Social Media – Ein Werkzeug für die Freiheit?
Der Schriftsteller Bertolt Brecht entwickelte zwischen 1927 und 1932 über mehrere Arbeiten verstreut eine der ersten Radiotheorien der Geschichte. Er beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie sich das damals neue Medium Radio von einem unidirektionalen in ein bidirektionales und damit demokratischeres Kommunikationsmedium weiterentwickeln ließe.
Die Kernaussage seiner Theorie in zusammengefasster Form besagt, dass sich das Radio von einem Distributions- in einen Kommunikationsapparat verwandeln müsse, um ein demokratisches Medium zu werden. Erst dann, wenn alle Teilnehmer:innen gleichzeitig zu Sender:innen und Empfänger:innen werden, kann das Radio als demokratische Technologie unsere Welt im positiven Sinne beeinflussen und verändern.
An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass das damals noch junge Medium Radio sehr bald nach seiner Einführung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zuallererst von den Nationalsozialisten als wirkungsvolles Propagandainstrument eingesetzt und benutzt wurde. Ein sogenannter Volksempfänger stand schnell in jedem Haushalt.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch die Erfahrungen der Manipulationskraft des Radios der öffentlich-rechtliche Rundfunk eingeführt, um damit ganz bewusst demokratische Regulationsmechanismen zu etablieren und die Wirkungsmacht des Rundfunks dem unkontrollierten Spiel der Kräfte und damit auch der potenziellen Gefahr einer Einflussnahme und Übernahme durch Autokraten, Diktatoren und Verhetzer zu entziehen.
Massenmedien und Propagandamaschinen
Die Anfälligkeit jeweils neuer Kommunikationstechnologien im Laufe der Geschichte für propagandistische und manipulative Zwecke scheint vor allem in ihren jeweiligen Anfangszeiten immens hoch zu sein – und das beweist nicht nur das Beispiel Radio. Skrupellose Machtmenschen und totalitäre Gruppen schaffen es stets von neuem, die Unbeholfenheit im Umgang mit neuen Medien und den niedrigen Erfahrungswert der Allgemeinheit auszunutzen und prinzipiell nützliche und das Leben der Menschen verbessernde Technologien zuallererst einmal gründlich zu missbrauchen und zum Nachteil der Menschheit einzusetzen, bis dann oft erst nach Jahrzehnten der Eingewöhnungszeit auch die positiven Effekte und Möglichkeiten der neuen Technologien zum Vorschein kommen können.
Heute, nahezu ein Jahrhundert nach Brechts ersten medientheoretischen und gesellschaftspolitischen Überlegungen zum Thema Radio, sehen wir uns mit ähnlichen Fragestellungen im Bereich der digitalen Medien konfrontiert. Durch die digitale Revolution der letzten Jahrzehnte und dem damit verbundenen Aufkommen der sozialen Netzwerke könnte man sagen, dass sich sein damaliger Wunsch verwirklicht hat: Heute sind wir alle mithilfe von Twitter, Facebook und Co. gleichzeitig zu Sendern und Empfängern geworden.
Wir alle wurden so in den letzten Jahren zu Mikromedienstationen und Ein-Personen-Funkhäusern, zu digital-kommunikativen Monaden, die ihren ganzen Gedanken-, Meinungs- und Wissensinhalt unablässig der Welt in Echtzeit zu vermitteln und zu publizieren trachten. Bertolt Brecht wollte mithilfe des Radios demokratischere und gerechtere Bedingungen für die ganze Menschheit schaffen und nicht nur einigen wenigen die ganze Sendungsmacht in die Hand geben. Hat sich diese Forderung durch Social Media verwirklicht?
Social Media in liberalen und autoritären Staaten
Antworten darauf können nicht eindeutig ausfallen. Dazu sind die Zusammenhänge und Implikationen viel zu komplex und beinhalten zu viele unterschiedliche Parameter. Angesichts der aktuellen Weltlage scheint aber momentan große Skepsis und vor allem eine gesunde Portion Vorsicht angebracht zu sein.
