„Juden zählen nicht“
Progressive lassen sich von Antisemiten instrumentalisieren. David Baddiels Buch „Jews Don’t Count“ verdeutlicht diese Erkenntnis.
Im Dezember war ich in Schottland. Kurz vor dem Rückflug lief ich in Glasgow noch schnell durch ein Buchgeschäft und kaufte in Eile einige Titel, darunter auch „Jews Don’t Count“ von David Baddiel. Angesichts der Diskussionen um den neuen vorwiegend linken Antisemitismus mit einer bislang noch ungekannten weiteren Polarisierung der Gesellschaft ist es mir ein Anliegen zu verstehen, wo die sich selbst so bezeichnende progressive Politik aus meiner Sicht falsch abgebogen ist.
Auch weil ich mit manchen Menschen, mit denen ich sonst vieles kulturell (wirtschaftspolitisch weniger) teile, inhaltlich in dieser Frage auf einmal so weit auseinanderliege. „Jews Don’t Count“ schien mir für den persönlichen Erkenntnisgewinn vielversprechend, weil schon der Buchtitel kompakt nahelegt, dass hier eine Gruppe zu Unrecht ausgeklammert wird, die seit Oktober 2023 wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist.
David Baddiel hat meine Erwartungen im Hinblick auf die eingangs beschriebene Dissonanz übertroffen. Nicht weil er besonders strukturiert erklärt, was es mit diesem Neoantisemitismus auf sich hat – er schreibt vorwiegend im Fluss persönlicher Erfahrung –, sondern weil er eine sehr spezielle Position im Thema einnimmt. Baddiel ist Jude. Er findet es witzig, genau das in seine X-Biografie zu schreiben. Und nur das: „Jew“. Seine Berühmtheit war mir nicht geläufig, dämmerte mir aber, als ich entdeckte, dass ich neben „Jews Don’t Count“ – ohne den Autor zu beachten – im Kaufrausch auch noch ein weiteres Buch mit dem Titel „The God Desire“ von ihm eingepackt hatte. Er ist einer der bekanntesten Juden im UK, säkular und kein Israeli. Muss man Letzteres ergänzen? Ja, aus guten Gründen: Das Judentum ist mehr als eine Religion, aber keine Nationalität.
Seine Position zu Israel ist deutlich:
„What about Israel? Isn’t Israel actually an oppressor? Aren’t most of these books about the new Jew-hatred actually about Israel, and how the left’s hatred of that country spills over from anti-Zionism into antisemitism? Well, yes, they are, but I kind of think: Fuck Israel. I call Israel, on Twitter, stupid fucking Israel, […]”.
Wo verlaufen die Grenzen?
„Jews Don’t Count“ hat er 2021 veröffentlicht, lange bevor Israel von der Hamas bzw. von Palästina in diesem Ausmaß angegriffen wurde. Das Buch muss also ungeachtet der Ereignisse im Gefolge des 7. Oktober 2023 gelesen werden. In diesem Krieg zwischen Israel und Palästina können wir beobachten, wie eine vielleicht nicht ganz neue, aber in dieser Deutlichkeit neue Form von Antisemitismus öffentlich wird.Gemeint ist damit nicht die berechtigte Kritik an der Regierung Netanjahu oder am Staat Israel und seiner komplexen Entstehungsgeschichte; gemeint ist auch nicht Antizionismus, sondern der Teil der Verbalinjurien, der auch nach Abzug aller gerade noch sachlichen Einwände bleibt. Der Bodensatz unterhalb der zivilisierten Diskussion und Demonstration, der hart an der expliziten Hassrede schrammt. Die Linksidentitären stehen der rechten Identitären Bewegung in ihrem Verschleierungsduktus um nichts nach: Bei der letzten Palästina-Demonstration, die ich persönlich als Zufallspassant erlebt habe, waren wieder Transparente zu sehen mit „From the River to the Sea“ – eine Kurzformel für die Auslöschung des Staates Israel – oder „One State Solution“ (dekoriert mit Hammer und Sichel).
