Der Selenskyj-Staatsbesuch: Aufregung im Austro-Informationsraum

Eigentlich verlief der Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Österreich nach Plan: Man sprach über wirtschaftliche Kooperation, den Wiederaufbau der Ukraine, die von Russland entführten Kinder und (was viele besonders erzürnte) man zeigte sich verbal klar solidarisch mit dem angegriffenen Land – und zwar (mit nur einer, wenig überraschenden Ausnahme) über Parteigrenzen hinweg. Obwohl das eigentlich auch eine ungenaue Aussage ist, denn dies gilt ausschließlich für die im Parlament vertretenen Parteien. Otto Bruckner, stellvertretender Vorsitzender der linksaußen, sowjetnostalgischen „Partei der Arbeit“ Österreichs (PdA), schreibt in der Zeitung der Arbeit (Auszüge):
„Mehrere Medien verbreiten die Nachricht, dass der ukrainische Kriegsherr und Diktator Wolodymyr Selenskyj am 16. Juni auf Staatsbesuch nach Österreich kommen soll.“
„Seit die aktuelle Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und NEOS die Außenpolitik in die Hände der politischen Abenteurer der radikal-antirussischen NEOS gelegt hat, begibt sich Österreich auf der internationalen Bühne immer stärker ins Lager der Kriegshetzer.“
„Was immer Selenskyj in Wien machen wird, er möge uns mit seiner Kriegspropaganda verschonen. Warum immer die Außenministerin diesen Kriegshetzer eingeladen hat, sie möge uns mit ihrer NATO-Propaganda verschonen.“
Kritik von rechts und links
Starke Reaktionen gab es freilich auch von rechter Seite, schon als die ersten, damals noch unbestätigten Meldungen über den Staatsbesuch die Runde machten. Die FPÖ polterte in einer Presseaussendung: „Österreich darf nicht zur Bühne für Kriegspropaganda werden – Neutralität schützt vor Eskalation!“, „Selenskyj-Auftritt ist außenpolitische Provokation!“, Österreich würde im Falle einer Eskalation zur „Zielscheibe“ werden.
Es lohnt sich, die gesamte Aussendung zu lesen, denn nicht nur, was darin geschrieben steht, sondern auch was sich darin nicht findet, gibt viel Aufschluss über die Haltung der FPÖ. Klubobmann Herbert Kickl sagte laut der Aussendung, „wer als Bundeskanzler oder Außenministerin einseitig die ,Propagandabühne‘ für Kriegsparteien eröffnet, mache sich und das ganze Land zur politischen Marionette fremder Interessen“. Kickl schaffte es mit seiner Kritik an dem Staatsbesuch sogar auf den Telegramkanal des berüchtigten Propagandisten des staatlichen russischen Fernsehens, Wladimir Solowjow.
Hat die FPÖ sich eigentlich auch dermaßen beschwert, als man Wladimir Putin über viele Jahre, auch nach der Annexion der Krim und während der (pseudoverdeckten) militärischen Intervention in den östlichen ukrainischen Oblasten Luhansk und Donetsk immer wieder die „Propagandabühne“ gegeben hat? Wurde beim Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi davor gewarnt, dass man sich zur Zielscheibe machen könne, weil Indien ja mit Pakistan einen immer wieder auch heißen Konflikt austrägt?
Interessant ist auch der Begriff „Zielscheibe“, der in diesem Zusammenhang nicht nur von der FPÖ ins Spiel gebracht wird: Die Initiative „Stimmen für Neutralität“ teilte auf ihrer Website und auf ihrem Facebookprofil die Ankündigung zu einem Protest gegen den Selenskyj-Besuch. Darin heißt es unter anderem:
„Der Besuch Selenskyjs ist Wasser auf den Mühlen der anhaltenden EU-Kriegsrhetorik und einer unheilvollen Konfrontationspolitik. Wir brauchen Frieden. Auch mit Russland.
Wir wollen keine Auf- und Hochrüstung! Kein Geld für Waffen! Für einen starken Sozialstaat!
Österreich darf durch einseitige Parteinahme keine Zielscheibe werden.“
Die Initiative „Stimmen für Neutralität“ würde man, betrachtet man die Proponenten, die auch auf der Website gelistet sind, eher weniger in der rechten Ecke verorten. KPÖ, Kommunistische Internationale, Gewerkschaftlicher Linksblock, Liste Petrovic, ein „Veteran der Umwelt- und Friedensbewegung“. Auch Peter Kolba, ehemals Abgeordneter der Liste Pilz und vor seiner Pensionierung beim Verein für Konsumenteninformation (VKI), wird unter den Proponenten genannt, er war auch einer der Sprecher der Protestkundgebung gegen den Selenskyj-Besuch.