Im Gegensatz zum Rundfunk des 20. Jahrhunderts sind die Social-Media-Angebote global verbreitet und verunmöglichen somit die Einflussnahme althergebrachter lokaler Kontrollinstanzen. In Diktaturen und totalitären Systemen zeigt sich, dass diese Tatsache ein riesiger Vorteil sein kann – das Internet und in weiterer Folge die Social-Media-Plattformen können zu effektiven Werkzeugen werden, die den Menschen reale Möglichkeiten eröffnen, um sich erfolgreich zu wehren, für ihre Freiheit und Rechte einzustehen und Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Gewalt ans Licht zu bringen.
In liberalen Gesellschaften jedoch zeigt sich, dass durch den Mangel an vernunftbasierten Kontrollinstanzen totalitäre Mechanismen und Mikroideologien freigesetzt werden, die durchaus das Potenzial haben, selbst gefestigte, liberale und demokratische Strukturen ins Wanken zu bringen – das mussten wir in den letzten Jahren schmerzhaft erkennen.
Demokratie als Kollateralschaden
Eine Studie des Economist, die den Grad der Demokratie in 167 Ländern misst, zeigt, dass der „Demokratieindex“ im Jahr 2021 rückläufig war und den niedrigsten Wert seit über einem Jahrzehnt aufweist. Nur ein wenig mehr als 6 Prozent der Weltbevölkerung leben laut dieser Studie aktuell in „vollständigen Demokratien“, etwas über 39 Prozent in „unvollständigen Demokratien“ mit Verletzungen der Medienfreiheit, Ansätzen an Unterdrückung der politischen Opposition und vermehrt auftretender Korruption. Der Rest der Welt lebt in hybriden oder autoritären Regimes. Im Vergleich dazu waren es im Jahre 2006 17,8 Prozent, die in vollständigen Demokratien lebten und 31,7 Prozent, die in unvollständigen Demokratien lebten. Der Anteil der hybriden und autoritären Regimes schwankt hier lediglich um wenige Prozentpunkte auf und ab und blieb vergleichsweise stabil.
Unter US-Präsident Trump mussten wir sprachlos mitansehen, wie Social Media schamlos zu niedrigsten Propagandazwecken missbraucht wurde. Vollkommen lächerliche Behauptungen, Lügen und Wirklichkeitsverzerrungen setzen sich seitdem vor unseren Augen täglich durch, hysterisieren den gesellschaftlichen Diskurs und verhelfen so vor allem diversen dilettantischen Politclowns und radikalen rechten Randgruppen zu Erfolgen, die unter rationalen Aspekten nicht im Geringsten nachvollziehbar sind.
Nachahmer und Epigonen dieses schmerzhaft peinlichen, wiewohl immens massentauglichen Vorgehens im banalen Alltag poppen seitdem in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens auf und sind schon lange nicht mehr nur auf politischer Ebene präsent. Milliardäre, Medienmacher, Verschwörungstheoretiker, Sportler, Esoteriker, abgehalfterte Popstars – you name it! Die Zahl der Menschen, die sich für keine Lüge und bizarre medial verbreitete Aktion zu schade sind, um nur ja genügend Aufmerksamkeit im täglichen Social-Media-Geraune zu bekommen, nimmt ständig zu. Und sie verunmöglicht mehr und mehr vernunftbasierte Diskurse und auf Expertise beruhende Diskussionen.
Zwischen Potenzial und Drohszenario
Rund um den Globus verbreitet sich stattdessen die durch diesen Prozess monströs anwachsende Desinformation in Windeseile und im Kampf um möglichst große Aufmerksamkeit steigert sich bizarres und irrationales Verhalten in absurde Höhen. Autokratische Manipulatoren haben leichtes Spiel, diese Entwicklung für ihre Zwecke einzusetzen und die ganze Welt damit zu destabilisieren. Beobachter, die sich aus dem Geschehen bewusst herauszuhalten vermögen, können gar nicht anders, als zum Schluss zu kommen, dass die gesamte Menschheit mehr und mehr in eine globale Idiokratie abdriftet, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.
