Mein Körper, meine Entscheidung
Es ist Freitag, der 24. Juni 2022. In Deutschland wird § 219a aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Damit fällt endlich das sogenannte Werbeverbot, das es deutschen Ärzt*innen bislang untersagte, auf ihren Webseiten über Abbrüche zu informieren, aufzuklären oder überhaupt kenntlich zu machen, dass sie Abbrüche durchführen. Es ist eine feministische Errungenschaft, die medial jedoch von einer anderen Meldung überschattet wird: Am selben Tag kippt nämlich der Oberste Gerichtshof in den USA das bundesweite Recht auf Abtreibung. Mit dieser Entscheidung wird vielen Menschen der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen verwehrt.
Der 24. Juni führt uns schmerzlich vor Augen, wie fragil feministische Errungenschaften sind. Selbst jene, die wesentliche Grundvoraussetzungen für die Freiheit und Gleichberechtigung aller Geschlechter sind, wie z.B. die Selbstbestimmung über den eigenen Körper.
Roe v. Wade wurde gekippt – was bedeutet das?
Roe v. Wade ist ein Grundsatzurteil aus dem Jahr 1973, das festgelegt hat, dass es ein fundamentales und verfassungsmäßiges Recht ist, über einen Schwangerschaftsabbruch selbst zu entscheiden. Davor gab es in vielen Staaten strenge Abtreibungsgesetze, wie z.B. in Texas, wo eine Abtreibung nur dann erlaubt war, wenn das Leben der schwangeren Person in Gefahr war. Die 22-jährige Texanerin Norma McCorvey, die damals unter dem Pseudonym „Jane Roe“ vor Gericht zog, errang mit ihrer Klage einen wichtigen Sieg für die Frauenrechte.
Abtreibungsgegner*innen, insbesondere aus der Republikanischen Partei und aus fundamentalistischen christlichen Gruppen, haben in den vergangenen Jahrzehnten versucht, dieses Recht abzuschaffen. Unter der Präsidentschaft von Donald Trump wurden dafür die Weichen gestellt: Er hatte die Möglichkeit, den Obersten Gerichtshof gleich mit mehreren Richter*innen aus dem Lager der Abtreibungsgegner*innen zu besetzen. Im Obersten Gerichtshof, der eine prägende Rolle für Gesellschaft und Politik in den USA spielt, wenn es um Themen wie Abtreibung, Waffenrecht oder Einwanderung geht, gibt es nun eine konservative Mehrheit von 6 zu 3.
Dass Roe v. Wade jetzt gekippt wurde, bedeutet, dass nun die Entscheidung, ob und unter welchen Bedingungen Abtreibungen erlaubt sind, bei den Bundesstaaten liegt. Seither haben viele von ihnen, wie zum Beispiel Arkansas, Kentucky, Oklahoma, Texas, Missouri oder Louisiana, weitgehende Abtreibungsverbote in Kraft gesetzt.
Abtreibungsverbote verhindern Abtreibungen nicht, sondern machen sie nur unsicherer
Durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wird in Zukunft noch mehr Menschen der sichere Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen verwehrt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bereits jetzt 25 Millionen Menschen gezwungen, auf gefährliche und unsichere Methoden zurückzugreifen, um Abtreibungen durchzuführen.
„You cannot ban abortion. You can only ban safe abortions“, liest man auf den Schildern der Menschen, die bei Protesten auf der ganzen Welt darauf aufmerksam machen, dass Verbote Abtreibungen nicht verhindern, sondern nur den sicheren Zugang dazu.
Michelle Obama zeigt sich erschüttert und warnt vor Todesfällen: “I am heartbroken that we may now be destined to learn the painful lessons of a time before Roe was made law of the land – a time when women risked losing their lives getting illegal abortions.” Aber auch Stars wie Lady Gaga, Dua Lipa und Billie Eilish rufen ihre Fans dazu auf, gegen das Abtreibungsverbot zu protestieren.
Durch die Kriminalisierung von Abtreibung werden Schwangere zu illegalen Eingriffen gedrängt, die oft lebensgefährlich sind. Das betrifft vor allem Menschen aus sozial schwachen Gesellschaftsschichten und PoC. Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen brauchen nicht nur Frauen, auch Inter-, Trans- und nicht binäre Menschen, die möglicherweise schwanger werden können. Das Argument der Abtreibungsgegner*innen, Leben schützen zu wollen, ist scheinheilig, allein wenn man bedenkt, dass unsichere Abtreibungen laut WHO die dritthäufigste Todesursache bei Gebärenden sind und jährlich 47.000 Menschen das Leben kosten.
