Javier Mileis Experiment – Eine Zwischenbilanz
Mit radikalen Reformen versucht Präsident Javier Milei, Argentinien aus der Wirtschaftskrise zu führen. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt mit der Vision eines minimalen Staats zeigt eine erste Bilanz, wie sich die teils umstrittenen Maßnahmen in der Wirtschafts-, Fiskal- und Budgetpolitik auswirken.
Javier Milei trat am 10. Dezember 2023 sein Amt als Präsident Argentiniens an und arbeitet seit über einem Jahr daran, das Land grundlegend zu reformieren. Einst das reichste Land Südamerikas und gemessen am BIP pro Kopf unter den zehn reichsten Ländern der Welt, erlebte Argentinien über Jahrzehnte hinweg einen stetigen wirtschaftlichen Niedergang. Argentinien hat seinen Spitzenplatz in Südamerika verloren, obwohl es immer noch über bedeutende natürliche Ressourcen, sehr viel Humankapital und ein großes wirtschaftliches Potenzial verfügt. Politische Instabilität, Eingriffe in die Wirtschaft, populistische Maßnahmen, überbordende Regulationen, Preiskontrollen, Korruption und viele ökonomische Eingriffe zeichneten die Geschichte des Niedergangs Argentiniens aus.
Mit dem liberal-libertären Politiker und anarcho-kapitalistischen Ökonomen Javier Milei an der Macht soll nun eines der größten wirtschaftlichen Experimente der modernen Geschichte umgesetzt werden. Das Land soll vom Einfluss der Politik und des Staates befreit werden und nach der Vision von Javier Milei zum freiesten Land der Welt werden.
Milei bezeichnet sich selbst und seinen Reformkurs dabei in der Praxis als Minarchismus. Der Minarchismus ist eine libertäre Philosophie, die einen minimalen Staat fordert, der sich auf grundlegende Aufgaben wie den Schutz von Leben, Eigentum und Freiheit beschränkt. Funktionen wie Verteidigung, Polizei und Justiz sollen staatlich organisiert werden, während alle anderen Bereiche der Gesellschaft, besonders wirtschaftlicher Natur, dem freien Markt und freiwilliger Kooperation überlassen werden. Ziel ist es, individuelle Freiheit zu maximieren und staatliche Macht hierzu auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.
Reformen mit der Motorsäge
Die „Reformas con Motosierra“, wie Javier Milei sein Reformprogramm nennt, sind ein radikaler Ansatz, den argentinischen Staat und dessen Wirtschaft durch einschneidende strukturelle Veränderungen umzuwandeln. Die minarchistische Motorsäge wurde zu Beginn gleich auf die Ministerien des argentinischen Staates angewandt. Milei reduzierte die Anzahl der Ministerien in seinem Kabinett von 18 auf zuerst neun und inzwischen lediglich acht Ministerien. Bereiche wie Justiz, Wirtschaft, Inneres oder Infrastruktur fanden sich im Sinne des Minarchismus in Mileis Kabinett. Ein neu geschaffenes Ministerium für Humankapital absorbierte jene Bereiche, die Milei aus den aufgelassenen Ministerien wie Arbeit, Bildung, Kultur, soziale Entwicklung, Frauen, Geschlechter und Diversität für erhaltenswert erachtete. Als Folge verloren bisher mehr als 50.000 Staatsbedienstete ihre Anstellung. Tausende weitere Verträge werden ab 2025 nicht verlängert.
Als Neuzugang kam das Ministerium für Deregulierung und Transformation des Staates (Ministerio de Desregulación y Transformación del Estado) dazu. Dieses wurde ins Leben gerufen, um umfassende Reformen zur Verschlankung und Modernisierung der argentinischen Verwaltung durchzuführen. An der Spitze steht der Ökonom und ehemalige Präsident der Argentinischen Zentralbank, Federico Sturzenegger. Es hat die Aufgabe, bürokratische Prozesse zu vereinfachen, bestehende Gesetze und Vorschriften zu deregulieren und die Effizienz der Verwaltung zu erhöhen. Ein zentrales Ziel ist die Reduzierung der Staatsausgaben und die Einführung moderner Technologien, um staatliche Dienstleistungen effektiver zu gestalten. Laut Javier Milei eliminiert das Deregulierungsministerium aktuell zwischen einer und fünf Regulationen pro Woche.
