Europas Weg zur digitalen Autonomie

Der Science-Fiction-Roman Walkaway von Cory Doctorow erzählt die Geschichte einer Welt in naher Zukunft, die mit einer Klimakatastrophe, extremer Ungleichheit und der Kontrolle durch die skrupellosen, ultrareichen Eliten („zottarich“, wie Doctorow es ausdrückt, oder kurz „zottas“) zu kämpfen hat.
Diese dystopische Welt ist die „Standardrealität“, und der Roman folgt einer Gruppe von Charakteren, die den „Standard“ ablehnen und sich von ihm abwenden, um mithilfe fortschrittlicher Technologien, einschließlich 3D-Druck und Open-Source-Zusammenarbeit, autarke Enklaven aufzubauen. Solche Aussteiger (oder eben „Walkaways“) ziehen Dezentralisierung, Autonomie und technologische Freiheit den hierarchischen Strukturen des „Standards“ vor, die durch gewinnorientierte Überwachung und Manipulation aufrechterhalten werden, was zu einem existenziellen Konflikt zwischen „Walkaways“ und „Zottas“ führt.
Soziale Medien als „digitale Marktplätze“
Es ist daher kaum überraschend, dass Doctorow zu einem der prominenten Unterstützer des kürzlich gestarteten Projekts „Free Our Feeds“ wurde, das darauf abzielt, ein offenes, vernetztes Social-Media-Ökosystem zu entwickeln, das die Kontrolle der Nutzer in den Vordergrund stellt und sich der Beherrschung durch eine einzelne Entität widersetzt. Robin Berjon, einer der Initiatoren des Projekts, erklärte: „Dies ist der Moment, um die sozialen Medien zurückzugewinnen. Wie bei der Schaffung öffentlicher Straßen und gemeinsamer Räume in unseren Städten müssen wir in eine digitale Infrastruktur investieren, die einem Gesellschaftsvertrag unterliegt – zum Nutzen aller, nicht nur einiger weniger.“
Die Initiative hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Die großen sozialen Medien von heute, die einst als „digitale Marktplätze“ für offene Diskussionen, Debatten und gemeinschaftliches Engagement gepriesen wurden, haben sich zunehmend als Schauplätze für Manipulationen entpuppt, die von Profit und (oft extremistischen) politischen Agenden angetrieben werden.
Von Oligarchen kontrollierte soziale Medien erfüllen öffentliche Funktionen, ohne die Interessen der Öffentlichkeit zu priorisieren, sei es in Bezug auf die psychische Gesundheit, den politischen Diskurs oder die Privatsphäre. Die Eigentümer dieser Plattformen, die – viel früher als viele von uns – die immense wirtschaftliche und politische Macht der Kontrolle von als „Marktplätze“ getarnten Medien erkannt haben, berücksichtigen bei ihren Entscheidungen kaum jemals das Gemeinwohl.
Wie Doctorow in Walkaway schrieb: „Die Zottas versuchen, sich von der Menschheit abzuspalten. Sie sehen ihr Schicksal nicht mit unserem verbunden. Sie glauben, dass sie sich politisch, wirtschaftlich und epidemiologisch isolieren, sich auf eine Anhöhe über den steigenden Meeren begeben und ihre Nachkommen mit Harrier-Jets zeugen können.“ Ersetzen Sie „Harrier-Jets“ durch „SpaceX-Raumschiffe“, und Sie werden die „Standardrealität“ von Walkaway näher an unsere bringen.
Zigaretten statt Zuckerl?
Da sich so viele von uns weiterhin auf Social Media Feeds – geformt von undurchsichtigen Algorithmen – verlassen, als Quelle des Wissens und des Verständnisses für den Verlauf aktueller gesellschaftspolitischer Diskussionen, finden wir uns in einer erschreckenden Realität früher Tabakwerbekampagnen wieder, in denen behauptet wurde, dass Camel-Produkte „von Ärzten bevorzugt werden“, oder in denen Menschen, insbesondere Frauen, ermutigt wurden, „zu einer Lucky statt zu einem Bonbon zu greifen“.
So wie wir heute über diese Tabakkampagnen die Nase rümpfen, werden künftige Generationen – falls die Menschheit die Klimakrise und die geopolitischen Umwälzungen überlebt – bitter über das Vertrauen lachen, das wir oligarchischen sozialen Medien entgegengebracht haben, um unser Leben, unsere Politik und unsere Gesellschaft zu beeinflussen.
Die Entscheidung großer westlicher Social-Media-Plattformen, die Zusammenarbeit mit unabhängigen externen Faktenprüfern zu beenden – was als Haltung gegen Zensur dargestellt wird, obwohl Faktenprüfer nie die Macht hatten, Beiträge zu zensieren oder zu entfernen – ist das jüngste Beispiel dafür, dass Social-Media-Bosse selbst die schwächsten Beschränkungen für die Manipulation und Kontrolle von Informationen aufheben.
Dieser Schritt wird mächtigen böswilligen Akteuren auf der ganzen Welt noch mehr Möglichkeiten bieten, falsche gesellschaftliche Konflikte zu konstruieren, und damit die gemeinsamen Bemühungen zur Bekämpfung politischer Korruption und zur Verteidigung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit weiter untergraben.