Diese Slogans können schwer als nicht antisemtisch ausgelegt werden. Da nützt es auch nichts, wenn daneben ein Schild hochgehalten wird, auf dem „Antizionismus ≠ Antisemitismus“ steht. Es geht sich einfach nicht aus – selbst wenn man sich entgegenkommend dieser Diskussion ausliefert, was Baddiel vermeiden möchte:
„Even though, as I said above, I try and avoid doing so, it is difficult, sometimes, when you’re talking about antisemitism not to be drawn into the conversation about Israel-Palestine. The drawing-in normally takes the form of a long angel-on-a-pin debate about the difference between anti-zionism and antisemitism. This debate stretches from, on the one, conservative Jewish hand, saying there is no difference, to the other, modern progressive hand, saying there’s a wide gulf between the two and the personification of anti-Zionist protest as antisemitic is just a way of smearing it as racist to discredit pro-Palestinian activism.“
Differenziertheit und Differenzialismus
Natürlich ist es problemlos möglich, Netanjahu zu kritisieren, ohne antisemitisch zu sein – das ist sogar der Normalfall –, aber umgekehrt ist es auch nicht einander ausschließend, das heißt die antisemitische Einstellung verschwindet nicht einfach, wenn man zusätzlich noch Kritik an der israelischen Regierung anbringt. Diese Differenzierungsleistung ist unfassbar banal, und ich erwähne sie auch nur, weil von Hamas-Apologeten gerne eingewendet wird, dass man differenzieren müsse.
Keine Sorge: All jene, die in der Hamas eine dauerhafte Gefahr für Israel und anzustrebenden Frieden in Region sehen, wissen ganz genau und artikulieren auch, dass Netanjahu dafür ein großes Hindernis darstellt. Umgekehrt scheint das nicht so zu sein: Es gibt keine wahrnehmbaren Demonstrationen für die Freiheit Palästinas, bei der auch Kritik an der Hamas zu sehen oder zu hören wäre oder gar die Freilassung der Geiseln gefordert wird – vielleicht auch nur, weil sie von den radikalen Parolen übertönt wird.
Das hat auch damit zu tun, dass aus der Sicht der linksidentitären Progressiven, die sich unter die Demonstrationen mischen, wenn ich David Baddiel richtig interpretiere, „Juden nicht zählen“. Sie können aus ihrem verengten differenzialistischen Blickwinkel selbst nicht differenzieren. Folgt man ihrer Ideologie, zerfällt die Welt in Gruppenidentitäten aus Unterdrückern und Unterdrückten. Aber nur, wenn es gerade passt, denn es ist auch möglich, die Seiten zu wechseln, bzw. besser im Passiv zu formulieren: der anderen Seite zugerechnet zu werden. Den Minderheitenstatus zu verlieren, wenn er nicht mehr gut ins Weltbild passt. Genau das passiert Juden, meint Baddiel:
„Jews are somehow both sub-human and humanity’s secret masters. And it’s this racist mythology that’s in the air when the left pause before putting Jews into their sacred circle. Because all the people in the sacred circle are oppressed. And if you believe, even a little bit, that Jews are moneyed, privileged, powerful and secretly in control of the world … well, you can’t put them into the sacred circle of the oppressed. Some might even say they belong in the damned circle of the oppressors.“
Progressive Innensicht
So wie Baddiel Israel von außen kritisiert, kritisiert er die Progressive von innen. Er steht von der Mitte aus gesehen recht weit links, wenn man gern in diesem irreführenden Schema denkt. Um das zu verdeutlichen: Er kann sogar Verständnis für das Konzept „White Fragility“, was er mit großen Anfangsbuchstaben schreibt, aufbringen, auch wenn er Robin DiAngelo, die Person, die es erfunden hat, in „Jews Don’t Count“ gar nicht erwähnt. (Kurz zusammengefasst, für jene, die das Buch nicht gelesen haben: Die Autorin versucht darin, ihren eigenen tiefsitzenden Rassismus zu unterdrücken, indem sie umstandslos und ausnahmslos alle Menschen mit heller Hautfarbe als Rassisten deklariert. Ironischerweise eignet sie sich dazu das Konzept der Erbsünde aus dem Katholizismus an.)
Auch das Konzept sogenannter positiver Diskriminierung, das Gruppenzugehörigkeit über individuelle Bedürfnisse stellt, findet er gut:
„BAME (Anm. Black Asian and Minority Ethnic) carries with it an image, which is dependent on skin colour. It also carries with it, hopefully – although obviously this often fails in practice – a benefit. If you’re BAME you should – that’s what the category is there for – benefit from positive discrimination.”
