Mit einer Zukunfts-Koalition aus der Demokratie-Krise
Das Jahr 2024 wurde schon öfters zum Jahr der Entscheidung für die Demokratie hochstilisiert. Nicht nur in Österreich, wo bei den bevorstehenden Nationalratswahlen erstmals eine rechtspopulistische Partei zum Wahlsieger werden könnte, auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni war allgemein ein Rechtsruck erwartet worden, der zwar so nicht eingetreten ist, doch die Zugewinne der Rechtspopulisten und Rechtsparteien haben praktisch in allen europäischen Staaten stattgefunden und werden die politische und gesellschaftliche Landschaft in diesen Ländern sicher auch verändern.
In den Vereinigten Staaten droht bei den Präsidentenwahlen ein Revival des weltweit wirkmächtigsten Populisten Donald Trump, dessen Wiederwahl für Europa nicht nur außen- und wirtschaftspolitisch, sondern auch für das europäische Demokratiemodell nichts Gutes erwarten lassen würde.
Mit den Wohlstandsverlusten des breiten Mittelstands, dem Auseinanderklaffen der sozialen Ungleichheiten und dem Ausbleiben überzeugender Antworten auf die großen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen durch das Establishment der politischen Mitte bzw. der staatstragenden, großen politischen Volksparteien geht schon seit geraumer Zeit die Verbreitung einer alle Bevölkerungsschichten erfassenden Protestbewegung in Gestalt des Rechtspopulismus und einer Radikalisierung der politischen Ränder einher.
Die zahlreichen globalen Krisen der letzten Jahre, die alle vor dem Hintergrund der bleibenden Drohkulisse Klimawandel bewältigt werden müssen, haben die schon seit längerer Zeit weltweit bestehenden vielfältigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen mit ihren Tendenzen zur Spaltung der Gesellschaft spürbar verstärkt. Dieser sich manifestierende Riss im gesellschaftlichen Zusammenhalt stellt auch das bisher als selbstverständlich zugrunde gelegte politische System der repräsentativen Demokratie auf eine harte Probe, da es den Gefährdungen des sozialen Friedens in der Meinung von immer mehr Bürgern oft nicht mehr angemessen standhalten kann – das allgemeine Vertrauen in die Konfliktlösungskompetenz der Demokratie schwindet.
Wie dem Sturmlauf der FPÖ entgegnen?
Als Musterbeispiel, wie eine politische Bewegung von Demokratieverdrossenheit und Unzufriedenheit profitiert, kann seit vielen Jahren die rechtspopulistische FPÖ gelten. Seit die Protestpartei vor einiger Zeit in den Meinungsumfragen im Hinblick auf die Nationalratswahlen zu einem bisher anhaltenden neuen Höhenflug angesetzt hat, rätselt das politische Establishment wieder einmal: Was kann dieser Partei, die für gewöhnlich zwischen Rechtspopulismus, Extremismus, Inkompetenz und Skandalen herumgeistert, wirksam entgegengesetzt werden?
Dabei hatte der Erfolgslauf der Freiheitlichen just mit der trotz einiger Pannen und Fehlentscheidungen doch einigermaßen erfolgreich überstandenen Corona-Krise begonnen, als die FPÖ sich mit ihrer absurden Anti-Corona-Maßnahmen-Propaganda und unverantwortlichen Demonstrationszügen als Verteidiger einer selbstdefinierten Freiheit profilieren wollte. Auch die diametral antieuropäische Haltung im Ukraine-Krieg, die unverhohlene und beschämende Nähe zum Kriegstreiber Russland inklusive Freundschaftsvertrag mit der Putin-Partei oder auch die Verwicklung in die Spionageaffäre im früheren Geheimdienst BVT können der selbsternannten Heimatpartei bisher nichts anhaben. Noch dazu hatte die FPÖ ja selbst ihre existenziellen Krisen, als sie nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos im Frühjahr 2019 mit Schimpf und Schande aus der Bundesregierung entlassen wurde und nach einigen innerparteilichen Skandalen, wie der Spesenaffäre ihres damaligen Parteiobmanns und ehemaligen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache und dessen Hinauswurf, auch in der Meinung der Bevölkerung für einige Zeit ziemlich darniederlag. Wie erklärt sich eine derartige Stimmungswende? Und wie kann der Höhenflug der rechtspopulistischen Krawallpartei gestoppt werden?
Wohl sicher nicht dadurch, dass die politische Konkurrenz das FPÖ-Leibthema Asyl und Migration entweder verharmlost oder mit dem simplen Nachhüpfen von Slogans wie der „Einwanderung ins Sozialsystem“ das Geschäft der Rechtspopulisten befeuert, anstatt selbst sachliche Lösungen umzusetzen und diese auch zu kommunizieren. Immerhin gehen etwa die Asylanträge seit einiger Zeit stark zurück. Die Stärke der Rechtspopulisten, die für gewöhnlich weniger konkrete Problemlösungen als vielmehr lautstarke und polemische Kritik an tatsächlich oder vermeintlich bestehenden Problemen vernehmen lassen, ist vor allem auch eine Schwäche der anderen Parteien, die mehrheitlich doch noch den Anspruch haben, staatstragende und verantwortungsbewusste Kräfte zu sein. Mit diesem andauernden Rückenwind der einfallslosen – oder in die Hetze eben auch einstimmenden – Mitbewerber könnte es in Österreich im Herbst 2024 sogar auf Bundesebene geben, was nach dem Wahlsieg der AfD in Thüringen und beinahe auch in Sachsen allgemein wortreich beklagt wird: eine von Rechtspopulisten angeführte Regierung.
