Die Bewaffnung von Zivilisten: „Proxy-Bombing“, die neue Front der psychologischen Kriegsführung
Der russisch-ukrainische Krieg definiert die Art und Weise, wie moderne Kriege geführt werden, grundlegend neu, wobei zwei technologische Fortschritte besonders hervorstechen: Drohnen und das sogenannte Proxy-Bombing.
Während der weit verbreitete Einsatz von Drohnen sowohl in der Ukraine als auch in Russland die Schlagzeilen und die Verteidigungsstrategien beherrscht (vor allem nach der beispiellosen Operation Spider’s Web in der Ukraine), wird die stellvertretende Bombardierung (Proxy-Bombing) in den gängigen europäischen Diskussionen weitgehend übersehen.
Bei dieser Taktik, die weniger auf kinetische als vielmehr auf psychologische Wirkung abzielt, werden Einzelpersonen rekrutiert, die – wissentlich oder unwissentlich – im Namen einer Kriegspartei Anschläge verüben, die in der Regel sozial bedeutsame Infrastrukturen oder Einzelpersonen zum Ziel haben. Ziel ist nicht nur physischer Schaden, sondern vor allem Angst, Verunsicherung und Destabilisierung in der Gesellschaft. Die Täter agieren dabei als „Stellvertreter“ (engl. proxy) und werden häufig über das Internet rekrutiert, manipuliert oder erpresst.
Angesichts der äußerst destabilisierenden psychologischen Wirkung von Proxy Bombing müssen die europäischen Regierungen und Gesellschaften damit beginnen, sie als ernstzunehmende Komponente der Grauzonen-Kriegsführung zu behandeln – eine Komponente, die bei einer künftigen Eskalation der russischen Aggression gegen Europa über die Ukraine hinaus wahrscheinlich in großem Umfang eingesetzt werden wird.
Praktiken in Russland und der Ukraine
In Russland und der Ukraine werden Proxy-Bombings in der Regel gegen militärische Rekrutierungszentren, Polizeistationen, Banken, Bahnhöfe, Umspannwerke, Regierungsbüros und andere ähnliche Einrichtungen eingesetzt.
Die Ukraine oder proukrainische Kräfte setzen Proxy-Bomber auch als Vergeltung für aggressive anti-ukrainische Propaganda oder Kriegsverbrechen ein, die während des Krieges begangen wurden.
So überreichte beispielsweise im April 2023 eine unwissende Frau dem russischen Pro-Kriegs-Blogger Vladlen Tatarsky eine Statuette mit einer Bombe, die kurz darauf detonierte und ihn tötete.
Im Mai 2025 ermordeten Unbekannte den russischen Armeeoffizier Zaur Gurtsijew, der während der Einnahme von Mariupol im Jahr 2022 die Luftoperationen befehligt hatte, mit einer sogenannten homosexuellen Honigfalle, bei der ein „Date“ unwissentlich einen Sprengsatz in seiner Tasche mit sich führte.
Während proukrainische Akteure den Einsatz von Proxy-Bombings auf Russland und die von Russland besetzten ukrainischen Gebiete beschränkt haben, haben russische Agenten solche Taktiken zunehmend auch außerhalb der Ukraine eingesetzt, insbesondere in Ländern, die Moskau offiziell als „unfreundlich“ betrachtet, wozu fast ganz Europa gehört.
Im Vereinigten Königreich beispielsweise bot ein mit Russland verbundenes Telegram-Netzwerk Belohnungen in Kryptowährung für gewalttätige Angriffe, einschließlich Bombenanschlägen, auf muslimische Gemeinden an, mit dem klaren Ziel, Chaos in einem Land zu säen, das die Ukraine stark unterstützt.
In Litauen hat ein manipulierter ukrainischer jugendlicher Flüchtling einen Brandanschlag auf eine IKEA-Filiale verübt, nachdem ihm der russische Militärgeheimdienst eine finanzielle Belohnung versprochen hatte – alles in dem Bestreben, in einem weiteren europäischen Land, das die Ukraine nachdrücklich unterstützt, Angst zu verbreiten.
Rekrutierung und operative Techniken
Die Rekrutierung scheint der schwierigste Teil der Proxy-Bombings zu sein. Während monetäre Belohnung und wirtschaftliche Ausbeutung nach wie vor die am weitesten verbreiteten Anreize bei diesen Grauzonen-Aktivitäten sind, umfassen andere wichtige Taktiken Social Engineering, Indoktrination, Erpressung und Nötigung.
