Islam und Republik müssen sich erklären
Eine Hukm bezeichnet im Islam ein Urteil, Gottes Willen, jedenfalls ist sie verbindlicher als die im breiten Sprachgebrauch bekannte Fatwa, die nur als Rechtsauskunft gilt. Bei der von Ayatollah Khomeini 1989 ausgesprochenen Anweisung, Salman Rushdie zu töten, dürfte es sich um eine Hukm gehandelt haben, die bis heute gilt. Dass diese Anordnung weder effektiv außer Kraft gesetzt wurde noch verjährt ist, beweist weniger das Attentat vom 12. August 2022 auf den Autor selbst, als die Reaktionen in der islamischen Welt darauf.
Ob es sich dabei um eine bloße Rechtsauskunft oder eine konkrete Anweisung gehandelt hat, die zu diesem versuchten Mord geführt hat, mag von theologischer Relevanz sein, für aufgeklärte Gesellschaften ist es unerheblich. Aus einer konsequenzialistischen Perspektive legt der Sachverhalt, dass Straftaten ihren Ursprung in religiösen Ideologien haben, freiheitlichen, demokratischen Staaten zwei Fragen auf: Stehen diese Verbrechen in direktem Zusammenhang mit der Religion? Und wenn ja, warum werden diesen Religionen, ihren Institutionen und Anhängern in offenen Gesellschaften Ausnahmen aus sonst allgemein gültigen Gesetzen, also eine privilegierte Stellung im Staat eingeräumt?
Im Umkehrschluss: Sollte bei diesem Verbrechen kein Zusammenhang zum Islam bestehen, liegt offensichtlich für Nichtmuslime – aber vermutlich auch für Muslime selbst – ein Problem vor, nachvollziehbar und präzise abzugrenzen, welche Einstellungen, Aussagen und Handlungen islamisch sind und welche nicht. Reicht dieser Umstand, um islamische Entitäten in die Pflicht zu nehmen und hier eine Bringschuld festzustellen?
Progressiver Relativismus
In der kulturrelativistischen Tradition westlicher Progressiver wird der Zusammenhang zwischen Gewalt, Mord und Religion oft ausgeblendet oder auch einfach geleugnet. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kommentierte die Ereignisse im Iran Ende September im Bundestag wie folgt:
„Wenn das iranische Regime im Namen der Religion Frauen niederknüppelt, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit Religion zu tun! Es ist Ausdruck eines Machtsystems, das auf Erniedrigung & Gewalt basiert.“
Sie bezog sich auf protestierende Frauen, die ihre Verschleierung ablegten, nachdem wenige Tage zuvor die junge Iranerin Mahsa Amini von der Polizei totgeschlagen wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen hatte. Mittlerweile führten die Proteste zu weit mehr als hundert Todesopfern.
Jetzt kann man natürlich behaupten, dass das korrekte Tragen eines Kopftuchs mit dem Islam nicht in Zusammenhang steht. Die Beweislast dieser Behauptung liegt dann aber bei derjenigen, die diesen Zusammenhang in Abrede stellt, der sich konträr zur allgemein üblichen Auslegung dieser Korrelation verhält.
Mit einer Sache hat Baerbock trotzdem recht: Es handelt sich tatsächlich um ein Machtsystem, das auf Erniedrigung und Gewalt basiert. Seine Gesetze und deren Exekution wurzeln aber in der Religion; der Iran gilt bekanntlich als verfassungsgemäße Theokratie. Der Islam bildet auch in mehr als 20 anderen Ländern die Grundlage einer Staatsreligion, die zu einer ideologischen Kongruenz von Politik und Religion führt.
Europäischer Fatwa-Rat
Die Austauschbarkeit von weltlichen und religiösen Gesetzen in islamischen Staaten mit ihren Staatsreligionen bedeutet aber nicht, dass Fatwas ein Phänomen darstellen, das auf die islamische Welt beschränkt ist. Der Islam ist auch Teil europäischer Gesellschaften und in seiner organisierten Form naturgemäß interessiert daran, seine Lehren, Rechtsmeinungen und Anordnungen auch zumindest unter seinen Anhängern zu verbreiten – wie jede andere Religion auch. In einigen Ländern wird der Versuch unternommen, den Islam über theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten zu kontrollieren, aber die Ausbildung ist nicht auf diese Institutionen beschränkt.