Dort wurde neben Friedensfahnen auch die weiße Fahne geschwenkt, während unterschiedliche Sprecherinnen und Sprecher ihre ganz eigene Sicht der Weltlage zum Besten gaben – mit dabei auch eine Vertreterin des Maßnahmen- und impfkritischen Bündnisses „MFG“. Sie wiederholte immer wieder, dass Österreich immerwährend neutral sei und der Ukraine keine finanziellen Zusagen machen dürfe. Das Publikum scheint unterschiedliche Hintergründe zu haben, ein Herr mit „MAGA“-Kappe (Donald Trumps „Make America Great Again“-Bewegung) und einem Schild mit den Worten „Für den Weltfrieden“ umgehängt, lauscht den Redebeiträgen. Eine Dame hat ihre politische Botschaft auf ihrem T-Shirt aufgedruckt: „UKRAINE NATO PUPPET REGIME KILLING DONBAS’S CHILDREN SINCE 2014! STOP FINANCING TERRORISTS IN KIEV!“ – eine typische russische Propaganda-Botschaft mit Bezug auf das Jahr 2014, bei der die damals noch pseudoverdeckte russische Aggression im Osten der Ukraine umgedeutet wird.
Szenenwechsel Social Media
Auf fast allen Social-Media-Kanälen österreichischer Medien, die über den Staatsbesuch berichten, breitete sich ein unübersehbarer Schauer an Hasskommentaren aus. Das manifestierte sich nicht nur in den Kommentarspalten, sondern auch in den sogenannten Reactions. Wütende Emojis und hämische Lachgesichter stellten bei fast allen Postings die absolute Mehrheit der Reaktionen dar. Wie und warum kommt so etwas zustande?
Zuerst muss man feststellen, dass die Propaganda gegen die Ukraine, die ja bereits über ein Jahrzehnt auf Hochtouren läuft, offen wie subtil, ihre Wirkung gezeigt hat, auch bei realen Menschen, bis in die Mitte der Gesellschaft. Empfänglich für russische Narrative sind nicht nur ganz rechte, sondern auch ganz linke, verschwörungstheoretische, esoterische, teilweise auch einschlägig wirtschaftlich interessierte Zielgruppen sowie die alte Friedensbewegung. Diese war traditionell relativ sanft gegenüber Moskau und hart gegenüber dem Westen eingestellt, vorsichtig ausgedrückt. Hier sprechen wir nur über das tatsächlich vorhandene Potenzial realer Menschen als Kommentatoren.
Eine Vielzahl der Trollkommentare scheint sich nur auf wenige, meist fast deckungsgleiche Messages zu beschränken: „Wir sind neutral“, „Das verstößt gegen die Neutralität“, „Warum will der Bettler unser Geld, wir haben keines“. Wesentlich seltener als üblich sind die typischen Rechtfertigungsnarrative für die Invasion oder die verzerrte „Vorgeschichte“, welche den Angriff 2022 relativieren soll, zu sehen. Ebenso relativ deutlich zu sehen ist, dass ein großer Anteil der negativen Kommentare aus dem weit rechten Spektrum kommt, viele haben auf ihren Profilen auch Inhalte gepostet, die den Klimawandel leugnen oder sich immer noch an den Pandemiemaßnahmen abarbeiten. Wir wissen, dass spätestens seit 2014, nach der Annexion der Krim, auch organisiert getrollt wird, wenn es gegen die Ukraine und für Russland geht. Hier sprechen wir aber auch von ideologisch motivierten, realen Menschen, die sich in Gruppen, Chats und früher noch in einschlägigen Foren organisierten.
Bei einigen Profilen, die sich zum Selenskyj-Besuch geäußert haben, ist es aber generell fragwürdig, ob es sich überhaupt um reale Menschen handelt: „Ich bin kein Feind von Russland hat mir nichts getan , Österreich muss Russland viel verdanken. Ich bin kein Freund von der Ukraine, Ein schwarzer Tag für Österreich. Ich glaube wir haben denn größeren Feind hier in der EU die NATO.“ Unabhängig vom Inhalt wirkt der Text nicht gerade, als ob er von jemandem mit Deutsch als Muttersprache formuliert wurde, während der Name des Profils dies aber suggeriert. Ein genauer Blick auf den Account zeigt, dass der Großteil der Freundesliste aus leichtbekleideten Damen – offensichtlichen Spam-/Scam-Accounts – besteht, es keinen Hinweis auf Aktivitäten vor dem Jahr 2022 und auch sonst keine Inhalte gibt.
