Identität in der Vielfalt: Brauchen wir eine Leitkultur?
Im Zuge der Globalisierung, der angestiegenen Migrationsbewegung nach Europa, der sichtbar zunehmenden Präsenz der muslimischen Kultur und Religion in unserer multikulturellen Gesellschaft gibt es seit einiger Zeit europaweit eine zunehmende Betonung von nationaler, ethnischer, kultureller und mitunter auch religiöser Identität.
Politisch instrumentalisiert wird dieses Bedürfnis für gewöhnlich von konservativen, aber auch rechtspopulistischen Gruppen. Angesichts des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Herkunft, Kulturen und Religionen erhebt sich die Frage, inwieweit das Bewusstsein einer nationalen Identität für das Funktionieren eines Staates, der Demokratie und den sozialen Zusammenhalt überhaupt notwendig ist. Das heißt: Kann man von allen in einem Staat lebenden Bürgern erwarten und einfordern, sich zu einer kollektiven kulturellen Identität zu bekennen? Oder ist es für ein demokratisches Gemeinwesen schon ausreichend, wenn sich alle Staatsbürger an die Gesetze halten und die grundlegenden sozialen Verhaltensregeln respektieren?
So taucht angesichts der anhaltenden Herausforderung der Integration von Zuwanderern in die Mehrheitsgesellschaft immer wieder auch die Forderung nach der staatlichen Vorgabe einer „Leitkultur“ auf. Wie auch jüngst, als die Volkspartei offensichtlich im Hinblick auf die bevorstehende Nationalratswahl in einer Social-Media-Kampagne einige Sujets zu einer sogenannten Leitkultur propagierte. Dabei zeigte sich, dass eine vor allem anhand von volkstümlichen Traditionen und Gebräuchen definierte Leitkultur zu einer gesellschaftlichen Norm erhoben und mit einem unmissverständlichen Anpassungsdruck verbunden werden sollte („Wer sich nicht anpasst, soll gehen!“). Damit sollte die Leitkultur vor allem der Abgrenzung gegenüber den im Land lebenden Angehörigen anderer Kulturen und Religionen dienen. Abgesehen von dieser Instrumentalisierung bleibt die Debatte um die sogenannte Leitkultur wohl eher eine akademische Diskussion, die an der breiten Bevölkerung vorbeigeht.
Den Begriff „Leitkultur“ hat paradoxerweise der syrische Islamwissenschaftler Bassam Tibi, der schon lange Zeit in Deutschland lebt, in den neunziger Jahren in die politische Debatte eingeführt. Darunter wurde ein nationaler Konsens über europäische Werte verstanden, der innerstaatlich als Integrationskonzept für muslimische Zuwanderer dienen sollte: Nur mit einer solchen Leitkultur der säkularen Gesellschaft wäre ein friedliches Zusammenleben auch mit dem Islam in Europa möglich. Während in Deutschland diese Debatte seit Jahren lebhaft geführt wird, spielte das Konzept Leitkultur in Österreich nur bei der Einführung von Werte- und Orientierungskursen für anerkannte Flüchtlinge eine gewisse Rolle.
Leitkultur der Rechtsstaatlichkeit
Besonders befürwortet wird eine Leitkultur meist von jenen, die sich für die „Bewahrung des christlichen Abendlands“ starkmachen, wobei oft weniger religiöse Motive, sondern eher konservative bis nationalistische oder auch nur nostalgische Beweggründe im Vordergrund stehen. Wer jedoch die Kultur des freien Westens gegen tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen verteidigen will, muss in erster Linie die eigenen Zivilisationsanforderungen einhalten, zu denen vor allem Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Toleranz im Allgemeinen gehören.