Die Politikwissenschafter Nina Scholz und Heiko Heinisch, Experten im Bereich des politischen Islam, erläutern in einem Artikel in der FAZ, dass auch vom Institut Européen des Sciences Humaines (IESH), das von der – der Muslimbruderschaft nahestehenden – FIOE (Federation of Islamic Organisations in Europe) gegründet wurde, Islamlehrer für mehrere europäische Länder ausgebildet werden. Wenig überraschend gibt es personelle Überschneidungen zu anderen religiösen Organisationen: Einer der Dekane ist etwa auch stellvertretender Generalsekretär des European Council for Fatwa and Research (ECFR), dem europäischen Fatwa-Rat mit Sitz in Dublin und Leeds, der es sich zur „Aufgabe gemacht hat, die Anwendung islamischer Normen auf europäische Verhältnisse zu übertragen, also hier lebenden Muslimen Ratschläge zu erteilen und Fatwas zu erstellen.“ Die beiden Politikwissenschafter weisen auch darauf hin:
„Der Fatwa-Rat verteidigt in seinem Gutachten ausdrücklich das Recht islamischer Staaten, Apostaten nach der Scharia zu verurteilen und hinzurichten.“
Diese islamischen Lehrmeinungen sind mit europäischen Rechtssystemen nicht kompatibel. Trotzdem wird der Islam in vielen Staaten gefördert und gegenüber nichtreligiösen Weltanschauungen privilegiert.
Radikale Randphänomene?
Selbstverständlich verurteilen viele islamische Verbände, Institutionen und Muslime, die in aufgeklärten Demokratien leben, Gräueltaten, die im Namen Allahs ausgeführt werden; was aber nicht gelingen kann, ist, die oben genannten Beispiele von Mahsa Amini und Salman Rushdie als etwas hinzustellen, was mit der Religion nichts zu tun hat. Es handelt sich schon angesichts der Folgeverbrechen um keine Einzelfälle.
Der Zentralrat der Ex-Muslime (aktiv in Deutschland und Großbritannien) und seine Mitglieder können das anhand der Lebensgeschichten zahlreicher Apostaten, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, religionskritischer Äußerungen und anderer Inkompatibilitäten mit Religionsgesetzen aus islamischen Staaten geflüchtet sind, belegen.
Aber die Verfolgung endet nicht an den Grenzen der islamischen Welt: Die Fatwa gegen Salman Rushdie mündete in eine jahrzehntelange, weltweite, mit einem Kopfgeld von mehreren Millionen US-Dollar unterlegte Treibjagd, die schon zu anderen Attentaten (auch mit tödlichem Ausgang) geführt hat. Der Auftrag zum Mord ist ohne Zweifel eine islamische Angelegenheit, die von nennenswerten Teilen der islamischen Welt und Muslimen unterstützt, akzeptiert oder zumindest stillschweigend geduldet wird. Dass die Mehrheit der Muslime der Fatwa nichts abgewinnen kann und auch einander widersprechende Fatwas möglich sind, reicht als Abgrenzung und Erklärung nicht aus.
Die Aggression gegen Rushdie, Terroranschläge, das Niederknüppeln von protestierenden Frauen als Wirkung eines radikalen Islam, bloß politischen Islam oder Islamismus zu sehen, mag angemessen sein, aber die Wortwahl ist als Abgrenzung bestenfalls semantisch sinnvoll und sagt auch nicht viel über das Ausmaß des Zuspruchs aus. Die Reaktionen auf das Attentat fielen mitunter freudvoll aus und waren zu viele, um als Ausreißer gezählt zu werden.