Die Reaktionen auf Social Media stellen also einen Mix aus realen Menschen, tatsächlich existierenden, aber organisiert kommentierenden Personen und internationalen Trollfarmen dar. Russland nutzt dafür längst auch billige Arbeitskräfte in Niedriglohnländern und bucht diese für den Informationskrieg, wie man Söldner für den realen, kinetischen Krieg buchen kann. Mit der Flutung der Kommentarspalten werden zwei Ziele verfolgt: Einerseits soll die öffentliche Meinung manipuliert werden, andererseits geht es um die Erzeugung einer „manipulierten öffentlichen Meinung“. Die Bevölkerung soll schlicht denken, dass die Mehrheit tatsächlich so denkt und man ein „Außenseiter“ wäre, wenn man kein Problem mit dem Staatsbesuch des Präsidenten der Ukraine hat. Noch mehr sollen natürlich Politikerinnen und Politiker an diese „manipulierte öffentliche Meinung“ glauben, denn schließlich sind sie auf Wählerstimmen angewiesen, und so könnte das zukünftige Handeln (im Sinne Russlands) beeinflusst werden.
Berichterstattung in den Medien
In den österreichischen Medien gab es vergleichsweise wenig „Abgründe“ rund um den Selenskyj-Besuch. Die Platzsperre wurde exzessiv angekündigt, die wichtigsten Statements der Pressekonferenz wurden analysiert, und die Ukraine stand für einen Tag ein wenig mehr im Fokus als sonst. Natürlich kann man sich die Frage stellen, warum im Jahr 2025 ein Journalist der Kronen Zeitung den ukrainischen Präsidenten tatsächlich fragt: „Was halten Sie von der Neutralität und ist das eventuell eine Lösung, die auch für die Ukraine attraktiv wäre?“, während der russische Imperialismus gegenüber der Ukraine durch Worte wie Taten seit Jahren nachweislich als Kriegsmotiv sichtbar ist.
Im Vorfeld zum Besuch, der damals aus Sicherheitsgründen noch nicht offiziell war, fragte Conny Bischofberger in der Kronen Zeitung die österreichische Außenministerin Beate Meinl-Reisinger: „Aber werden die ohnehin schon belasteten Beziehungen zu Russland dadurch nicht noch mehr belastet?“, worauf die Ministerin auf den durchaus bestehenden Dialog, die OSZE, UN und den Umstand, dass es an Russland liegt, die Beziehungen geradezubiegen, hingewiesen hat.
Zusammenfassend könnte man aber trotzdem sagen: „Gut is gangen, nix is g’schehn“, keine Koalition ist zerbrochen, Österreich wurde überraschenderweise auch nicht angegriffen, Selenskyj ist nach Kanada weitergereist, und es gab auch keinen „Express-NATO-Beitritt“. Eine Frage bleibt aber: Wie gehen wir künftig mit Angriffen auf den Informationsraum um, die sich speziell bei außenpolitischen Themen weit über den Social-Media-Bereich hinaus erstrecken und das Ergebnis einer jahrzehntelangen Unterwanderung und subversiver Aktivitäten feindlicher Akteure sind? Das wird mit Sicherheit eine Mammutaufgabe sein, denn die bisherigen Regierungen haben noch zu oberflächlich, zu zaghaft, wenn überhaupt, das Thema Desinformation und ausländische Einflussnahme behandelt, obwohl es ein für unsere liberale Demokratie existenzielles Problem darstellt.
Die Auswirkungen der Nicht-Reaktion Österreichs auf die massive Kampagne, die Russland 2014 gegen Europa und insbesondere die Ukraine intensiviert hat, ebenso wie auf die bis heute nicht aufgearbeitete sowjetische Propaganda, die auch uns betroffen hat, werden uns noch lange beschäftigen.
DIETMAR PICHLER ist freiberuflicher Analyst und Berater für Desinformation, Subversion, Foreign Interference und strategische Kommunikation. Er ist Gründer der Initiative Disinfo Resilience Network, Vizepräsident der NGO „VIEGO.eu“ und Redakteur bei inved-insight.eu. Pichler war bereits Gastvortragender an der International Humanitarian University in Odesa, der International Media Academy Berlin, der Universität Wien, der FH Wien sowie bei diversen internationalen Fachkonferenzen.