Die Denkfehler der Abtreibungsgegner
Ein Urteil des Supreme Court bringt ungewollt schwangere Frauen in den USA in Bedrängnis. Welche Argumente haben Gegner eines „Rechts auf Abtreibung“ auf ihrer Seite, und was taugen diese?
Bisher war es Frauen in den USA aufgrund einer höchstgerichtlichen Entscheidung seit 1973 erlaubt, bis zur 24. Schwangerschaftswoche abzutreiben. Nun wird die Frage der Zulässigkeit einer Abtreibung in die juristische Verantwortung der einzelnen Bundesstaaten übergeben. Das führt zu einer Verschlechterung der rechtlichen Situation betroffener Frauen.
In Österreich ist es zwar nach wie vor illegal abzutreiben, die 1975 in Kraft getretene „Fristenlösung“ ermöglicht aber dennoch eine straffreie Abtreibung innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn einer Schwangerschaft, darüber hinaus nur unter bestimmten Bedingungen.
Kein „Recht auf Abtreibung“?
Diejenigen, die ein „Recht auf Abtreibung“ bestreiten, bringen vor allem vier Argumente in die Debatte ein, die sich unter dem Akronym „SKIP“ versammeln lassen: Spezies, Kontinuität, Identität und Potenzialität.
Das Argument der „Spezies“
Ein menschliches Wesen – und dazu zählt aus Sicht der Vertreter von „Pro Life“ bereits die von einem Spermium befruchtete Eizelle – ist per se schützenswert und darf daher nicht getötet werden. Warum jedoch Individuen der Spezies Homo sapiens einen Wert an sich und zugleich einen höheren darstellen sollen als diejenigen anderer Spezies, z.B. Hühner, Schweine, Rinder oder Schimpansen, wird nicht ausgeführt. Mit Letzteren teilen wir uns fast 100 Prozent der DNA.
Zu Recht kann den Anhängern dieses Arguments, in Analogie zu den Begriffen Rassismus und Sexismus, „Speziesismus“ vorgeworfen werden, also die Bevorzugung einer bestimmten Spezies. Das Argument selbst ist zirkulär: Auf die Frage „Warum ist ein menschlicher Embryo oder Fötus schützenswert?“ lautet die Antwort: „Weil es sich dabei um einen Menschen handelt“. Damit wird nichts erklärt, sondern bloß die Position wiederholt, dass ein Mensch schützenswert ist – auch wenn es sich um einen Embryo oder Fötus handelt. (Ab der zehnten Schwangerschaftswoche wird ein Embryo als Fötus bezeichnet.) Um dieses Argument sinnvoll verwenden zu können, müssten seine Anhänger begründen, was den Wert der Mitgliedschaft in der Spezies Homo sapiens ausmacht und worin der moralisch relevante Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Spezies besteht.
Das Spezies-Argument beruht meist auf einer religiösen Überzeugung jener, die es verwenden. Der Mensch, so lautet ihre Position etwa, sei die „Krone der (göttlichen) Schöpfung“ und würde daher eine bessere Behandlung verdienen als andere Lebewesen. Doch selbst wenn man den deskriptiven Teil dieser Aussage teilt, hängt der normative immer noch in der Luft: Denn aus einem Sein lässt sich kein Sollen ableiten. Ein Schluss auf eine moralische Norm ist nur dann möglich, wenn bereits mindestens eine der Prämissen selbst ein normativer Satz ist. Das trifft auf den Satz „Der Mensch ist die Krone der Schöpfung“ aber nicht zu. Und ohne den Glauben an einen Gott und seine moralische Befehlsgewalt ließe sich die normative Prämisse „Die Krone der Schöpfung darf nicht getötet werden“ nicht als verbindlich annehmen.
Genau genommen ist die Verbindlichkeit selbst bei einem Glauben an einen Schöpfergott nicht automatisch gegeben. Denn es ließe sich die Frage stellen: „Warum sollten die Gebote Gottes für mich verbindlich sein, wo ich doch theoretisch mit guten Gründen auch gegen sie handeln könnte?“
Das Argument der „Kontinuität“
Gemäß dem Argument der „Kontinuität“ entwickelt sich die mit einem Spermium befruchtete Eizelle – eine „Zygote“ – kontinuierlich zu einem Menschen. Es findet keine relevante Zäsur statt, bis zu welcher eine Abtreibung moralisch zulässig wäre.
Dieses Argument scheint auf den ersten Blick plausibel, übersieht aber, dass es trotz einer mehr oder weniger kontinuierlichen Entwicklung Zeitpunkte gibt, zu denen bestimmte Entwicklungsschritte noch nicht erfolgt sind. So ist vor allem die Etablierung jener anatomischen Strukturen, die zu bewusstem Empfinden von Schmerz nötig sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vor der 30. Schwangerschaftswoche abgeschlossen. Mit Sicherheit ist dieser Prozess jedoch noch nicht in der 20. Woche der Schwangerschaft beendet, und schon gar nicht davor.