Der Monolith
An dieser Stelle folgt oft die Aufforderung, man dürfe den Islam nur ja nicht monolithisch wahrnehmen. Doch das ist ein klassisches Strohmann-Argument: Auch jemand, der sich nicht mit dem Islam beschäftigt, nimmt diese Religion nicht als einen homogenen Block wahr. Viele von uns kennen Muslime, die den Grundwerten liberaler Gesellschaften folgen und – zumindest aus Medienberichten – jene, die sich lieber dem Islamischen Staat anschließen und für ihn kämpfen. Diese zu unterscheiden, stellt für niemanden eine kognitive Hürde dar. Der Appell, man möge differenzieren, geht ins Leere. Wir dürfen annehmen, dass der durchschnittlich aufmerksame Medienkonsument auch schon von Sunniten, Schiiten, Salafisten, Wahhabiten, Taliban etc. gehört hat und hier nicht von Synonymen für Muslime ausgeht.
Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der diese Unterscheidungen getroffen werden, sollten jenen Muslimen zu denken geben, die sich von den inhaltlichen Grundlagen ihrer eigenen Religion distanzieren. Für Nichtmuslime ist es trotz aller Fähigkeit zur Differenzierung kaum möglich, Verbrechen, die im Auftrag Allahs ausgeführt werden, einem nichtreligiösen Islam zuzuordnen oder einer Spielart, die islam-intern nicht toleriert wird. Der Versuch, Abweichungen vom eigenen Wunschdenken herauszulösen, wie das die deutsche Außenministerin unternommen hat, erweist sich als Trugschluss (Vgl. No True Scotsman Fallacy).
Sonderfall Österreich
Natürlich muss sich niemand für Dinge erklären, die er nicht gemacht hat und die eigene ideologische Gesinnungsgemeinschaft auch nicht verantworten muss – aber das erfordert, den Anspruch einer großen Weltreligion mit vielen Anhängern aufzugeben und nachvollziehbare Terminologien und Praktiken einer Emanzipation einzelner Strömungen einzuführen. Das Verständnisproblem liegt auch darin, dass der organisierte Islam gleichzeitig als Einheit und differenziert wahrgenommen werden will. Und die politische Herangehensweise vieler europäischer Staaten im Versuch, den Islam umzuformen, verschlimmert diese Wahrnehmung noch.
Eine außergewöhnliche Rolle nimmt hier Österreich ein, weil das Land ein Islamgesetz geerbt hat, das aus der Zeit der Habsburger-Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg stammt und 1912 noch unter Kaiser Karl I. erlassen wurde. Die Annexion der Gebiete von Bosnien und Herzegowina erforderte es, eine autochthone islamische Bevölkerung im Staat gesetzlich zu berücksichtigen. Das Gesetz überdauerte zwei Weltkriege und wurde 2015 – als ich selbst Mitglied des Parlaments war – durch ein neues Islamgesetz ersetzt, das strukturell dem Israelitengesetz folgt.
In einigen Punkten kommt es darin zu deutlichen Schlechterstellungen der Muslime: Im Gegensatz zu anderen Religionsgemeinschaften erhält die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) keine Subventionen, islamische Organisationen unterliegen einem Finanzierungsverbot aus dem Ausland und müssen sich explizit zu den Grundwerten der Republik bekennen. Es ist an sich schon bemerkenswert, dass eine Religion schlechter behandelt wird als eine andere – aber der staatliche Gestaltungsprozess geht so weit, dass mit der IGGÖ ein Ansprechpartner etabliert wurde, der staatlich kontrolliert werden kann und als Sammelbecken verschiedenster islamischer Strömungen dient.
Im Gegensatz zum Christentum, für das auch der österreichische Gesetzgeber verschiedene Konfessionen separat anerkennt, wird der Islam mit dem Islamgesetz aus 2015 als der monolithische Block gesehen, den es dann, wenn es nicht passt, nicht geben soll. Diese Einheit ist von beiden Seiten so gewollt. Die IGGÖ hatte schon in ihrer Verfassung 2009 einen Alleinvertretungsanspruch für Muslime formuliert, der in späteren Versionen so nicht mehr zu finden war. Artikel 1 (5) der IGGÖ schrieb damals fest:
„Der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich gehören alle Muslime/innen (ohne Unterschied des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Rechtsschule und der Nationalität) an, welche in der Republik Österreich ihren Hauptwohnsitz haben.“
Das Gesetz geht so weit, dass sich islamische Vereine, die sich nicht dem Regime der IGGÖ unterwerfen wollen, behördlich aufgelöst werden. Das ist weder mit individueller noch mit korporatistischer Religionsfreiheit vereinbar und verdeutlicht die opportunistische Prinzipienlosigkeit des Gesetzgebers in Angelegenheiten der Religion. Tatsächlich zerfallen alle großen Religionen in viele Sekten und noch viel mehr Strömungen bis hin zu persönlichen Interpretationen des Glaubens und der Stellung zur Gemeinschaft. Ein Staat wie Österreich, der ein kooperatives Staatsreligionenmodell fährt, erlegt sich selbst auch die Pflicht auf, diese Unterscheidbarkeit nicht zu untergraben.