Doch mit diesen Grundwerten einer freien und pluralistischen Gesellschaft tun sich auch in Europa, siehe den starken Rechtspopulismus, immer mehr Menschen und mitunter auch politische Amtsträger sichtlich schwer, und das hat gar nicht immer mit der Migration zu tun. In einer spürbar angestiegenen allgemeinen Unduldsamkeit, die eine Folge von zeitlicher, persönlicher und moralischer Überforderung, mangelnder Bildung und Empathie sein dürfte, haben das unreflektierte Vorurteil und das aggressive Ressentiment in der öffentlichen Auseinandersetzung oft den Anschein des Richtigen. Da wird schon einmal eine sehr verengte nationalistische Sicht von Leitkultur zur allgemeingültigen Staatsräson erklärt und damit Vielfalt und Toleranz krampfhaft zurückzufahren versucht.
Diese eher nationalistische und folkloristische Sicht von Leitkultur und Identität, die vielleicht glaubt, dem Volk, der Nation und dem Staat etwas Gutes zu tun, ist in den vergangenen Jahren in vielen Ländern zur Leitkultur eines kleinbürgerlichen Rechtspopulismus geworden, der so mit politischen Mehrheiten kalkuliert. Gleichzeitig stellt sich aber auch im Sinne der nationalen Selbstvergewisserung die grundsätzliche Frage: Was zählt alles zu einer Leitkultur, wie weit oder wie konkret ist diese definiert? Ist damit nur die Übereinstimmung mit den staatlichen Grundwerten wie Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Gleichbehandlung etc. gemeint oder auch die Beachtung von kulturellen Normen, Sitten und Traditionen?
Vermittlung staatlicher Grundwerte
Die verpflichtende Orientierung an einer Leitkultur bis hin zur Anpassung an heimische Lebensgewohnheiten wird insbesondere angesichts der Integration von muslimischen Migranten in die europäischen Gesellschaften eingefordert. Differenzen und Widersprüche zu den Normen der Mehrheitsgesellschaft ergeben sich hier nicht nur auf kultureller und religiöser Ebene, sondern vor allem auch im Bereich der Grund- und Menschenrechte (Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Rechte von Kindern, Achtung des Privat- und Familienlebens, Schutz vor Gewalt).
Die Respektierung dieser Grund- und Freiheitsrechte etwa auch innerhalb des Familienverbands (Stichwort Rechte von muslimischen Mädchen) muss der Staat mit all seinen Mitteln einfordern. Das müsste sichergestellt werden, vor allem im Interesse der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ja, es gibt mitunter Unvereinbarkeiten von Sitten, Kulturen und Rechtsauffassungen muslimischer Einwanderer mit der heimischen Rechts- und Gesellschaftsordnung.
Hier bedarf es wohl manchmal des aufmerksamen Hinschauens etwa in Kindergärten und Schulen, wie Kinder vor allem in sozial benachteiligten Migrantenfamilien aufwachsen. Da besteht die klare Verantwortung eines Rechtsstaats europäischer Prägung zur Durchsetzung sozialer Rechte und Pflichten und zur Vermittlung staatlicher Grundwerte – im Interesse aller Beteiligten und auch der Schaffung eines einheitlichen Rechtsbewusstseins. Das wäre eine Leitkultur, die allen Menschen im Land nützt. Ob dagegen Migranten den Einheimischen die Hände schütteln, ist ziemlich unerheblich.
Denn es gibt in Österreich keine nach der Verfassung rechtsverbindlichen Umgangsformen, und solche soll es auch nicht geben – das wäre autoritär und bevormundend. In einem freien Land herrscht die Freiheit von Lebensstilen, das wollen vor allem auch die aufgeklärten einheimischen Bürger. Doch es gibt sehr wohl sozial und kulturell geltende Werte für das gesellschaftliche Zusammenleben. Wer sich nicht an allgemeine Verhaltensnormen und Sitten hält, wird sich mit sozialer Akzeptanz schwertun, muss das Land aber selbstverständlich nicht verlassen. So viel sollte in einem Rechtsstaat klar sein.
