Gefangenenaustausch mit Autokratien – ein Fehler?
Im Sommer 2024 ging ein großer Gefangenenaustausch mit Russland durch die Medien. Er wurde von vielen als Erfolg gefeiert. Manche bezeichnen ihn sogar als „diplomatisches Meisterstück“. Aber ist er das wirklich? Wieso der Austausch von Verbrechern gegen Fake-Gefangene willkürliche Festnahmen in Autokratien verursacht und gleichzeitig Spione und Attentäter ermutigt. Eine strategische Analyse.
Fake gegen echt: Ein spieltheoretisches Problem
Bei Gefangenenaustauschen mit autoritären Regimen zeigt sich, gerade in den letzten Jahren, ein gravierendes Ungleichgewicht. Echte Verbrecher – wie Waffenhändler oder Attentäter – werden von liberalen Demokratien gegen „Fake-Gefangene“ aus Autokratien ausgetauscht.
Als echte Verbrecher kann man all jene bezeichnen, die objektiv strafbare Handlungen begangen haben. Der beste Maßstab für Objektivität ist dabei, ob die Tat in den meisten Rechtsordnungen der Welt als Verbrechen angesehen und dementsprechend hart bestraft wird. Dazu zählen etwa Sabotage, Mord und aktive Spionage, also die Weitergabe geheimer Informationen an fremde Mächte.
Im Gegensatz dazu stehen all jene, die willkürlich aufgrund erfundener oder irrelevanter Handlungen verurteilt werden. Sie sind keine echten Straftäter, sondern nur „Fake-Gefangene“, also Unschuldige, die aus politischen Gründen inhaftiert sind. Gemeinsam ist ihnen eine politisch angeordnete Anklage und die Abwesenheit einer unabhängigen Justiz, gepaart mit einer bereits vor dem Prozessbeginn feststehenden Schuld.
Ein typisches Beispiel sind aus der Luft gegriffene Spionagevorwürfe, oft gegen Journalisten. Leider kann von außen nicht immer eindeutig beurteilt werden, was tatsächlich vorgefallen ist. Die auffällige Abwesenheit von Beweisen im Verfahren spricht dabei aber Bände. Dies wiegt umso stärker, weil greifbare Beweise den Regimes oft in ihrer medialen Propaganda helfen würden. Werden sie nicht präsentiert und ausgeschlachtet, existieren sie also höchstwahrscheinlich auch nicht. Eine andere Variante sind unverhältnismäßig harte Strafen für kleinste, normalerweise nicht verfolgte Vergehen. In der Vergangenheit waren das etwa Drogenbesitzvorwürfe für harmlose Substanzen oder handelsübliche Medikamente.
Autokratien können mangels fairer Gerichte praktisch nach Belieben und ohne Aufwand neue Gefangene produzieren. Demokratische Staaten hingegen müssen im Austausch echte Verbrecher freilassen, deren Festnahme und Verurteilung viel Zeit und Ressourcen gekostet hat. Vor allem aber haben diese Personen einen tatsächlichen Schaden angerichtet. Dieses Ungleichgewicht führt zu einem spieltheoretischen Problem.
Strategie in Theorie und Praxis
Die optimale Strategie für autoritäre Regimes ist dabei sehr einfach: Sie können kontinuierlich neue Gefangene „erfinden“. Diese werden dann als unbegrenzt vorhandene, kostenlose Verhandlungsmasse in Gefangenenaustauschen eingesetzt. Eine Strategie, die etwa Wladimir Putin mit der Basketballerin Brittney Griner – ausgetauscht gegen den Waffenhändler Wiktor But – oder dem Journalisten Evan Gershkovich als Teil des aktuellen Austauschs sehr erfolgreich angewendet hat.
Jahre zuvor ging China bereits ähnlich vor: Kurz nachdem die Huawei-Finanzvorständin Meng Wanzhou wegen Betrugs in Kanada festgenommen wurde, hat der chinesische Staat kurzerhand zwei kanadische Staatsbürger wegen unkonkreter Spionagevorwürfe angeklagt und zu langen Haftstrafen verurteilt. Diese beiden wurden dann als Verhandlungsmasse verwendet, um Meng Wanzhou aus Kanada freizupressen.
Besonders perfide auch im aktuellen Fall: Im Zuge der Verhandlungen über den gerade stattgefundenen großen Gefangenenaustausch wollte Putin unbedingt den sogenannten Tiergartenmörder freibekommen. Dieser war in Deutschland inhaftiert, wo kein Interesse an der Freilassung eines verurteilten Verbrechers bestand. Zufälligerweise ist just zu diesem Zeitpunkt der deutsche Staatsbürger Rico K. aufgrund von vermutlich erfundenen Vorwürfen im russischen Wasallenstaat Weißrussland in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt worden. Dies wurde in Deutschland medienwirksam ausgeschlachtet. Jetzt ist der Deutsche Teil des Gefangenenaustauschs. Keine wirkliche Überraschung. Die zeitliche Nähe und die außergewöhnlich schnelle Verurteilung lassen hier eigentlich nur einen Schluss zu: ein weiterer „Fake-Gefangener“ wurde als Verhandlungsmasse geschaffen und dann sofort eingetauscht.