Ungeachtet dessen, dass dieser Zugang einem universalistischen Weltbild widerspricht, hat er natürlich recht damit, dass Juden überall außerhalb Israels in die ME-Kategorie fallen müssten, wenn man diesen Maßstab schon anlegt. David Baddiel kritisiert ein Engagement für Minderheiten, das nur mehr opportunistisch ist und keinen Beitrag mehr dazu leistet, die Welt für alle besser zu machen:
„With the transition to identity politics the left’s cause has become fragmented. It has become less about fighting for the masses and more about specific minorities.”
Man darf den Briten also getrost dem progressiven Spektrum zurechnen. Zu diesem zählen auch andere identitär orientierte Gruppierungen, jene, die jetzt vorgeblich „für Palästina“ demonstrieren, aber tatsächlich gegen Israel marschieren und skandieren, die das Gebiet zwischen dem Fluss, den sie nicht benennen können, und dem Meer, das sie nicht benennen können, judenfrei bekommen wollen.
Im Zuge dessen werden auch manche Progressive, die sich gegen das harte Vorgehen Israels aussprechen wollen, auf eine Seite gezogen. Sie hegen Sympathien für einen Freiheitskampf, den es nicht gibt. Sie blenden den religiös motivierten Terror der Hamas aus und lassen sich in das Unterdrücker-Unterdrückte-Schema hineinziehen. Sie sind vom guten Geist beseelt, sinnlose Opfer in diesem Krieg vermeiden zu wollen. Sie sehen aber nur die Opfer in Palästina, weil sie sich für vermeintliche Minderheiten engagieren und Juden (in diesem Fall leider) nicht zählen. Oder noch schlimmer, selbst daran schuld sind:
„It points out something about antisemitism, which is a deep resistance to the idea of it as what you might call a stand-alone racism. The Jews must always be in some way responsible. If it’s not bankers and capitalism, it’s Israel.”
Gar nicht so progressiv
Baddiel beobachtet, wie die traditionelle Ablehnung des Antisemitismus der Linken von einer Haltung verdrängt wird, die er als Anti-Establishment beschreibt:
„Now that antisemitism can sometimes seem like a right and left issue, I perceive the emergence of a particularly modern form of antisemitism, which is an association of anti-antisemitism with Establishment values. Saying ,this is anti-semitic‘ for some, puts you firmly into the camp of the oppressor.“
Und damit eröffnet sich auf paradoxe Weise eine Schnittmenge mit rechtspopulistischer Politik, die auch gegen das Establishment wettert – von Trump über Kickl bis Wagenknecht. In abgemilderter Form ist auch zu beobachten, dass politisch konservative, tendenziell heimatverbundene, nationalistische und sogar libertäre Kreise auf einmal zu vehementen Israel-Verteidigern werden und sich darin gefallen, stramme Linksidentitäre und mitlaufende Progressive als Antisemiten zu bezeichnen. Sehr oft vorschnell. Es ist die Heuchelei auf der anderen Seite, die aber auch nur ermöglicht wurde, weil sich Teile der Linken von ihrem Auftreten gegen Antisemitismus verabschiedet haben. Es ist nicht mehr „ihr Rassismus“, wie Baddiel feststellt:
„Indeed, from some progressive quarters I perceive in recent times not just that antisemitism doesn’t matter very much, but that, as a concern, it’s been tainted; that it’s become, as it were, their – the other side’s – racism, the one they care about.“
Als ausgewiesener Progressiver und Jude weiß er – aus doppelter Innensicht –, wovon er spricht. Es sind diese moralisch verwirrten Progressiven, die nicht nur Baddiel schon vor einigen Jahren Kopfzerbrechen gemacht haben. Sie dürfen mit Pride-Flaggen – aber nur ganz am Ende langer Demonstrationsketten – gegen Israel mitmarschieren, sehen aber nicht, dass tausende Menschen, die ihnen vorangehen, sie den Rest des Jahres verachten. Progressive mit berechtigter Sorge für den Zustand der Zivilbevölkerung in Gaza lassen sich von jenen instrumentalisieren, die nur die Auslöschung Israels im Sinn haben. Sie dienen den Antisemiten nur als Tarnung.
NIKO ALM war Herausgeber von Vice, Gründer der Agenturgruppe Super-Fi und zuletzt Geschäftsführer der investigativen Rechercheplattform Addendum. Aktuell ist Alm mit Average unternehmerisch tätig. Von 2013 bis 2017 war er für NEOS Abgeordneter zum Nationalrat mit den Schwerpunkten Medien, Wirtschaft, Weltraum und Kultur. Darüber hinaus engagiert sich Niko Alm in mehreren Initiativen für Laizität. 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“.