Anstatt eine sogenannte Leitkultur nur zum Zweck der Abwehr von unerwünschten Zuwanderern und ihrer Kultur einzusetzen, ist es aber für die Integration durchaus sinnvoll, den in Staat und Gesellschaft geltenden Katalog von Grundrechten sowie die weithin anerkannten Grundwerte, Normen und Sitten einzufordern und in allgemeinverständlicher und einladender Form zu propagieren – auch als Maßstab für die Einbürgerung von Zuwanderern (für die es ja eine Prüfung in Staatsbürgerkunde gibt), aber vielleicht auch für das Selbstverständnis der angestammten Bevölkerung, für die manches ja auch nicht immer so klar ist.
Verfassungskultur als Verantwortung
Dabei würde es gerade jenen politischen Bewegungen, die sich gerne auf das abendländische Erbe Europas berufen, nur gut zu Gesicht stehen, die Verfassungsordnung europäischer Prägung, die mit ihren Grundprinzipien Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Würde jedes Menschen seit der Nachkriegszeit den bewährten Rahmen für Frieden, Sicherheit und Wohlstand bildet, als Leitkultur eines Staates bewusst zu kultivieren. In diesem Sinn wäre die Leitkultur die Gesamtheit des historisch gewachsenen und gegenwärtig von der überwiegenden Mehrheit der Staatsbürger akzeptierten Rechts-, Staats- und Gesellschaftsverständnisses, das als Grundlage der nationalen Identität dienen kann.
Das heißt nicht, dass alle in einem Staat lebenden Bürger mit allen sozialen und kulturellen Normen übereinstimmen müssen. Kritik, Widerspruch und Gegenentwürfe müssen in einem freien Staat und einer zivilisierten Gesellschaft zulässig sein. So gibt es in jedem modernen Land mehrere nebeneinander existierende Lebenskulturen, die ihre Grenzen jedenfalls in der Verfassungsordnung finden. Neben dieser rechtlichen Grundordnung gibt es aber als unverzichtbare Voraussetzung für das friedliche und produktive Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft eine Verfassungskultur im Sinn der gelebten Verantwortung der Bürger für ihren Staat und das Gemeinwohl.
Eine in der Praxis ausgeübte Verfassungskultur zeigt sich demnach nicht nur in der Wahrnehmung des Wahlrechts und der Beachtung der demokratischen Grundordnung, sondern auch in der gelebten Mitgestaltung öffentlicher Agenden und in einem bürgerschaftlichen Engagement für die Gesellschaft – in Bürgerinitiativen, Sozialprojekten, im Naturschutz oder im Nachbarschaftszentrum. Diese Kultur der Verantwortung kann gerade auch in Zeiten von Desintegration und Vereinzelung die Gesellschaft zusammenhalten.
Integration als beiderseitige Verpflichtung
Die seit einigen Jahren anhaltende Migrationsbewegung nach Europa mit all ihren mitunter problematischen Begleiterscheinungen und den bei der Wohnbevölkerung hervorgerufenen Unsicherheiten und Ängsten hat auch in Österreich die Notwendigkeit des Gelingens der Integration von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten eindrücklich vor Augen geführt.
Dabei müssen die Bemühungen um Integration von beiden Seiten – den Migranten selbst sowie der Aufnahmegesellschaft – gesetzt werden, um diese Entwicklung von der Eingliederung der Kinder in das Schul- und Bildungssystem über den Spracherwerb aller Familienangehörigen bis zur Teilnahme am Arbeitsmarkt auch zu einem für alle Seiten erfolgreichen Ausgang zu führen. Denn ein Gelingen der Integration von Zuwanderern liegt vor allem im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts, zunehmend auch der Verfügbarkeit der dringend benötigten Arbeits- und Fachkräfte sowie nicht zuletzt der Sicherung des Generationenvertrags. Deshalb besteht für den Staat eine regelrechte Verpflichtung zur Integration von legal ansässigen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten. Aber wird diese öffentliche Aufgabe auch erfüllt?