Startseite der Website des Deregulierungsministeriums
Eine weitere Motorsägen-Reform folgte mit der Abschaffung des bisherigen argentinischen Finanzamtes. Zu seinem Geburtstag im Oktober kündigte Milei die Auflösung der Administración Federal de Ingresos Públicos (AFIP), der Bundessteuerbehörde Argentiniens, an. Anstelle der AFIP wurde die Agencia de Recaudación y Control Aduanero (ARCA) gegründet, die eine effizientere und kostengünstigere Steuer- und Zollverwaltung gewährleisten soll. Die Umstrukturierung führte zu einer Reduzierung des Personals um ca. 34 Prozent, wobei über 3.000 Mitarbeiter:innen entlassen wurden, die unter der vorherigen Regierung eingestellt worden waren. Es wird hierbei spekuliert, dass es sich teilweise auch um politisch motivierte Kündigungen handelt, da Mitarbeiter:innen, die der Vorgängerregierung politisch nahe standen, die AFIP gezielt gegen ihre politischen Gegner:innen und Kritiker:innen eingesetzt haben sollen.
Die ersten Auswirkungen der Schocktherapie
Als Milei das Land übernahm, erbte er eine Wirtschaftskrise, hohe Inflation (drohende Hyperinflation) und hohe Staatsverschuldung. Zudem belegte das Land laut Heritage Foundation Platz 145 von 184 Ländern auf der Welt im Index für wirtschaftliche Freiheit. Milei hat in Bezug auf seine geplanten Wirtschaftsreformen immer wieder transparent betont, dass das Land eine Phase durchlaufen muss, die er das „Tal der Tränen“ nannte. Um das Land wirtschaftlich und politisch fundamental zu transformieren, werden Maßnahmen notwendig, die kurzfristig schmerzhaft sein können, aber langfristig eine wirtschaftliche Revolution bringen sollen. Das Tal der Tränen zeigt sich im ersten Amtsjahr teilweise deutlich, jedoch scheint es insgesamt weit weniger tief zu gehen als ursprünglich gedacht. In vielen Bereichen des Lebens in Argentinien sind bereits auch Freudentränen angesagt. Einige der wichtigsten Entwicklungen:
Inflation
Argentinien ist bekannt für seine im internationalen Vergleich oft signifikanten Inflationsphasen und auch der Beginn der Präsidentschaft Javier Mileis war von einer solchen Phase gezeichnet. Diese Inflation kam unter anderem auch zustande, da während des Wahlkampfs die Basisgeldmenge zum populistischen Kauf von Wähler:innenstimmen um 13 Prozent ausgeweitet wurde. Durch die massiven Ausgabenkürzungen, Reduktion des staatlichen Bereichs und der faktischen Einstellung des Gelddruckens ist es der argentinischen Regierung auf den ersten Blick tatsächlich gelungen, die monatliche Inflationsrate von 25,5 Prozent auf unter drei Prozent zu reduzieren.
Auf das Jahr gerechnet beträgt diese immer noch 166 Prozent und wird sich wohl weiter reduzieren.
Der Erfolg hierbei gebührt allerdings nicht alleine den politischen Maßnahmen der neuen Regierung. Argentinien erlebte rund um die Zeit des Amtsantritts einen Inflationsschock in Höhe von 210 Prozent, der im April 2024 mit 292 Prozent seinen Höchstwert erreichte. Der größte Anteil an der fallenden Inflationsdynamik liegt also an einer stattfindenden Erholung von einem Inflationsschock. Darüber hinaus begann Mileis Präsidentschaft in einer Phase weltweit sinkender Inflationszahlen. Wie viel an der erfolgreichen Inflationsbekämpfung rein den politischen Maßnahmen der Regierung zuzuordnen ist, lässt sich nicht exakt feststellen.
Wirtschaft und Arbeitslosigkeit
Das aktuelle Wirtschaftswachstum Argentiniens zeigt sich durchwachsen. Während die Wirtschaft in den ersten zwei Quartalen von 2024 jeweils um 1,9 und 2,1 Prozent schrumpfte, wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) saisonbereinigt um 3,9 Prozent im Vergleich zum Vorquartal und beträgt somit insgesamt -2,1 Prozent auf das Jahr gerechnet. Durch die Motorsägen-Reformen und die harten Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung erleben viele Wirtschaftsbereiche strukturelle Veränderungen. Insgesamt wird für das Jahr 2024 ein Rückgang von 3,48 Prozent prognostiziert (OECD, IWF), während in darauffolgenden Jahren teilweise starkes Wirtschaftswachstum von über 5 Prozent erwartet wird.