Aber wo ist Europas Stimme in dieser Informationskrise?
Der Digital Services Act als politisches Druckmittel
Im Dezember 2023 leitete die Europäische Kommission eine Untersuchung ein, um zu prüfen, ob X (ehemals Twitter) gegen den Digital Services Act, die EU-Verordnung für große Online-Plattformen, „in Bereichen wie Risikomanagement, Moderation von Inhalten, Dark Patterns, Transparenz von Werbeeinnahmen und Datenzugang für Forscher“ verstoßen hat.
Nachdem der US-amerikanische Oligarch Elon Musk öffentlich seine Unterstützung für rechtsextreme Parteien in Europa, darunter die AfD, bekundet hatte, intensivierte die Kommission ihre Untersuchung und forderte X auf, interne Unterlagen zu seinen Empfehlungsalgorithmen vorzulegen. Die Frist für X endete am 15. Februar 2025. Allem Anschein nach hat X diese Frist verpasst.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Unternehmen – oder sein Eigentümer – europäische Gesetze und Vorschriften eklatant missachtet. Noch beunruhigender ist jedoch das Gefühl, dass die Europäische Kommission die Durchsetzung des Digital Services Act politisiert hat. Es gibt glaubwürdige Gründe für die Annahme, dass die Kommission die Untersuchung gegen X absichtlich verlangsamt hat, um Donald Trump nach seiner Rückkehr ins Weiße Haus nicht zu verärgern. Doch nachdem Trump der EU Zölle auferlegt hatte, signalisierte die Kommission, dass sie gegen Musks Plattform eine Geldstrafe von mehr als einer Milliarde US-Dollar verhängen könnte.
Jetzt, da Trump die meisten Zölle für 90 Tage ausgesetzt hat – und die Kommission ihre eigenen Vergeltungsmaßnahmen als Reaktion auf seine Kehrtwende im Handel ausgesetzt hat – könnte auch der Druck auf X ausgesetzt werden. Dieses politische Durcheinander seitens der Kommission schadet der Glaubwürdigkeit Europas sowohl nach außen als auch nach innen zutiefst. Die europäische Zivilgesellschaft scheint den heutigen Herausforderungen im Informationsbereich weitaus besser gewachsen zu sein als Brüssel selbst. So kündigen beispielsweise dutzende österreichische und deutsche Universitäten ihre Mitgliedschaft bei X, da die Plattform mit Werten wie Offenheit, wissenschaftlicher Integrität, Transparenz und demokratischem Diskurs unvereinbar sei.
Europas florierende Zukunft
Die europäischen Eliten müssen dringend erkennen, dass sie sich dem umfassenden Informationsnotstand stellen müssen, der durch die Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht in den Händen nicht gewählter und letztlich nicht rechenschaftspflichtiger ausländischer Informationsmanipulatoren entsteht.
Es ist keine wilde Annahme mehr, dass soziale Medien in Zukunft zunehmend als eine Form der Staatsbürgerschaft fungieren werden. Schon jetzt rühmen sich Social-Media-Plattformen, als Räume für den öffentlichen Diskurs, die politische Partizipation und das Engagement in der Gemeinschaft zu dienen – allesamt Schlüsselelemente der Staatsbürgerschaft. Was wird europäische „Social-Media-Staatsbürgerschaft“ bedeuten, wenn der Social-Media-Raum von ausländischen Plattformen dominiert wird?
Es ist daher höchste Zeit, dass die EU Initiativen wie das Projekt „Free Our Feeds“ untersucht und eine eigene Plattform schafft, die sich für Rechenschaftspflicht einsetzt, Falschinformationen bekämpft und dem öffentlichen Interesse dient, in Übereinstimmung mit den Werten der EU in Bezug auf Privatsphäre, Transparenz und Inklusivität.
Man könnte sich drei wesentliche Elemente einer solchen Plattform vorstellen:
- Erstens müssten alle Nutzer ihre Identität verifizieren, um teilnehmen zu können, was die Rechenschaftspflicht fördert und missbräuchliches oder schädliches Verhalten verhindert.
- Zweitens könnten die Algorithmen der Plattform konstruktive, bildende und gemeinschaftsorientierte Diskussionen fördern, die der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen, anstatt Profit oder spaltende Inhalte zu priorisieren.
- Drittens könnte die Plattform durch die Zusammenarbeit mit unabhängigen Faktenprüfern die Verbreitung von Fehlinformationen/Desinformation einschränken.
Die Schaffung eines strategisch wichtigen Assets wie einer neuen Plattform mag eine anspruchsvolle Aufgabe sein, aber wie eines der allgemeinen Argumente von Doctorow in Walkaway lautet: „Wenn du dir keine bessere Welt vorstellen kannst, steckst du in der Welt fest, die du hast.“
Und Europa kann es sich nicht leisten, in einem Zustand der digitalen Realität festzustecken, der es einem zukünftigen Europa nicht ermöglicht, zu florieren.
ANTON SHEKHOVTSOV ist Politikwissenschaftler und forscht zu Faschismus, Extremismus und Propaganda. In seinem Buch „Russia and the Western Far Right: Tango Noir“ widmet er sich den Verbindungen zwischen dem Kreml und europäischen Rechtsparteien.