In der Praxis bedeutet die Sammlung alles Islamischen in einer virtuellen Glaubensgemeinschaft, dass die IGGÖ auch die radikalen Ränder des Islams vertritt und verantwortet. Warum eine Organisation mit Elementen, die einer offenen Gesellschaft feindselig gegenüberstehen, Sonderrechte genießen soll, ist weder logisch nachvollziehbar noch ethisch vertretbar.
Es ist auch auf einer prinzipiellen Ebene nicht einzusehen, dass einzelnen Ideologien, Weltanschauungen oder Religionen Ausnahmen aus allgemeingültigen Gesetzen zuerkannt werden. Besser wäre es daher, dem Islam und allen anderen gesetzlich anerkannten Religionen grundsätzlich ihre privilegierten Rechtspersönlichkeiten und die damit verbundenen Bevorzugungen zu entziehen.
Keine Holschuld
Bleibt noch die zweite eingangs gestellte Frage nach der Selbsterklärung, also einer islamischen Bringschuld. Wohlgemerkt, es gibt überhaupt keine Verpflichtung, ein Interesse für die verschiedenen Strömungen, Rechtsschulen, Glaubensgrundsätze usw. oder kurz gesagt eine Holschuld für die Interna einer Religion zu entwickeln.
Das mag für ein noch gedeihlicheres Zusammenleben zwar förderlich sein, aber es ist eine Fleißaufgabe. Der gesellschaftliche und politische Ausfluss von Religion alleine ist es, der zur Bewertung für den Außenstehenden als Grundlage seiner Einordnung und Kritik reicht. Wenn also von unbeteiligten Dritten verlangt wird zu differenzieren, dann müssen die Grundlagen dieser Unterscheidbarkeit in klarer Terminologie angeboten werden. Das ist eine Bringschuld jener Teile eines aufgeklärten Islam, die unverschuldet in Pauschalverurteilungen aufgenommen werden, und es ist verständlich, dass das unangenehm ist und als unfair empfunden wird. Aber die Arbeit muss getan werden.
Auch Protestanten wollen nicht die Positionen der katholischen Kirche zu Frauen und Homosexuellen als gleichermaßen christliche teilen, und trotzdem wurzeln unmoderne und inhumane Haltungen als gemeinsames Erbe in Glaubenslehren. Beim Islam ist es genauso. Auch bei ihm gibt es Problemfelder, die nicht zu leugnen sind, und es liegt an den Muslimen, diese zu bearbeiten und eine Lehre zu etablieren, die weltweit keinen Spielraum für tödliche Fatwas lässt. Wenn hier Abgrenzungen gesehen werden sollen, dann müssen sie sehr deutlich gemacht werden. Ein moderner Islam, der sich als Religion in liberale Gesellschaften tatsächlich einfügen will, sollte besser erkennbar werden und auch einen Namen tragen, der Verwechslungen ausschließt.
NIKO ALM war Herausgeber von Vice, Gründer der Agenturgruppe Super-Fi und zuletzt Geschäftsführer der investigativen Rechercheplattform Addendum. Aktuell ist Alm mit Average unternehmerisch tätig. Von 2013 bis 2017 war er für NEOS Abgeordneter zum Nationalrat mit den Schwerpunkten Medien, Wirtschaft, Weltraum und Kultur. Darüber hinaus engagiert sich Niko Alm in mehreren Initiativen für Laizität. 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“.