Rezension: The Moral Landscape
„The Moral Landscape: How Science Can Determine Human Values“ von Sam Harris ist ein monumentaler Angriff auf einen geläufigen Glaubenssatz: dass Wissenschaft keine Aussagen zu Moral machen könne, weil diese eine andere Sphäre sei. Der Autor zeigt dabei eindrucksvoll das Gegenteil auf. Dazu argumentiert er überzeugend, weshalb moralische Prinzipien auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht auf historisch gewachsenen Religionen oder Ideologien basieren sollten.
Sam Harris ist Neurowissenschaftler, Philosoph und ein atheistischer Vordenker, der sich mit seinen bisherigen Büchern wie „The End of Faith“ und „Letter to a Christian Nation“ einen Namen als Mahner gegen religiösen Dogmatismus und Fanatismus gemacht hat.
Das Buch ist eine Reaktion auf Kritik an den ersten Büchern des Autors. Diese lässt sich damit zusammenfassen, dass die Wissenschaft keine Aussage über Moral treffen kann. Diese Annahme ist gesellschaftlich tief verwurzelt und wird zunehmend als eine der wichtigsten Rechtfertigungen für die Existenz und Relevanz von religiösem Glauben betrachtet. Im Buch geht es aber nicht nur darum, die moralische Deutungshoheit nicht Religionen und Ideologien zu überlassen, sondern auch um eine Widerlegung von moralischem Relativismus. Dadurch schafft der Autor das Kunststück, beide politischen Ränder gegen sich aufzubringen: sowohl religiöse Rechte als auch moralrelativistische Linke kritisieren den Autor massiv.
Moral als Teil der Wissenschaft
Selbst in unserer modernen, liberalen Gesellschaft wird immer noch häufig die Ansicht von Wissenschaft und Moral als komplett getrennte Sphären vertreten. So spricht etwa der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould von nicht überlappenden Anwendungsbereichen von Religion und Wissenschaft. Er schlussfolgert daraus, dass die Methoden des einen nicht geeignet seien, den anderen Bereich zu studieren und umgekehrt. Diese Ansicht kontert Harris damit, dass die Wissenschaft sowohl Möglichkeiten bietet, verschiedene moralische Vorstellungen zu vergleichen, als auch Aussagen über moralische Ziele zu treffen.
Dabei führt er für mich sehr überzeugend aus, wie man Moral messen kann: Sie bildet das Fundament des Zusammenlebens einer Gesellschaft, daher können ihre Auswirkungen sehr gut wissenschaftlich untersucht werden. So kann man zeigen, welche Moral besser und welche schlechter ist. Das illustriert der Autor damit, dass er zwei maximal unterschiedliche Leben von fiktiven Personen gegenüberstellt:
Person 1 ist eine Frau, die in einem totalitären Gottesstaat lebt. Die dort herrschende Moral degradiert jede Frau zum Eigentum ihres Ehepartners, eine Tatsache, die ihr Mann gnadenlos für regelmäßige Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigungen ausnutzt. Person 2 ist eine Frau in einer liberalen Demokratie, die sich dank der vielfältigen Möglichkeiten beruflich und familiär frei entfalten konnte und mit ihrem Partner in Einklang mit den vorherrschenden moralischen Vorstellungen gleichberechtigt zusammenlebt.
In diesem Beispiel sagen die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen (Neurobiologie, Psychologie, Soziologie, Medizin, …) sehr klar, welche Moral besser und welche schlechter ist. Mit steigendem Verständnis können wir auch in weniger extremen Fällen immer bessere Unterscheidungen treffen und damit verschiedene moralische Vorstellungen miteinander vergleichen.
Moralische Grundlagen
Auch die Grundlage der Moral wird vom Autor behandelt: Da Werte und Moral rein logisch nur einem intelligenten Wesen mit Verstand entspringen können, argumentiert er dafür, das Wohlbefinden („well-being“) ebenjener intelligenten Wesen als fundamentales Entscheidungskriterium zu verwenden. Dies lässt sich vor allem mit dem stetigen Fortschritt der Neurobiologie immer besser messen und erklären, auch wenn die Forschung hier noch viel Potenzial nach oben hat. Diese Argumentation hätte meines Erachtens im Buch noch ein wenig umfangreicher und detaillierter sein können. Nichtsdestotrotz ist dieser Ursprung von Moral mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft sehr gut begründbar und somit deutlich überzeugender als historisch gewachsene Moralvorstellungen, die ultimativ auf indirekten Überlieferungen aus der Antike beruhen.