Dieser simplen Strategie haben demokratische Staaten bisher nichts entgegenzusetzen – ein Ungleichgewicht, das gnadenlos ausgenutzt wird.
Verbrechen werden attraktiv
Darüber hinaus führt die Situation zu einer gefährlichen Änderung der Abschreckung für zukünftige Straftaten. Die Aussicht auf schnelle Freilassung erleichtert Diktatoren die Rekrutierung von Agenten für riskante Operationen, da deren persönliches Risiko minimiert wird. Selbst nach einer Festnahme ist die Freiheit im Austausch gegen einen „Fake-Gefangenen“ meist nur wenige Monate oder Jahre entfernt. Diese Praxis macht es für Autokratien einfacher, auch Personen ohne tiefe Überzeugung für kriminelle Aktivitäten gegen eine liberale Demokratie zu gewinnen. De facto entsteht eine Straffreiheit für Verbrechen im Interesse der Autokratie. Dies senkt die Hemmschwelle drastisch und macht risikoreiche Operationen attraktiver. Langfristig ist zu erwarten, dass dies zu einer Zunahme von Spionage, Sabotage und anderen kriminellen Aktivitäten im Interesse ausländischer Mächte führt.
Austausch nur mit echtem Gegenwert
Eine mögliche Lösung für die Problematik der Gefangenenaustausche mit Autokratien wäre es, sich auf den Austausch echter Gefangener zu konzentrieren. Statt „Fake-Gefangene“ als substanzielle Verhandlungsmasse zu akzeptieren, sollte man darauf bestehen, tatsächliche Regimegegner oder Geheimdienstmitarbeiter freizubekommen. Im Fall Russlands könnte dies beispielsweise Personen betreffen, die für den ukrainischen Geheimdienst tätig waren oder bekannte Regimegegner. Zwar erfolgt die Verurteilung von Letzteren im Normalfall auch nur anhand von willkürlichen Vorwürfen, aber immerhin können prominente Regimegegner wegen der langjährig aufgebauten öffentlichen Bekanntheit nicht beliebig aus dünner Luft gezogen werden.
Diese Strategie hat den Vorteil, das Spielfeld zu ebnen und die Anreize zur willkürlichen Festnahme von Personen in Diktaturen zu reduzieren. Allerdings birgt dieser Ansatz auch Herausforderungen. Innenpolitisch kann er für demokratische Regierungen unpopulär sein, da der Fokus nicht mehr auf dem Austausch von eigenen Staatsbürgern läge, sondern auf ukrainischen und russischen Bürgern – oder beliebige andere Nationalitäten, je nachdem mit welcher Autokratie man verhandelt.
Trotz dieses Nachteils überwiegen die langfristigen Vorteile, denn ein wesentlicher Pluspunkt dieser Strategie ist die Schaffung positiver Anreize für Regimegegner. Ihnen wird signalisiert, dass ihre Bemühungen anerkannt werden und sie im Falle einer Gefangennahme eher ausgetauscht werden. Dies könnte dazu führen, dass mehr Menschen bereit sind, gegen ein Regime vorzugehen oder für westliche Geheimdienste zu arbeiten. Langfristig könnte dies die Position demokratischer Kräfte in autokratischen Regimen stärken.
Erwartbare Reaktion
Bei der Adaptierung dieser Vorgehensweise muss aber auch gleich die Reaktion mitbedacht werden. Es ist zu erwarten, dass Diktatoren als Gegenstrategie versuchen, medienwirksam auf den Austausch von „Fake-Gefangenen“ als Verhandlungsmasse zu drängen. Diesen Austausch würden liberale Demokratien dann folgerichtig ablehnen. Autokratische Regimes werden diese Ablehnung dann propagandistisch ausnutzen, indem sie den beteiligten Regierungen Desinteresse an der Befreiung der eigenen Bürger vorwerfen. Ein perfekter Weg, um die Wut auf die eigene Regierung zu kanalisieren und extremistischen Randparteien in demokratischen Ländern politische Angriffsfläche zu bieten.
Autokratien könnten auch gezielt Kampagnen zur Freilassung von „Fake-Gefangenen“ innerhalb der betroffenen demokratischen Länder initiieren. Solche Kampagnen können unabhängig vom Urheber einen enormen Druck erzeugen und demokratische Regierungen in ein Dilemma zwingen: Zustimmung zum Austausch oder Verlust politischen Kapitals bei einer Ablehnung. Ein Beispiel für die Macht einer solchen Initiative ist etwa die Kampagne zur Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit, organisiert durch seine Eltern. Er wurde schlussendlich als einzelner Soldat gegen 1.027 gefangene Palästinenser ausgetauscht, darunter auch mehrere Personen, die Jahre später am Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 federführend beteiligt waren.