Was die FPÖ vom demokratischen System hält, hat sie kürzlich ganz unmissverständlich ausgesprochen: mit dem Plan, eine missliebige Regierung gegen alle Prinzipien der repräsentativen Demokratie auch durch eine Volksabstimmung absetzen zu lassen. Die öffentliche Stimmungsmache vor einer solchen Abstimmung kann man sich unschwer vorstellen. Dass es aber selbst angesichts der stark zugenommenen Radikalisierung der FPÖ und ihrer bereits offen gezeigten Sympathie mit den rechtsradikalen Identitären die beiden anderen großen Volksparteien nicht schaffen, diesem Rechtsextremismus, der schon längst eine Gefahr für das demokratische System darstellt, ein konstruktives Alternativangebot an politischen Inhalten und Zukunftsperspektiven entgegenzusetzen, ist das grundsätzliche Problem der Politik in Österreich.
Die Auseinandersetzung um die Bewahrung und Verbesserung der demokratischen Errungenschaften können aber nur zukunftsoptimistische, einfallsreiche und empathische Volksvertreter:innen führen, die die Menschen, für die sie Politik machen wollen (angeblich ja die Mehrheit), auch tatsächlich schätzen und mögen. Das heißt aber auch, die Lebenswirklichkeit der Menschen im Land, auch jener, denen es nicht so gut geht und die nicht dem eigenen politischen Lager zugerechnet werden, zu kennen und ernst zu nehmen. Nur dann ist mehrheitsfähige Politik machbar, die nicht nur die eigene Klientel bedient.
Die magere Bilanz von Rechts
Aus der Sorge um die Demokratie ergibt sich zwingend, dass der FPÖ, wenn sie so bleibt, konsequent jede Regierungsbeteiligung in Bund und Ländern zu verweigern ist, um dem Extremismus seine Grenzen aufzuzeigen. Nur dann, wenn offenkundig wird, dass Stimmen für die FPÖ verlorene Stimmen sind und politisch nichts bringen, wird diese Partei gezwungen sein, auf einen moderaten und konsensfähigen Kurs einzuschwenken, und nur dann wird diese Geisterfahrt irgendwann aufhören. Es wäre eine demokratiepolitische Lektion, die jeder Staat lernen muss. Angesichts der fortschreitenden Radikalisierung der Freiheitlichen ist eine nachhaltige Entzauberung der Rechtspopulisten jedenfalls längst fällig.
Die FPÖ darf deshalb auch keinesfalls Teil der nächsten Bundesregierung sein. Das sollte schon die äußerst mäßige Performance der türkis-blauen Koalition eindrucksvoll gezeigt haben. Außer der permanenten Hetze gegen Ausländer, Dutzenden rechtsextremen sogenannten Einzelfällen, der Zerschlagung des Staatsschutzes durch Innenminister Kickl, der Vergiftung des sozialen Klimas, Prestigeprojekten, die mehrheitlich zumindest teilweise vom Höchstgericht als verfassungswidrig aufgehoben wurden, und nicht zuletzt der Entfremdung von Europa, war damals nicht viel zu sehen.
Die ÖVP hat bei diesem unwürdigen Spektakel freilich im Abtausch zu ihrer Klientelpolitik (12-Stunden-Tag etc.) willig mitgemacht, bis es nach Ibiza ans Eingemachte des Innenministeriums ging. Nein, mit dieser Ressentiment-Partei, die mit dem Extremismus spielt – nicht nur deren Chef und Spitzenkandidat – ist kein Staat zu machen, das sollten nun auch die Konservativen endlich erkannt haben.
Dennoch präferiert in der ÖVP – bei den Funktionären, nicht jedoch ihren Wählern – derzeit wohl immer noch eine Mehrheit eine Rechts-Koalition mit der FPÖ. Dabei würde von einer solchen Regierung wohl keines der existenziell wichtigen Zukunftsthemen, vom Klimaschutz und der ökologischen Transformation der Wirtschaft über die Reform des Bildungssystems, des Arbeitsmarkts oder des Pensionssystems bis zu einer europäischen Regelung der Migration mutig und kreativ bearbeitet werden. Wie fahrlässig das Unterlassen einer entschlossenen Klimapolitik wäre – noch dazu mit bekennenden Klimawandelleugnern –, sollte die jüngste Hochwasserkatastrophe wohl eindrucksvoll gezeigt haben. Und dann kommt nicht zuletzt noch der Umgang mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dazu, der bei einer blau-türkisen Koalition nach allen Erfahrungen der letzten Jahre jedenfalls besorgniserregend wäre.
