Befinden wir uns im globalen Informationskrieg?
Die neue globale Blockbildung ist mit massiven Auswirkungen auf die Weltpolitik verbunden. Denn der anti-westliche Block betreibt in vielen Punkten bereits eine gemeinsame Propagandapolitik.
Liberale Demokratien hatten es schon einmal leichter. Zu diesem Schluss könnte man kommen, wenn man sich die derzeitige geopolitische und in vielen Fällen auch innenpolitische Lage ansieht. In einigen Ecken des Internets ist die Rede davon, dass die Machtstellung und der Wohlstand des Westens ohnehin bald „den Bach runtergehen“ würde: Die Zukunft, die liege bei den BRICS-Staaten.
BRICS, die wirtschaftliche Kooperationsvereinbarung, die lange Zeit nur aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestand, ist in Bezug auf ihre Effizienz und ihren Erfolg nicht unumstritten. Manche sagen, BRICS besteht aus vielen Worten und wenig tatsächlich vorweisbaren Erfolgen – doch genau um diese Worte, die einenden Narrative, soll es in diesem Artikel gehen.
BRICS wird größer und tritt selbstbewusster auf – auch im Informationsraum
Mittlerweile wurde BRICS zu BRICS+. Es ist eine erweiterte Organisation, die sich auch als neuer „Propaganda-Block“ gegen den „kollektiven Westen“ gruppiert: Ägypten, Äthiopien, die Vereinigten Arabischen Emirate und der Iran sind ebenfalls Teil der BRICS-Gruppe geworden. Die weiteren Beitrittskandidaten lesen sich wie ein „Who’s who“ autoritärer Staaten: Darunter befinden sich Nationen wie Libyen, Syrien, der Kongo, Somalia, Myanmar und Afghanistan. Einige weitere Beitrittsländer überraschen aber: Auch Mexiko und das NATO-Mitglied Türkei sind im Gespräch.
Eine Möglichkeit, ohne viel Aufwand, sind Abstimmungen zu UN-Resolutionen: Mit einem Knopfdruck können Staaten sich auf eine Seite stellen. So geschehen etwa im November 2022, als es um die „Berichtigung und Wiedergutmachung“ für die Aggression in der Ukraine ging. Der Aggressor, wie allgemein bekannt sein sollte: das BRICS-Mitglied Russland.
Kein einziges BRICS-Mitglied stimmte für die Resolution: China und Russland stimmten dagegen, Brasilien und Südafrika enthielten sich. Indien dagegen stimmte gar nicht erst ab. Äthiopien, inzwischen Teil der BRICS+, stimmte gegen die Resolution, genau wie der Iran.
Auch weitere traditionell enge Partner von Moskau haben bereits einen Beitrittsantrag gestellt, etwa Bolivien, Kuba und Venezuela. Insbesondere die letzten zwei werden von großen Teilen der Linken immer noch verklärt oder sogar offen unterstützt. Als die EU die russische Propagandaseiten „RT“ – früher „Russia Today“ – und Sputnik geblockt hatte, sprang Venezuela Russland bei und verbreitete über englischsprachige Medien die Verschwörungstheorie über Biowaffenlabors in der Ukraine. Unter dem Titel „The Russian Special Operation has uncovered Ukrainian biological weapons“ kann auf dem Kanal von „Telesur English“ immer noch der „Bericht“ dazu abgerufen werden.
Der Beitrag wurde dem Autor dieser Zeilen übrigens Anfang März 2022 von einer Person aus Russland geschickt, um die „Militärische Spezialoperation“ zu rechtfertigen, wie man den Ukraine-Krieg in Putins Diktatur nennen muss. Telesur – ein zum Teil von der venezolanischen Regierung finanzierter Sender, der von sich sagt, die „lateinamerikanische Sicht“ der Welt zeigen zu wollen – zeigte hier aber in erster Linie die russische Sicht. Das schloss sogar die Bezeichnung „Spezialoperation“ mit ein.
Welche Zielgruppen im Westen auf solche „Nachrichten“ anspringen, das ist klar: Jene Gruppen, die auf „volle Solidarität mit der Maduro-Regierung“ pochen, haben meist auch ein extrem kritisches Verhältnis zum Westen generell und sehen auch „die NATO als Kriegstreiber in der Ukraine“. Sie vertreten das Narrativ, Putin habe eben reagieren müssen.
Nicht immer passiert diese „Schützenhilfe von Verbündeten“ so offensichtlich, wie wir das im Fall von Venezuela beobachten können. Brasiliens Präsident Lula, der schon lange ein enges Verhältnis zu Putin hat, geht hier subtiler vor: Er lehnt Waffenlieferungen ab, behauptet, dass Selenskyj ebenso viel Verantwortung für den Krieg trage wie Putin, und wirft der Ukraine den Wunsch einer NATO-Mitgliedschaft vor. Dieser „Bothsidesism“ in Verbindung mit dem allgemein gehaltenen „Wunsch nach Frieden“ – ohne klare Verurteilung des Aggressors – hilft dem Kreml zwar auch, wird aber viel seltener als prorussische Propaganda erkannt als Verschwörungstheorien in venezolanischen Medien.