Und eine weitere, nicht zu unterschätzende Folge: Politiker verzichten bei einer Ablehnung von Gefangenenaustauschen auf kurzfristige diplomatische Erfolge, die sehr medienwirksam präsentiert werden können. Dies mag langfristig sinnvoll sein, widerspricht aber oft den unmittelbaren politischen Interessen der Entscheidungsträger. Auch hier ist ein Blick auf den aktuellen Fall interessant: Aufseiten der USA war Präsident Joe Biden monatelang persönlich in die Verhandlungen involviert und feierte das Ergebnis am Ende als großen Erfolg.
Kommunikationsstrategie anpassen
Liberale Demokratien können darauf am besten mit einer Änderung der Kommunikation rund um mögliche Gefangenenaustausche reagieren. Der Schlüssel hierzu ist eine klare und konsequente Botschaft: In Autokratien verurteilte Ausländer sind in den meisten Fällen lediglich Fake-Gefangene. Diese Formulierung unterstreicht die Annahme, dass gezielt Menschen festgenommen werden, um sie später gegen tatsächliche Straftäter austauschen zu können.
Um diese Sichtweise in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern, ist es wichtig, diesen Frame kontinuierlich zu wiederholen. Durch die ständige Wiederholung kann sich diese Perspektive in den Köpfen der Menschen festsetzen. Daraus entstehen zwei wesentliche Vorteile: Zum einen nimmt es innenpolitischen Akteuren, die aus kurzsichtigen Motiven für Gefangenenaustausche werben, den Wind aus den Segeln. Zum anderen würde es die diplomatische Position stärken, zusätzlich zu den „Fake-Gefangenen“ auch die Freilassung echter Gefangener glaubwürdig fordern zu können.
Keine Fake-Gefangenen mehr
Aber führt die neue Strategie dazu, dass es zukünftig keine „Fake-Gefangenen“ mehr gibt? Einerseits würde es den Autokratien definitiv die Möglichkeit nehmen, diese Gefangenen als Verhandlungsmasse zu nutzen. Dies könnte durchaus einen Rückgang solcher Inhaftierungen zur Folge haben. Gerade die beiden Kanadier in China wären so vermutlich nie belangt worden.
Allerdings gibt es auch andere Gründe, warum Diktaturen Menschen unrechtmäßig festhalten. Oft dienen solche Verhaftungen entweder der Einschüchterung oder als Machtdemonstration nach innen. Diese Motive würden weiterhin bestehen, selbst wenn sie nicht mehr für Gefangenenaustausche relevant sind. Es bleibt daher unklar, in welchem Ausmaß die Gesamtzahl der „Fake-Gefangenen“ reduziert wird. Hier lässt sich allerdings ein einfacher Grundsatz zu Rate ziehen: Dinge müssen nicht perfekt sein, um gut zu sein. Selbst wenn es nur zu einer teilweisen Reduktion kommt, ist es begrüßenswert.
Demokratische Regierungen müssen hart daran arbeiten, ein ebenes Spielfeld bei Gefangenenaustauschen zu erzeugen. Dazu ist vor allem eine Strategieänderung nötig: Kein Austausch mehr, bei dem Demokratien nur „Fake-Gefangene“ zurückbekommen. Es ist wichtig, weiterhin darauf zu bestehen, diese unschuldig Verurteilten im Zuge von Deals freizubekommen. Sie dürfen jedoch nicht mehr der Hauptbestandteil des Deals sein, sondern nur eine zusätzliche Bedingung. So sinkt ihr Wert für die Autokraten und damit der Anreiz, weiter „Fake-Gefangene“ zu schaffen.
Die Botschaft nach innen und außen muss klar sein: Wir lassen niemanden im Stich und forcieren einen Austausch, wann immer möglich. Aber wir lassen uns dabei nicht über den Tisch ziehen!
RAPHAEL FRITZ ist IT-Unternehmer mit Fokus auf AI. Er war schon als Kind ein Bücherwurm, der nach dem Studium Hörbücher für sich entdeckte. So lässt sich sein Wissensdurst in den Bereichen Technologie, Politik, Philosophie, Wissenschaft und Persönlichkeitsentwicklung trotz eines hektischen Alltags hervorragend stillen. Knapp 70 Hörbücher und 5 gedruckte Bücher pro Jahr liefern dabei einen guten Pool, um hervorragende Empfehlungen abgeben zu können. Die meisten davon werden auf Englisch gelesen oder gehört. Ausnahmen gibt es primär, wenn Deutsch die Originalsprache ist.