplexe und schwierige Realität für das Land wider. Die Abwanderung von Menschen, die Stabilität und Sicherheit suchen, unterstreicht die tiefgreifenden Auswirkungen, die geopolitische Ereignisse auf das soziale Gefüge eines Landes haben können. Da diese Auswanderungswellen die demografische Landschaft umgestalten, ist es für die georgischen Behörden unerlässlich, diese Herausforderungen zu meistern – auch wenn es keine sichtbaren Bemühungen dazu gibt.
LELA JOBAVA hat an der Caucasus University einen Abschluss in European Studies gemacht. Sie ist Konfliktforscherin und Journalistin aus Gali (Abchasien). Angetrieben von ihrer Leidenschaft für konfliktbezogene Berichterstattung, Geschichtenerzählen und Filmemachen, engagiert sich Lela für die Berichterstattung über verschiedene ethnische, religiöse, sprachliche und geschlechtsspezifische Themen und die Ausarbeitung von unverwechselbaren Geschichten, die einzigartige Perspektiven aufzeigen. Besonders am Herzen liegen Lela die Berichterstattung über aktuelle Themen und die Aufdeckung von Geschichten über das gemächliche Leben in Abchasien, das unter dem Schleier der Globalisierung verborgen geblieben ist. Die Themen Erinnerung und Identität sind integrale Bestandteile ihrer Arbeit.