Ratingagenturen bewerteten die Veränderungen im Land im Jahr 2024 fast durchwegs positiv. Standard & Poor’s (S&P) verbesserten ihre Bewertung von Kreditwürdigkeit und finanzieller Stabilität des Landes von „CCC-“ auf „CCC“ und hoben den Ausblick von negativ auf stabil, Fitch Ratings erhöhten von „CC“ auf „CCC“, während DBRS Morningstar Argentinien von „CCC“ zu „B (low)“ mit stabilem Ausblick aufwertete. Diese Bewertungen sind entscheidend, um zu verstehen, wie internationale und inländische Investor:innen Argentiniens Fähigkeit einschätzen, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.
Bei den Arbeitslosenzahlen zeigt sich das Tal der Tränen innerhalb des ersten Amtsjahres deutlich. Während die offizielle Arbeitslosenrate zu Beginn bei 5,7 Prozent lag, erhöhte sie sich stark auf 7,7 Prozent im ersten Quartal 2024 und begann im zweiten Quartal leicht zu sinken. Gleichzeitig stieg die Beschäftigungsquote jedoch leicht, was den strukturellen Wandel der argentinischen Wirtschaft indiziert. Aktuellste Zahlen der Statistikbehörde Indec zeigen inzwischen wieder eine Reduktion der Arbeitslosenrate auf 6,9 Prozent im dritten Quartal 2024.
Staatshaushalt
Milei, der das Defizit als die „Wurzel all unserer Übel“ bezeichnet und es für die Inflation verantwortlich macht, verkündete am 11. Dezember 2024 stolz, dass Argentinien in 2024 zum ersten Mal seit 123 Jahren einen ausgeglichenen Haushalt erreicht hat und kein Budgetdefizit haben wird. Die Verschuldungsrate in Relation zum Bruttoinlandprodukt (BIP) des Staates lag im Jahr 2023 noch bei 155,4 Prozent. Unter Milei konnte diese auf 91,5 Prozent gesenkt werden. Damit übertrifft sie den lateinamerikanischen Durchschnitt von ca. 56,0 Prozent des BIP jedoch immer noch signifikant. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Schuldenniveau zwischen 2024 und 2029 kontinuierlich weiter sinken wird.
Aktienmarkt
Im Jahr 2024 verzeichnete der argentinische Aktienmarkt, repräsentiert durch den S&P MERVAL Index, ein signifikantes Wachstum und erreichte Rekordhöhen. Am 16. Dezember 2024 stand der MERVAL bei 2.226.316 Punkten, was einem Anstieg von etwa 164 Prozent seit Jahresbeginn entspricht. Diese Performance ist insbesondere deshalb bemerkenswert, da beispielsweise vergleichbare Indizes, wie der S&P Latin America BMI oder MSCI Latin America Index im selben Zeitraum rund 20 Prozent gefallen sind. Aktienmärkte reagieren auf Javier Mileis Politik sehr positiv.
Immobilienmarkt
Bis zum Jahr 2023 fand man in Argentinien eines der weltweit strengsten Mietkontrollgesetze vor. Dieses sollte Mieter:innenrechte umfassend schützen und Miethöhen unter staatliche Kontrolle stellen. Die Mietpreisbremse in Argentinien führte zu einem Rückgang des Mietwohnungsangebots, steigenden Mieten trotz der herrschenden Regulierung und einer Verzerrung des Immobilienmarktes. Viele Vermieter:innen zogen sich zurück oder bevorzugten Kurzzeitvermietungen, während Investitionen in den Wohnungsbau abnahmen. Statt erschwinglicherer Mieten verschärfte sich die Wohnungsnot.
Gemeinsam mit den meisten staatlichen Preiskontrollen wurde diese Mietpreisbremse zu Beginn der Amtszeit Mileis abgeschafft. Das Ergebnis davon sorgte anschließend international für Schlagzeilen. Seit Oktober des vergangenen Jahres sind die durchschnittlichen Mieten in der Hauptstadt Buenos Aires inflationsbereinigt um 40 Prozent gesunken. Gleichzeitig hat sich das Angebot an Mietwohnungen um 170 Prozent erhöht, was beinahe einer Verdreifachung entspricht. Der Immobilienmarkt in Argentinien wird in den kommenden Jahren voraussichtlich ein erhebliches Wachstum verzeichnen.