Kein Platz für unwissenschaftliche Argumente
Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen reproduzierbar und überprüfbar sein, daher sind sie per Definition universell und liegen nicht im Auge des Betrachters. Wenn Moral, wie oben ausgeführt, wissenschaftlich betrachtet werden muss, folgt für den Autor daraus zwingend, dass es keine verschiedenen gleich richtigen Moralvorstellungen geben kann. Das vergleicht er damit, dass es auch keine christliche Mathematik, keine islamische Biologie und keine kommunistische Physik gibt. Etwas kann nicht nur dadurch richtig oder wahr sein, weil es viele Menschen seit langer Zeit glauben oder tun. Darum verurteilt der Autor – meiner Meinung nach völlig zu Recht – jegliche Form von moralischem Relativismus. Normen und Handlungen sollten nicht unterschiedlich bewertet werden, nur weil die kulturellen und historischen Ursachen andere sind.
Das lässt sich etwa mit folgendem Gedankenexperiment darstellen: Würde nur eine einzelne Person auf der Welt auf die Idee kommen, männlichen Babys einen Teil der Haut am Penis abzuschneiden, würde sich nur die Frage stellen, wie schwer diese Person bestraft werden soll. Machen es hingegen viele Menschen seit langer Zeit, ist es in Ordnung und soll respektiert werden.
Wie in jeder wissenschaftlichen Disziplin reichen persönliche Überzeugung und Glaube daher nicht als Argument aus. Der Autor plädiert daher dafür, auch im Diskurs über Moral diesen Stimmen keinen Platz zu geben, ebenso wie wir unwissenschaftliche Meinungen in der Chemie oder Astronomie ignorieren. Dies würde einen starken Kontrast zum Status quo darstellen, in dem ideologische und religiöse Fanatiker nicht nur eine Stimme haben, sondern diese oft sogar mehr Gewicht hat als fundierte wissenschaftliche Argumente.
Empfehlung
Insgesamt ein sehr empfehlenswertes Buch zu einem kontroversen, aber extrem wichtigen Thema. Neben den oben dargestellten Grundaussagen offeriert der Autor viele interessante Einblicke in die Zusammenhänge zwischen Neurobiologie und Moral. „The Moral Landscape“ hat mich persönlich vor allem deshalb angesprochen, weil es vieles anspricht und klar ausdrückt, was meinem intuitiven Verständnis von Moral entspricht: Wir können und müssen Moral wissenschaftlich betrachten – darum kann es ultimativ auch keine geschichtlich oder religiös geprägten Unterschiede geben. Wenn wir den moralischen Diskurs in wissenschaftliche Sphären verlegen, können wir uns auch endlich von vielen kräftezehrenden Debatten der Gegenwart verabschieden: Wir könnten uns um wichtige Probleme wie den Klimawandel kümmern und müssten uns nicht endlos von intellektuellen Quacksalbern anhören, wieso etwa Frauen weniger Rechte haben sollen oder Menschen mit anderer Sexualität nicht heiraten dürfen.
Zum Abschluss noch ein spannender Gedanke des Autors: Moralischer Fortschritt bedeutet, dass unsere Nachkommen so von unserer Moral enttäuscht sein werden, wie wir von den Moralvorstellungen unserer Vorfahren enttäuscht sind. Ich denke, wenn wir uns die Aussage von „The Moral Landscape“ zu Herzen nehmen, könnten wir die erste Generation sein, deren Nachfahren unsere Moralvorstellungen nicht mehr als verstaubt und ungerecht empfinden.
Hinweis: Das Buch ist nur auf Englisch verfügbar, aber sehr gut geschrieben und einfach verständlich.
RAPHAEL FRITZ ist IT-Unternehmer mit Fokus auf AI. Er war schon als Kind ein Bücherwurm, der nach dem Studium Hörbücher für sich entdeckte. So lässt sich sein Wissensdurst in den Bereichen Technologie, Politik, Philosophie, Wissenschaft und Persönlichkeitsentwicklung trotz eines hektischen Alltags hervorragend stillen. Knapp 70 Hörbücher und 5 gedruckte Bücher pro Jahr liefern dabei einen guten Pool, um hervorragende Empfehlungen abgeben zu können. Die meisten davon werden auf Englisch gelesen oder gehört. Ausnahmen gibt es primär, wenn Deutsch die Originalsprache ist.