Nawalnys Aufzeichnungen aus dem Gulag
Die Autobiografie des im Februar in einem russischen Straflager ermordeten Kremlkritikers Alexej Nawalny ist jetzt erschienen. Sein Buch „Patriot“ ist eine ebenso politische wie persönliche Anklageschrift gegen Putins Regime – und das Vermächtnis eines mutigen Mannes, der den Glauben an eine bessere Zukunft Russlands nicht aufgeben wollte.
Das Ende war so, wie er es vorausgesehen hatte: „Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben. Es wird niemand da sein, von dem ich mich verabschieden kann“, notierte Alexej im Putin’schen Gulag. Am 16. Februar 2024 starb er allein im Straflager „Polarwolf“ in der Arktisregion unter nicht geklärten Umständen. Tagelang weigerten sich die Behörden, seine Leiche herauszugeben, bis seine Mutter Ljudmila Nawalnaja in einem Videoappell an Putin die Erpressungsversuche öffentlich machte. Sie erreichte letztlich, dass Nawalny am 1. März unter großer Anteilnahme tausender Menschen in Moskau beerdigt wurde.
Vor seinem Tod hat er vieles bedacht, notiert, aufgeschrieben: für sich, seine Lieben, seine Freunde und Unterstützer; für alle, die ihn überleben sollten. Seine Aufzeichnungen – auch die unvollständigen – sind jetzt als Buch erschienen. Es ist die umfassende Geschichte seines Lebens: seine Jugend, seine Berufung zum Aktivisten und Oppositionellen, seine Ehe und Familie sowie sein Einsatz für Demokratie und Freiheit in Russland, eine machtvolle Polit-Oligarchie, die ihn unbedingt zum Schweigen bringen will, die zahlreichen Anschläge auf ihn und seine Vertrauten und die wirksamen Kampagnen, die er und sein Team gegen das diktatorische Putin-Regime zu führen wagen.
Wer Nawalnys politische Karriere verfolgt hat, kennt viele im Buch beschriebenen Stationen. Und er kennt auch die beißend scharfe Kritik des rastlosen Oppositionellen – bei öffentlichen Auftritten vor tausenden Demonstranten, in seinen Sendungen im Internet oder vor Gericht. Einer, der wie kein anderer mit unzähligen Enthüllungen ein mafioses System unter Putin anprangerte – und dafür verfolgt, vergiftet, inhaftiert, schließlich ermordet wird.
Warum hat er sich all dem ausgesetzt? Im Buch findet sich eine ausführliche Antwort auf die immer wieder gestellte Frage, warum er trotz drohender Inhaftierung und Todesgefahr von Berlin nach Moskau zurückgeflogen sei. Nur so könne er glaubhaft in seiner Liebe zu Russland sein. Alles andere wäre Verrat. Seine Aufzeichnungen und Texte beleuchten diesen schwierigen Balanceakt, für politische Überzeugungen Familienglück und das eigene Leben zu opfern.
Als Nawalny nach dem mörderischen Giftanschlag des russischen Geheimdiensts von einem Gericht wegen „Unterschlagung und Geldwäsche“ in ein berüchtigtes Straflager weggesperrt wurde, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, das Urteil sei willkürlich und politisch motiviert. Der britische Außenminister Dominic Raab sprach von einem „perversen Urteil“. Auch deutsche Politiker sprachen von einem Terror-Urteil, mit dem der Mensch Nawalny vernichtet werden solle. Eine düstere Vorahnung.
Dass Alexej Nawalny auch in den dunkelsten Stunden der Haft – trotz Folter und Krankheit – seinen schneidenden Humor und hartnäckigen Optimismus nicht verlor, auch nicht den Glauben an eine bessere Zukunft Russlands, ist bei der Lektüre des Buches auf berührende Weise spürbar. Vor allem die Liebe zu seiner Frau Julia und seinen Kindern Dascha und Sachar. Sie hat ihn getragen – bis zuletzt. Julia Nawalnaja sagt in einem Clip auf Instagram, sie habe immer wieder lachen und weinen müssen, als sie seine begonnene Arbeit an dem Buch beendete. Sie sieht es als Vermächtnis ihres Mannes. Das Buch erscheint zwar nicht in Russland, aber auf Russisch und in 19 weiteren Sprachen, darunter auf Deutsch. Alexej Nawalnys Autobiografie „Patriot“ ist ein durch und durch politisches Buch – und eine große Liebesgeschichte. Wir sollten es lesen – und uns vor diesem mutigen Mann verneigen.
HELMUT ORTNER hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien, veröffentlicht. Zuletzt erschienen: „Heimatkunde – Falsche Wahrheiten. Richtige Lügen.“ (2024), „Das klerikale Kartell. Warum die Trennung von Kirche und Staat überfällig ist“ (2024) und „Volk im Wahn – Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit“ (2022). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.