Nehmen wir den Fall eines 14-jährigen ukrainischen Mädchens in Ternopil: Russische Agenten nahmen sie über Telegram ins Visier, als sie auf der Suche nach schnellem Geld war. Dann hackten sie ihr Telefon, entdeckten explizite Fotos und erpressten sie, einen improvisierten Sprengsatz zusammenzubauen, der in der Nähe eines Polizeigebäudes platziert werden sollte – sie selbst sollte bei einer ferngesteuerten Detonation getötet werden, um ein Massensterben zu verursachen.
Eine immer wiederkehrende Taktik der russischen Drahtzieher ist es, Proxy-Bomber in menschliche Bomben zu verwandeln.
Um potenzielle Rekruten zu finden, suchen russische Agenten Online-Plattformen auf, auf denen Einzelpersonen – vor allem Teenager – mit Jobangeboten schnelles Geld verdienen wollen, sowie politische Foren, in denen die Nutzer anonym ihre Meinung äußern und mitunter ihre Bereitschaft signalisieren können, bestimmte Anliegen offline zu unterstützen.
Die operative Methode ist oft spielerisch. Russische Agenten beginnen in der Regel mit der Zuweisung einfacher Aufgaben – die als „Missionen“ oder „Quests“ an Rollenspiele erinnern –, bei denen es vielleicht „nur“ darum geht, anti-ukrainische Graffiti an öffentlichen Plätzen in der Ukraine zu malen. Nach der Meldung des Abschlusses einer „Mission“ erhalten die neuen Rekruten kleine Zahlungen, vorwiegend in Kryptowährung.
Mit zunehmender Schwere und Illegalität der „Missionen“ steigt die Höhe der Belohnungen entsprechend. Gleichzeitig können die Agenten die vorherigen „Missionsberichte“ der Rekruten als Kompromat nutzen und drohen sie bloßzustellen, wenn sie versuchen, das „Spiel“ zu verlassen, nachdem sie durch die Art der nachfolgenden Aufgaben alarmiert wurden.
Die Herausforderung unserer Zeit
Moderne Proxy-Bombings, an denen oft unwissende, manipulierte oder gezwungene Zivilisten beteiligt sind, sind ein erschreckend wirksames Instrument der psychologischen Kriegsführung.
Ein wesentlicher Teil seiner Wirksamkeit liegt in der Privatsphäre, die durch sichere Messaging-Apps (wie Telegram, Zangi und andere) und die relative Anonymität von Kryptowährungstransaktionen gewährleistet wird.
Diese Faktoren machen es extrem schwierig – und in der Regel unmöglich –, Agenten zu identifizieren oder den Rekrutierungsprozess zu unterbrechen. Infolgedessen wird die Bekämpfung von Proxy-Bombings weitgehend zu einer Frage der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit, des digitalen Bewusstseins und vor allem der Bildung, da russische Agenten zunehmend auf Jugendliche abzielen, für die eine rechtliche Abschreckung aufgrund ihres Alters und ihrer relativen Unerfahrenheit weniger wirksam ist.
Eine bemerkenswerte Gegenmaßnahme gegen Grauzonenoperationen ist eine ukrainische Sensibilisierungskampagne mit dem Titel „Out the FSB Operative“ (wobei FSB für den russischen Föderalen Sicherheitsdienst steht), die von den ukrainischen Sicherheitsbehörden entwickelt wurde.
Durch persönliche Besuche in Schulen und Universitäten sowie durch Lehrvideos fordert die Kampagne die Schüler auf, über einen speziellen Telegram-Chatbot alle Versuche russischer Agenten zu melden, die sie für bösartige „Aufträge“ rekrutieren wollen.
Zwischen Dezember 2024 (als der Chatbot gestartet wurde) und Mai 2025 erhielten die ukrainischen Sicherheitsdienste mehr als 5.000 Meldungen über Online-Rekrutierungsversuche, die sich gegen Ukrainer richteten.
Die Kampagne, die insbesondere Prominente einbezieht, um ihre Sichtbarkeit unter jungen Menschen zu erhöhen, spiegelt einen „gesamtgesellschaftlichen“ Ansatz wider, um gegen russische psychologische Operationen gewappnet zu sein.
Sie ist eine von vielen Lehren, die die europäischen Gesellschaften aus den Erfahrungen der Ukraine ziehen können, wenn sie sich auf eine wahrscheinliche Eskalation der russischen Grauzonen-Kriegsführung gegen Europa vorbereiten.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Englisch auf EU Observer.
ANTON SHEKHOVTSOV ist Politikwissenschaftler und forscht zu Faschismus, Extremismus und Propaganda. In seinem Buch „Russia and the Western Far Right: Tango Noir“ widmet er sich den Verbindungen zwischen dem Kreml und europäischen Rechtsparteien.