Armut
Große Kritik erntete die argentinische Regierung, als bekannt wurde, dass die Armutsrate im Land auf 52,9 Prozent angestiegen sei – der höchste Wert in 20 Jahren. Dies wurde gerne als Bestätigung dafür gesehen, dass der harte Spar- und Reformkurs auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen wird und soziale Ungleichheit weiter verschärft. Milei selbst argumentiert hierzu, dass die von der staatlichen Statistikbehörde Indec halbjährlich berechnete Armutsstatistik deshalb gestiegen sei, weil seine Regierung die tatsächliche Armut Argentiniens „sichtbar gemacht“ habe.
Der Anstieg sei etwa dadurch zu erklären, dass Preiskontrollen aufgehoben und so tatsächliche Preise bekannt wurden. Davon seien die Berechnungen des Warenkorbs und der Armutsgrenze beeinflusst worden. Dies führte mathematisch zu einem Anstieg in der Armutsstatistik, deren Zahlen auch teilweise noch aus der Zeit vor Milei stammen. Tatsächlich sei die Armutsrate laut Zahlen der Argentine Social Debt Observatory mit einem Ausgangswert von 57,4 Prozent seit Jänner 2024 auf nur noch 46 Prozent im November des Jahres gefallen. Damit hätte sich die Armut um ganze elf Prozentpunkte reduziert.
Dollarisierung und Schließung der Zentralbank
Mileis Pläne, die Zentralbank des Landes zu schließen und das Land zu Dollarisieren, befinden sich weiterhin in Arbeit. Hierzu wird aktuell die Bilanz der Zentralbank Banco Central de la República Argentina (BCRA) aufgeräumt und Schulden getilgt. Die Regierung plant einen Währungswettbewerb, der eine Transformation von Argentinischen Peso (ARB) hin zur Nutzung des US-Dollars führen soll, der bereits jetzt weit verbreitet im Land ist. Die Dollarisierung soll die Inflation im Land nachhaltig niedrig halten und es späteren Regierungen erschweren, Argentiniens lange Geschichte von populistischer Politik durch die Geldpresse wiederzubeleben.
Fazit – Das erste Jahr des Experiments
Das erste Amtsjahr von Präsident Javier Milei in Argentinien markiert eine radikale wirtschaftliche und politische Wende für das Land. Mileis Reformkurs, geprägt durch massive Sparmaßnahmen, Deregulierung und strukturelle Veränderungen, zeigt erste Erfolge, jedoch auch erhebliche soziale Kosten. Trotzdem erreicht er mit 66,3 Prozent die zweithöchste Zustimmungsrate aller Staats- und Regierungschef:innen weltweit. Positive Entwicklungen wie der Rückgang der Inflation, ein ausgeglichener Staatshaushalt und eine Befreiung der Wirtschaft stehen im Kontrast zu steigender Arbeitslosigkeit, Streiks, Protesten und sozialer Unruhen und einer schrumpfenden Wirtschaft im ersten Jahr.
Mileis Vision eines minimalen Staates und ohne eigene Zentralbank repräsentiert weiterhin eines der faszinierendsten politischen Experimente der aktuellen Zeit. Der Weg durch das „Tal der Tränen“ ist für Argentinien steinig, doch die Reformen könnten langfristig das Fundament für wirtschaftliche Stabilität und nachhaltige Veränderungen legen. Auch andere Länder können wichtige Lehren aus diesem radikalen Reformkurs ziehen, sowohl in Bezug auf Chancen als auch auf die Risiken tiefgreifender Reformen.
LUKAS LEYS ist Unternehmer, Gründer des Legal-Tech-Startups kontractory und Betreiber der Plattformen immobily.io, mietrecht.ai und gmbh.legal. Ihn treibt ein starkes Interesse am technologischen Fortschritt und an den gesellschaftlichen Auswirkungen, die dieser mit sich bringen wird. Sein Schwerpunkt liegt auf Blockchain-Technologie, Smart Contracts und dem Metaverse.