Auch Österreich hat Aufholbedarf
Aber auch in Österreich ist Abtreibung nicht legal, sondern nur unter gewissen Umständen straffrei. Organisationen wie Pro Choice Austria fordern seit langem, Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des Strafrechts zu regeln. Eine Entkriminalisierung wäre ein wichtiges Signal für Betroffene und ein Schritt zur Enttabuisierung des Themas in der Gesellschaft.
In Österreich ist durch die „Fristenlösung“ ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate einer Schwangerschaft möglich. Das bedeutet in der Regel bis zum Ende der 13. Woche, gerechnet ab dem ersten Tag der letzten Menstruation. Theoretisch hat Österreich zwar eine liberale Abtreibungsregelung, jedoch sind in der Realität Schwangerschaftsabbrüche in Österreich auch eine Frage des Geldes: Die Kosten werden nämlich nicht von der Krankenkassa übernommen, und die Preise variieren stark. Sie bewegen sich meist zwischen 330 und 939 Euro. Ein Leuchtturm ist hierbei ausschließlich die Stadt Wien, wo Menschen in materiellen Notlagen bei der Abteilung für Soziales, Sozial- und Gesundheitsrecht (MA 40) einen Antrag auf einmalige Kostenübernahme stellen können.
Die nötige Finanzierung ist jedoch nicht die einzige Hürde für ungewollt Schwangere in Österreich. Auch Versorgung und Zugang sind, was Schwangerschaftsabbrüche betrifft, in Österreich nicht flächendeckend vorhanden. In Tirol und Vorarlberg führt nur ein einziger Arzt Schwangerschaftsabbrüche durch. In Kärnten und der Steiermark sind es jeweils vier, in Niederösterreich drei, in Salzburg und Oberösterreich je zwei. Im Burgenland keiner. Abbrüche in öffentlichen Spitälern gibt es nur in Kärnten, Oberösterreich, Niederösterreich, Wien und der Steiermark.
Ohne Selbstbestimmung keine Gleichberechtigung
Das Ende des bundesweiten Rechts auf Abtreibung in den USA und der Umstand, dass dort möglicherweise in nächster Zeit auch der Zugang zu Verhütung und LGBTIQ-Rechte von konservativen Höchstrichter*innen gekippt werden könnten, führen berechtigterweise zu einer Furcht vor Rückschritten auch in Europa. Während hier die gesellschaftliche Stimmung deutlich liberaler ist und das EU-Parlament Abtreibung sogar zum Grundrecht machen will, gibt es auch in EU-Ländern weiterhin verstärkt Angriffe auf das Recht auf körperliche Selbstbestimmung.
Feministische Errungenschaften sind fragil. Erkämpfte Rechte, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, können und werden infrage gestellt. Sexuelle Gesundheit und reproduktive Rechte sind unabdingbar, um die Gleichstellung aller Geschlechter zu erreichen. Schwangerschaftsabbrüche sind integraler Teil eines funktionierenden Gesundheitssystems und ermächtigen Menschen, eigenverantwortlich und selbstbestimmt über ihr Leben zu entscheiden.
Wesentlich dafür sind außerdem adäquate sexualpädagogische Aufklärung an Schulen und der Zugang zu Verhütungsmitteln. In einer Gesellschaft, die ernsthaft darauf hinarbeitet, Freiheit und Gleichberechtigung für alle zu ermöglichen, dürfen wir solche Angriffe nicht dulden: Alle Menschen müssen frei entscheiden können, wann, ob und unter welchen Bedingungen sie Kinder bekommen. Mein Körper, meine Entscheidung.
SOFIA SURMA ist Feministin, Gründerin und Vulva-Enthusiastin. Seit sie 2018 Viva La Vulva gegründet hat, beschäftigt sie sich intensiv mit der Enttabuisierung weiblicher* Sexualität und der Vulva. Auch als Gründerin des Vulva Shops setzt sie sich für die Gleichberechtigung und die Enttabuisierung der weiblichen* Sexualität ein.