Darf sie das?
Im Oktober wird der österreichische Bundespräsident gewählt. Dieser Satz ist mit gutem Grund nicht gegendert, denn der Wahl stellen sich diesmal ausschließlich Männer. Dass Irmgard Griss noch 2016, als unabhängige Kandidatin, das drittbeste Ergebnis bei der Bundespräsident:innenwahl erzielte – und damit Hoffnung gab, dass es auch einmal eine Frau an die Spitze des Landes schaffen könnte – spiegelt sich leider in der diesjährigen Kandidatenliste nicht wider.
Darf sie kandidieren?
Die Herausforderungen für Frauen in der Politik sind vielfältig. Sie sind in der Politik immer noch unterrepräsentiert. Im österreichischen Nationalrat sind derzeit 40,44 Prozent der Abgeordneten Frauen. Im EU-Durchschnitt sind es sogar nur 33,1 Prozent der Abgeordneten in den nationalen Parlamenten. Studien zeigen, dass die bei Weitem größte Hürde in Bezug auf Repräsentanz von Frauen in der Politik der Mangel an Kandidatinnen ist. Eine Publikation der University of Chicago schlussfolgerte, dass der Mangel an Politikerinnen vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen sei: Dass Frauen seltener kandidieren als Männer, ist einer davon. Der andere ist die noch immer vorherrschende Voreingenommenheit der Wähler:innen gegenüber weiblichen Kandidatinnen. Gezeigt wurde in der Studie aber auch, dass Frauen, die kandidieren, ihren männlichen Konkurrenten weder in Fundraising noch in Wahlerfolg nachstehen.
Eine dieser erfolgreichen Frauen ist Sanna Marin, die finnische Premierministerin. 2019 noch als jüngste Regierungschefin der Welt gefeiert, stand sie vor einigen Wochen stark in der Kritik: für ein Partyvideo, in dem sie ausgelassen tanzte. Das Video entfachte in Finnland eine hitzige Debatte, ob sich Marin als Regierungschefin angemessen verhalten habe. Auch international machte das finnische „Partygate“ Schlagzeilen.
Ihr wird vorgeworfen, sie habe beim Feiern ihre Pflichten als Ministerpräsidentin verletzt und unprofessionell agiert.
Darf sie tanzen?
Dass eine tanzende Politikerin eine internationale Diskussion über angemessenes Verhalten von Politiker:innen auslöst, zeigt, wie tief Misogynie in unserer Gesellschaft immer noch verankert ist. Dabei kommt ein Problem zutage, das sich nicht nur auf die Politik beschränkt, dort aber umso sichtbarer und abschreckender ist: Doppelstandards.
Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen beschreibt Doppelstandards als:
„Definition des Inhalts formeller und informeller Verhaltenskulturen in einer Weise, dass die zur Evaluierung und Reglementierung von Frauen verwendeten Kriterien oder Standards von denen für Männer so abweichen, dass Letztere davon profitieren.“
Es werden also unterschiedliche Maßstäbe angelegt, wenn es darum geht, das Verhalten von Männern oder Frauen zu beurteilen. Was bei Männern als entscheidungsstark wahrgenommen wird, ist bei Frauen zickig. Männer sind wütend, Frauen hysterisch. Männer sind wortgewandt, Frauen plappern oder sind formulierungsverliebt. Diese Doppelstandards tragen dazu bei, dass Frauen in vielen Bereichen des Lebens immer noch anderen Formen des gesellschaftlichen Drucks ausgesetzt sind als Männer – insbesondere im Berufsleben.
Beim Beispiel Sanna Marin stellt sich die Frage: Wäre die Diskussion um das Party-Video genauso explodiert, wenn es ein Mann wäre, der da feiert?
Wahrscheinlich nicht. Hier eine kurze Liste an Aktionen ihrer männlichen Kollegen am internationalen Parkett, bei denen viele von uns nicht einmal mit der Wimper gezuckt haben:
- Die berüchtigten Bunga-Bunga-Partys des ehemaligen Premierministers Silvio Berlusconi in Italien, der gerade ein Comeback feiert.
- Die Tatsache, dass Brexit-Leader Nigel Farage aufgrund seiner Fähigkeit, ein Bier auf dem Kopf balancieren zu können, als ,man of the people‘ gefeiert wurde.
- Die Corona-Partys von Ex-UK-Premierminister Boris Johnson.
- Der “Grab them by the Pussy”-Sager des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der meinte, Frauen ließen alles mit sich machen, wenn man ein Star ist.
Eine kurze Google-Suche mit den Stichworten „Markus Söder Bier“ liefert seitenweise Bilder des deutschen Politikers beim Biertrinken.
Aber auch in Österreich wurden z.B. Heinz-Christian Straches Auftritte in Klubs und Partys bis zur Ibiza-Affäre einfach als Wahlkampftaktik verstanden. Sebastian Kurz‘ Geilomobil und der Spruch „Schwarz macht geil“, verursachten keinerlei Zweifel an der Regierungsfähigkeit von Kurz.
Ja, sie darf!
Zum Glück gab es im Fall Sanna Marin auch eine Gegenbewegung zum Shitstorm. Mit dem Hashtag #SolidaritywithSanna posteten Frauen Tanz- und Party-Videos auf Instagram. Und auch auf Twitter gab es viel Support für Sanna Marin. Die US-Journalistin Joyce Karam kommentiert den Doppelstandard, der auf Marin angewandt wird, auf Twitter wie folgt:
Doppelstandards führen dazu, dass Frauen verunsichert und daran gehindert werden, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Individuell ist das tragisch, aber auch gesellschaftlich verlieren wir alle, wenn wir Frauen mittels ungleicher Maßstäbe klein halten.
Die Diskussion rund um Sanna Marin liefert ein Paradebeispiel für die unterschiedlichen Maßstäbe, mit denen wir weibliche und männliche Politiker:innen messen. Frauen werden deutlich kritischer beurteilt als Männer, das zeigt auch eine aktuelle Studie der US-Sozialwissenschaftler Joseph Grenny und David Maxfield. Das Aussehen von weiblichen Politikerinnen wird öfter kommentiert als das von ihren männlichen Kollegen. Sexismus und Frauenhass treten in den deutlich vermehrten Hassnachrichten, die weibliche Politikerinnen bekommen, ungeniert zu Tage.
Wenig verwunderlich, dass es sich viele Frauen lieber zweimal überlegen, den Schritt in die Politik zu wagen. Dabei wäre es dringend nötig, dass mehr Frauen für politische Ämter kandidieren. Um die Herausforderungen unserer Generation zu bewältigen, brauchen wir nämlich Regierungen und Staatschef:innen, die die Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden. Das beginnt bei den Listen der Kandidatinnen für diese Ämter.
Es ist höchste Zeit, unsere gesellschaftliche Einstellung und insbesondere geschlechterbasierte Vorurteile in Bezug auf angemessenes Verhalten von Politiker:innen auf den Prüfstand zu stellen. Lassen wir es nicht unreflektiert und unkommentiert, wenn sich für das höchste Amt dieses Landes nur Männer bewerben.
SOFIA SURMA ist Feministin, Gründerin und Vulva-Enthusiastin. Seit sie 2018 Viva La Vulva gegründet hat, beschäftigt sie sich intensiv mit der Enttabuisierung weiblicher* Sexualität und der Vulva. Auch als Gründerin des Vulva Shops setzt sie sich für die Gleichberechtigung und die Enttabuisierung der weiblichen* Sexualität ein.