Für Flüchtlinge mit Asylrecht, Asylwerber (mit guter Bleibeperspektive) und Migranten mit Aufenthaltsrecht wird die Pflicht zur Integration durch vorgeschriebene Sprach- und Wertekurse und deren Koppelung an den Bezug von Sozialleistungen eingefordert. Dabei wird versucht, den Kursteilnehmern in drei Einheiten von je acht Stunden die für das Leben in Österreich wichtigen Grundwerte von Staat und Recht, Menschenwürde, Grundrechte, Landeskultur und im gesellschaftlichen Alltag maßgebliche Werthaltungen und Sitten zu vermitteln. Angesichts der immer wieder betonten Wichtigkeit von Integration und Anpassung scheinen die 24 Stunden Wertevermittlung aber jedenfalls viel zu wenig zu sein.
Ein für die Integration wirksames Anforderungs- und Förderungskonzept müsste außerdem viel mehr Aus- und Weiterbildungsangebote und den Zugang zum Arbeitsmarkt auch für Asylwerber in der Grundversorgung beinhalten, um diese nicht untätig herumsitzen zu lassen. Immerhin sollen künftig auch Asylwerbern im Interesse ihrer Integration staatliche Grundwerte in Kursen vermittelt und sie auch zu gemeinnützigen Arbeiten angehalten werden. Zur nachhaltigen Annahme einer Leitkultur wäre aber nicht zuletzt wohl auch die Staatsbürgerschaft für hier geborene Kinder von Migranten eine wirksame Option – als Motivation zur Identifikation und Integration und jedenfalls eine demokratiepolitische Selbstverständlichkeit.
Soziale Bürger-Kultur statt volkstümlicher Folklore
Die Sehnsucht nach sozialer und persönlicher Zugehörigkeit sollte jedenfalls nicht zur Erhöhung von traditioneller Folklore zur nationalen Lebenskultur und damit zu einer provinziellen geistigen Verengung führen. Das will wahrscheinlich auch die Mehrheit der angestammten Bevölkerung nicht. Vielmehr geht es um Leitbilder der österreichischen Lebenskultur, die auch in der pluralistischen Vielfalt der modernen Welt Relevanz haben wie etwa eine gelingende Integrationskultur. So sollte eine Gesellschaft, die sich ihrer eigenen rechtlichen und kulturellen Werte selbst bewusst ist, normalerweise andere Kulturen auch nicht ausschließen, sondern respektvoll anerkennen und integrieren – im beiderseitigen Interesse.
Eine solche inklusive Leitkultur wird von Zuwanderern auch akzeptiert werden und kann die Basis für ein friedliches Zusammenleben im Staat und damit unsere „Leitkultur“ oder besser: „soziale Bürger-Kultur“ sein. Und wenn man es mit einer solchen wirklich ernst meint, wäre nichts besser geeignet als etwa die staatliche Förderung eines gemeinsamen bürgerschaftlichen Engagements von Einheimischen und Zuwanderern in der Zusammenarbeit in Kindergärten, Schulen, Freizeit- und Sportvereinen oder Kulturevents. Dort, wo dies an der Basis bereits gut funktioniert, will auch niemand den jeweils anderen die eigene Kultur aufzwingen.
Und, last but not least, sollten die großflächige Förderung von klimaneutraler Produktion und entsprechender Arbeitsplätze sowie auch Beispiele von Klimaschutzprojekten in den Gemeinden und gelingendem Landschaftsschutz oder die Förderung der Produktion von Bio-Ernährung als Bausteine der ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zu anschaulichen Teilen einer zukunftsorientierten neuen Leitkultur der Nation als Umwelt-Musterland in Europa werden.
ANDREAS KRESBACH ist Jurist im Öffentlichen Dienst und Autor in Wien.