Das Argument der „Identität“
Das Argument der „Identität“ behauptet, dass die befruchtete Eizelle dasselbe Individuum ist wie der spätere Erwachsene, der aus ihr entstanden sein wird, weil beide über dasselbe Genom verfügen.
Auch das mag zwar, oberflächlich betrachtet, stimmen. Dennoch stimmt die Identität eines erwachsenen Menschen mit der eines Embryos bzw. eines Fötus ausschließlich auf Basis desselben Genoms nur sehr beschränkt überein. Die Eigenschaften, mit der ein „moralischer Wert“ eines Individuums oft begründet wird, kommen erst im Laufe der individuellen Entwicklung hinzu. So ermöglicht erst ein nach der Geburt entwickeltes Selbstbewusstsein und die darauf beruhende Autonomie, eigene Entscheidungen zu treffen und zu realisieren, Erfahrungen zu sammeln, sich zu erinnern, Pläne für die Zukunft zu machen und ein Interesse am Weiterleben auszubilden.
Außerdem ist bei der Befruchtung einer bestimmten Eizelle noch nicht sicher, ob es nicht zu einer eineiigen Mehrlingsschwangerschaft kommt. In diesem Fall ließe sich eine Identität bestenfalls im Rückblick, jedoch nicht aus Sicht der Zygote in die Zukunft projiziert behaupten.
Das Argument der „Potenzialität“
Ein Embryo bzw. Fötus trägt, so das Argument der „Potenzialität“, bereits die Möglichkeit in sich, später ein eigenständig lebensfähiger Mensch zu werden, den wir nicht töten dürfen. Es sei daher unmoralisch, den Träger dieser Potenzialität zu töten.
Dieses Argument ist deshalb nicht überzeugend, weil wir sogar bereits geborenen Menschen nicht zu jedem Zeitpunkt dieselben juristischen (oder moralischen) Rechte zugestehen. So hat zwar ein Österreicher bis zum vollendeten 34. Lebensjahr potenziell das Recht, sich irgendwann zum Bundespräsidenten wählen zu lassen. Aktuell hat er dieses Recht aber erst ein Jahr später, nämlich mit der Vollendung des 35. Lebensjahres.
Was beim Argument der Potenzialität außerdem übersehen wird: Nicht jede befruchtete Eizelle wächst zu einem Menschen heran, der geboren wird und ein hohes Alter erreicht. Viele der befruchteten Eizellen schaffen es gar nicht, sich in der Gebärmutter einzunisten, ohne dass dies den betreffenden Frauen auffällt.
Wollen und Sollen
Wenn sich aus einem Sein nicht auf ein Sollen schließen lässt – wie kann man dann überhaupt eine moralisch relevante Position begründen, die das Töten eines Menschen verbietet?
Die einzige plausible Antwort auf diese Frage lautet: Es muss ein Wollen bestehen (oder zumindest bereits bestanden haben und wieder zum Vorschein kommen können, z.B. bei Menschen, die derzeit schlafen oder im Koma liegen) – und zwar nicht irgendwann in der Zukunft, wie dies das Argument der „Potenzialität“ in Anspruch nimmt, sondern gegenwärtig, um ein „Sollen“, hier: ein Tötungsverbot zu legitimieren.
Ein Embryo bzw. Fötus, der aktuell weder Schmerzempfinden noch den Wunsch etablieren kann, nicht getötet zu werden, um Pläne für die Zukunft zu realisieren, die er ohne Ich-Bewusstsein noch gar nicht entwickeln konnte, kann nichts wollen. Deshalb kann ihm gegenüber auch kein moralisch relevantes Sollen begründet werden, welches dem Wollen der schwangeren Frau vorgezogen werden muss.
Aus liberaler Sicht müssten die Gegner eines „Rechts auf Abtreibung“ erklären, warum sie einer Frau im Falle einer unerwünschten Schwangerschaft verbieten können sollten abzutreiben und ihr damit ihre Handlungsfreiheit zu nehmen. Logisch konsistente Argumente, die auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, können sie dafür nicht aufbieten. Die Überzeugungen der Vertreter der „Pro Life“-Position beruhen auf (religiösen) Dogmen und Denkfehlern.
GEORG SCHILDHAMMER ist Philosoph und Autor. Er unterrichtet an einer privaten Universität sowie an mehreren Fachhochschulen. Seine Schwerpunkte sind Ethik und Wissenschaftstheorie. Schildhammer lebt in Wien.