Dem Machtpotenzial der digitalen Medien als Freiheitstool der Gegenwart steht somit leider auch ein riesiges autokratisches Potenzial gegenüber, wenn es darum geht, antidemokratische und illiberale Tendenzen zu verstärken. Die digitalen Technologien erweisen sich daher – im Grunde auch nicht verwunderlich – als vollständig neutrale Werkzeuge und können im gleichen Maße als Freiheitstechnologien wie auch als totalitäre Unfreiheits- und Unterdrückungstools eingesetzt werden.
Es obliegt daher wiederum – und wie könnte es anders sein – jedem einzelnen Menschen, diese neuen Tools und Kommunikationssysteme verantwortungsbewusst und zum Wohle aller einzusetzen und zu verwenden.
Laut neuesten Zahlen nutzen heute angeblich nahezu 4 Milliarden Menschen unterschiedlichste Social-Media-Angebote. Das ist die Hälfte der Menschheit. Stellen wir uns doch mal vor, wie es wäre, wenn wir Social Media einem Bedeutungswandel unterziehen und hauptsächlich dazu nutzen könnten, mehr Bildung, Ethik, gegenseitiges Verständnis und Empathie über all diese Milliarden von Kanälen zu senden, anstatt sie dafür zu nutzen, rückständigen Hass, Desinformation, oberflächliche, narzisstische Inszenierungen und lächerliche Alltagsideologien im Dauerloop auf die Nutzerinnen und Nutzer loszulassen. Wie schnell könnte sich die Welt in eine wirklich gerechtere und schönere Welt verwandeln.
Am Anfang einer Entwicklung scheint also der Umgang mit neuen Technologien unbeholfen und voller Fehler zu sein und öffnet vor allem dadurch Tür und Tor für Manipulation und Propaganda. Wir befinden uns – nicht zuletzt auch dadurch – zurzeit mitten in einer Art Neukalibrierung unseres Denkens und unserer Wahrnehmung und in einer Neuformierung unserer Gesellschaftssysteme.
Es braucht eine neue Qualitätskultur
Unausgegorene und unreflektierte Vorstellungen vom Recht auf freie Meinungsäußerung, wie sie der neue Besitzer von Twitter gerade verbreitet, reichen da schon lange nicht mehr. Die Unmündigkeit des Meinens kann nur durch Fakten, Wissen, Klarheit, Relevanz und Sinn überwunden werden.
Dieser Prozess erfordert ein Bewusstsein für eine Qualitätskultur, die zurzeit leider schmerzlich fehlt. Ähnlich wie Bert Brecht in seiner Radiotheorie sollten wir uns fragen, wie wir Social Media so verändern und nutzen könnten, dass daraus ein für Erwachsene würdiges und die Menschheit voranbringendes Tool wird, in dem wir positiv konnotierte Aussichten, einen respektvollen Umgangston und Möglichkeiten für eine bessere, vernünftigere und damit auch demokratischere Nutzung von Social Media formulieren.
Die Tatsache, dass wir alle zu Sendern und Empfängern geworden sind, die ein selbstverständliches Recht auf freie Meinungsäußerung haben, reicht heute nicht mehr aus. Die Qualität des Empfangenen und Gesendeten muss einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren, Smalltalk-Kanäle und gesellschaftspolitische Diskussionskanäle sollten klarer getrennt und nicht miteinander vermengt und verwechselt werden. Der Weg dahin scheint aber noch lang zu sein. Und beschwerlich. Und weit.
JÜRGEN BERLAKOVICH, geboren 1970, lebt als Schriftsteller, Musiker und Klangkünstler in Wien. Zuletzt erschienen: „Nobot. Twitter Noir“. Roman. Klever Verlag, Wien 2022. www.berlakovich.org