Ähnliche rhetorische Muster lassen sich auch bei den BRICS-Partnern Indien und Südafrika feststellen: China führt einen ganz eigenen Informationskrieg gegen den Westen, der aber indirekt Moskau massiv in die Hände spielt. Chinas wichtigste propagandistische Anliegen liegen in der Selbstpräsentation als „hypererfolgreiche Wirtschaftsmacht“ und im (scheinbaren) Widerlegen der katastrophalen Menschenrechtssituation im eigenen Land. Die Kernbotschaft lautet: „Glaubt nicht den westlichen Mainstreammedien.“ Ein Narrativ, das im Sinne aller antiwestlichen Akteure weltweit ist.
Dafür gibt es auch im Westen immer wieder Applaus – nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch bei „Intellektuellen“ und in Teilen der (linken) akademischen Szene. Nicht umsonst gibt es auch in Österreich Menschen, die sich gleichzeitig für enge wirtschaftliche Beziehungen mit China und gegen Russland-Sanktionen einsetzen und zum Krieg in der Ukraine mit allerlei Relativierungen auffallen.
Instagram und TikTok und westliche Influencer im Dienste autoritärer Regimes
Auf TikTok und Instagram – speziell in den „zufällig“ angezeigten Hochformat-Videos – scheint alles möglich zu sein. Es geht nicht nur um chinesische und russische Propaganda: In Reels und TikToks wird sogar die Diktatur in Nordkorea relativiert. Und das relativ geschickt.
Hier lässt ein Travelblogger einen „Tourguide“ zu Wort kommen, der – wie der Influencer selbst angibt – auch ein Parteimitglied ist. Darunter kommentiert ein User, dass die Haltung in Nordkorea nur ein Resultat von Grausamkeiten der USA wäre. Der Blogger „Homeless.backpacker“ antwortet darauf mit Bothsidesism: „Beide Seiten werden dir unterschiedliche Dinge erzählen“ etwa, oder „beide Seiten liegen falsch, auf ihre eigene Weise“.
Liegt Nordkorea – die stereotype Diktatur auf unserem Planeten – vielleicht gar nicht so falsch? Und wenn der Westen sogar bei Nordkorea falsch liegt: Wie stark lügt er uns dann erst zu China, Russland und dem Iran an?
Die Relativierung und das Whitewashing autoritärer Regimes hat sich zum lukrativen Geschäft für Travelblogger entwickelt. Nordkorea mag ein Extrembeispiel sein, viel offener wird für die autoritären Regimes der BRICS+ und ihrer Beitrittskandidaten geworben. Unzählige Videos zeigen uns in den sozialen Medien, dass in Russland die Geschäfte trotz Sanktionen gut gefüllt sind, die Arbeiter in China alle Rechte genießen, in Assads Syrien das Partyleben boomt und Berichte über Menschenrechtsverletzungen im Iran nichts als westliche Propaganda sind. Das ist kein Zufall – das hat System.
„Der globale Süden sieht die Dinge anders“
Wenn wir an russische Aktivitäten im Informationskrieg denken, fallen wohl den meisten Menschen zuerst die Klassiker ein: Manipulierte Bilder und Videos, Trollfarmen und die Geschichten der Biowaffen oder „Tierbordelle in der EU“. Subtilere Narrative, die uns mindestens genauso beeinflussen sollen, werden aber nicht als Propaganda erkannt. Aber gerade wenn es um die Relativierung des russischen Angriffs, um die Untergrabung unserer Solidarität mit der Ukraine geht, spielen diese „subtileren Botschaften“ eine entscheidende Rolle.
„Der globale Süden sieht die Dinge anders“ oder „Wir müssen realisieren, dass nur der Westen das, was in der Ukraine passiert, so sieht wie wir“: Das sind Sätze, die im Rahmen dieser Propaganda immer wieder fallen. Oft gepaart mit der Erkenntnis, dass – Überraschung! – die BRICS+ Russland nicht verurteilen. Welche Erkenntnis wir daraus ableiten sollen, wird selten dazugesagt. Was ändert das an der nachweislich imperialistisch motivierten und unprovozierten russischen Invasion?