Eine Zukunfts-Koalition aus drei Parteien
Deshalb kann in dieser herausfordernden Zeit – und Krisen jedweder Art wird es wohl immer geben – nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung aller verantwortungsbewussten und staatstragenden Parteien, und da vor allem von den beiden klassischen großen, der Volkspartei und den Sozialdemokraten, eine zukunftsfähige Reformpolitik gelingen, die auch das Vertrauen der Bürger in Politik und Demokratie wieder stärken kann. Dazu müsste die Volkspartei thematisch und personell bereit sein für eine substanzielle Erneuerung und eine zukunftsorientierte Politik (Stichwort Bildung), aber auch die Sozialdemokratie einige eingefahrene Positionen in der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik zugunsten von konsensfähigen Reformkonzepten überwinden (Stichwort Lohnnebenkosten). Und da sich eine Neuauflage der sogenannten Großen Koalition wohl nicht mit einer parlamentarischen Mehrheit ausgehen wird, ist die einzige Alternative zu einer schwarz-blauen Rechts-Koalition nur eine Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und einer der beiden kleineren Parteien, Grüne oder NEOS.
Nach den Erfahrungen (der Volkspartei) in der VP-Grüne-Koalition und der zuletzt unübersehbaren wechselseitigen Entfremdung bieten sich für eine solche Variante wohl in erster Linie die liberalen NEOS als neue, unverbrauchte und wirtschaftsorientierte politische Kraft an. Immerhin geht es ja darum, in der nächsten Regierung endlich die personellen Ressourcen mit dem Willen zu Reformen für die zahlreichen Zukunftsthemen zu haben, und das trotz eines spürbar eingeschränkten budgetären Spielraums, ja, auch der Notwendigkeit von Einsparungen. Wer dafür weder Mut noch ein Konzept hat, eignet sich nicht für die Regierungsführung. Die NEOS sind derzeit die einzigen, die neue Lösungen für alte Probleme, nachhaltige Reformen und eine gleichzeitige Budgetkonsolidierung anstreben und scheinen als sachpolitische Kraft die Volkspartei in vielen Themen als bürgerliche Partei abgelöst zu haben.
Dabei besteht Einigkeit bei der notwendigen Reduktion der Lohnnebenkosten (von der Arbeitgeber und Beschäftigte ungefähr gleich viel profitieren würden) und bei der steuerlichen Entlastung des Mittelstands, von beidem müsste aber die SPÖ noch überzeugt werden; dafür wäre eine Erbschaftssteuer, die nur die Wohlhabendsten betrifft, durchaus überlegenswert. Immerhin geht es bei einem bereits derzeit zweistelligen Milliarden-Defizit um einen realistischen Budgetplan, nicht um die Hoffnung auf eine bessere Konjunktur, die sich gerade derzeit nicht abzeichnet.
Dafür müsste es ein konsequentes Zurückfahren des aus dem Ruder gelaufenen Fördervolumens im Ausmaß einiger Milliarden Euro geben, wirksame Anreize für längeres Arbeiten und mittelfristig auch eine Pensionsreform, die die Zuschüsse aus dem Budget spürbar verringert. Auf diese Weise könnte man vielleicht auch den notwendigen Spielraum für zukunftsbezogene Vorhaben wie ökologische Investitionen oder auch die Pflegesicherung, Verbesserungen im Bildungssystem und aktive Integrationsmaßnahmen schaffen.
Anstatt populistische Pseudothemen wie die Kürzung der Sozialhilfe für die Bedürftigsten zu propagieren, sollten die Betroffenen, insbesondere Asylberechtigte, möglichst rasch ins Erwerbsleben gebracht und auch Asylwerber eine Arbeitserlaubnis erhalten, um neben qualifizierten Arbeitsmigranten insgesamt das notwendige Personal gegen den Arbeitskräftemangel zur Verfügung zu haben. Sachprobleme ohne Ressentiments lösen, nennt man das. Hier vermisst man die sonst so pragmatischen Stimmen aus Industrie und Wirtschaft. Eine zentrale Koalitionsfrage wäre aber sicher die Besetzung des Justizressorts, schließlich gibt es noch einige brisante Ermittlungen in politischen Fällen.
In einer solchen Zukunfts-Koalition, die ein Gutteil der Bevölkerung befürworten würde, wäre die ÖVP rechts der Mitte, die SPÖ links der Mitte und die NEOS als tatsächliche Mitte-Partei die verbindende Brücke. Je stärker sich die staatstragenden Kräfte in ÖVP und SPÖ gegenüber den parteiinternen Ideologen durchsetzen, desto stabiler könnte diese gewiss herausfordernde Konstellation werden. Nach den turbulenten letzten Jahren sind denn auch Stabilität und Zukunftstauglichkeit gefragt. Für eine in diesen schwierigen Zeiten wirklich neue Politik wird es jedenfalls Kreativität und Konsensfähigkeit brauchen, um anstatt bisheriger parteipolitischer Klientelpolitik gemeinsam sachorientierte Ergebnisse im Interesse des größeren Ganzen zu liefern.
ANDREAS KRESBACH ist Jurist im Öffentlichen Dienst und Autor in Wien.