Dazu kommt noch, dass sich in den nicht autokratisch regierten Ländern der BRICS+, also vor allem in Südafrika, Indien oder Brasilien, durchaus Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu Wort gemeldet haben, die nicht mit der Russland-Apologetik ihrer Regierungen zufrieden sind. „Nicht in meinem Namen“, „die Position unserer Regierung ist eine Schande“ und vergleichbare Kommentare kann man immer wieder in den sozialen Medien lesen. Trotzdem gibt es eine Vielzahl von Kommentaren – auch im Westen – die unsere Haltung als „westliche Arroganz“ oder gar „Imperialismus“ deuten und mehr Orientierung an den Positionen von Staaten wünschen, die mit Moskau und China verbündet sind. Diese Kontextualisierung bleibt aber meist aus. Dem Westen wird dann oft „Kriegstreiberei“ vorgeworfen, während andere für Frieden eintreten würden, weil sie eine „neutrale Sicht“ hätten.
Propaganda der BRICS+ trägt Früchte
Diese Narrative greifen auch in Österreich. Etwa beim Wehrsprecher der SPÖ, Robert Laimer. Dieser schreibt etwa auf Facebook: „Die Zukunft liegt in einer multilateralen Weltordnung.“ Dazu verlinkt er einen Artikel des in Kritik geratenen China-Experten Frank Sieren, Titel: „Der Westen bestimmt nicht die Spielregeln der Welt.“ In diesem Text vergleicht Sieren die globalen Machtverschiebungen mit dem Kampf des Bürgertums gegen den Adel:
„Der Adel hat, als Minderheit, die Spielregeln der Mehrheit bestimmt. Und irgendwann haben die Bürger sich dagegen aufgelehnt.“
Frank Sieren
Sieren kritisiert die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock für ihre wertegeleitete Außenpolitik und ihre Haltung gegenüber China und Russland – und bringt in diesem Zusammenhang die Politik von Indien gegenüber dem Kreml ins Spiel:
„Die Inder haben, als Lawrow zum G20-Treffen nach Delhi kam, einen Saal mit 1.000 Leuten gefüllt, ihn eine Stunde reden lassen und ihm zugehört. Er hat an mehreren Stellen Applaus bekommen und die Leute haben ihm interessiert zugehört, weil sie verstehen wollten, wie er argumentiert – was nicht bedeutet, dass sie seine Argumentation teilen. An einer Stelle wurde er ausgelacht. Und diese 20 Sekunden liefen in den deutschen Medien.“
Frank Sieren
Die Antwort auf die Frage, warum man einem notorischen Lügner und Kriegstreiber wie Lawrow eine Bühne geben sollte und wofür er sich Applaus verdient haben könnte, blieb Sieren schuldig. Ob der Abgeordnete Laimer, der das Interview als „lesenswert“ geteilt hat, dieses tatsächlich gelesen hat und die darin vermittelten Positionen teilt, ist unbekannt – auf die kritischen Anmerkungen unter seinem Posting hat er bis heute nicht reagiert.
Dies ist nur ein Beispiel von vielen, wie der Diskurs von vielen Rechten und Linken geführt wird, sofern das Feindbild Baerbock oder Biden bedient werden kann.
Dabei geht es nicht um eine „Herabwürdigung“ des Globalen Südens oder aller Länder, die nicht zur „westlichen Welt“ zählen, schon gar nicht der Bevölkerung. In Europa selbst müsste man sich ohnehin die Frage stellen, wo das china- und russlandfreundliche EU und NATO-Mitglied Ungarn eigentlich dazugehört. Große russische und chinesische Einflüsse gibt es auch in Serbien, und die Slowakei hat sich nach dieser Präsidentschaftswahl auch noch mehr in Richtung Russland bewegt.
Auch in diesen Ländern gibt es noch Menschen, die durchaus eine andere Position vertreten und sie (derzeit noch) artikulieren können. Diese Möglichkeit besteht für viele Oppositionelle in Diktaturen nicht – daran sollte man denken, bevor man die Welt zu sehr am „Schachbrett“ sortiert. Gleichzeitig ist es höchst fragwürdig, wenn man die Positionen korrupter Diktatoren als die „Stimme des globalen Südens“ verklärt und das auch noch für einen „woken move“ hält. Tatsächlich gibt es wohl, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaß, überall auf der Welt Menschen, die sich Freiheit, Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte wünschen, vielleicht sollte man ihnen zuhören und nicht den Autokraten.
DIETMAR PICHLER ist Programmatic Director am Zentrum für Digitale Medienkompetenz. Der geborene Wiener ist seit 15 Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Bereich Marketing und Kommunikation tätig. Nach seinem Masterabschluss im Bereich Kommunikationsmanagement absolvierte er diverse universitäre Fortbildungen in den Bereichen Wirtschaft, Internationale Beziehungen, European Studies und Social Media. Zudem ist Dietmar Pichler Initiator der europäischen Medienplattform „stopovereurope.eu“ und als Vorstandsmitglied des Vereins „Vienna goes Europe“ tätig.