Theater und Tragödie: Monsteranklage für Erdogans Herausforderer
Seit März sitzt der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu im Gefängnis. Nun fordert der Generalstaatsanwalt eine nie dagewesene Anklage in der türkischen Justizgeschichte: 2.352 Jahre Haft. Zudem soll İmamoğlus Partei CHP verboten werden.
Wenn es nach dem Istanbuler Generalstaatsanwalt geht, soll der landesweit beliebteste demokratische Politiker Ekrem İmamoğlu für immer im Gefängnis verschwinden. Zählt man alle Punkte der 3.900 Seiten umfassenden Anklageschrift gegen den Istanbuler Oberbürgermeister zusammen, kommt man auf 2.352 Jahre Gefängnis. Dazu kommt, dass die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft ihre Kollegen in Ankara auffordert, beim zuständigen Verfassungsgericht ein Verbot der Republikanischen Volkspartei CHP zu beantragen. „Das ist keine Anklageschrift, sondern eine politische Erklärung von Putschisten“, sagte der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, in einer Presseerklärung.
Schon nach der Verhaftung von İmamoğlu im März dieses Jahres hatte Özel von einem zivilen Putsch gesprochen, durch den die Demokratie in der Türkei infrage gestellt werde. Özel präzisierte das nun und sagte: „Dieses Mal kommen die Putschisten nicht wie in der Vergangenheit mit Panzern, sondern in Richterroben. Eine Handvoll Menschen, die durch Wahlen an die Macht gekommen sind, wollen nicht durch Wahlen ihre Macht wieder verlieren.“
In der Anklageschrift wird eine „kriminelle Vereinigung“ konstruiert, deren Kopf İmamoğlu gewesen sein soll. Diese „kriminelle Vereinigung“ habe den Zweck gehabt, durch aktive und passive Bestechung ihre Macht auszubauen, Gelder zu waschen und Mittel aus der öffentlichen Verwaltung in illegale Wahlkampfhilfe für die CHP zu transferieren. Insgesamt listet die Anklageschrift 142 Anklagepunkte auf, darunter verschiedene Korruptionsdelikte wie Bestechlichkeit, Veruntreuung, Geldwäsche und Ausschreibungsbetrug. Die Anklage richtet sich neben İmamoğlu gegen 401 weitere Verdächtige. Sie sollen dem türkischen Staat über einen Zeitraum von zehn Jahren einen Schaden von umgerechnet mehr als 3,6 Milliarden Euro zugefügt haben. Doch die Staatsanwälte, die diese ungeheure Behauptung aufgestellt haben, waren in den vergangenen Monaten weder in der Lage, eine Anklageschrift zu erstellen, noch einen einzigen Beweis vorzulegen. Stattdessen legten sie mit einer noch absurderen Anschuldigung gegen Imamoğlu nach: Spionage!
Die jetzt vorgelegte Anklage macht deutlich, warum die CHP von einem rein politisch motivierten Verfahren gegen ihren Präsidentschaftskandidaten spricht. İmamoğlu, der bei den nächsten Wahlen gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan antreten soll und wohl gute Chancen hätte, das Präsidentenamt zu gewinnen, wird als krimineller und selbstsüchtiger Staatsfeind präsentiert. „In jedem ordentlichen rechtsförmigen Verfahren würde jedes Gericht diese Anklage von vorneherein ablehnen“, sagte einer der Anwälte İmamoğlus. Aber an diesem Verfahren ist wenig Rechtstaatliches. Stattdessen wurden Mitarbeiter İmamoğlus nach ihrer Verhaftung unter Druck gesetzt. Wenn sie nicht gegen ihn aussagten, müssten sie sich auf Haftstrafen einstellen. Zwei seiner Anwälte wurden bereits verhaftet, hunderte Demonstranten, die sich für die Freilassung İmamoğlus engagiert hatten, wurden festgenommen. Journalisten, die es wagten, die offizielle Erzählung über İmamoğlu anzuzweifeln, werden von der Justiz vorgeladen.
Präsident Erdogan unternimmt alles, um über seine 2028 endende Amtszeit hinaus an der Macht bleiben zu können. Dabei kann er keine wirksame Opposition gebrauchen, die wirtschaftliche und soziale Missstände anprangert oder den Filz im Regierungslager öffentlich macht. Und so geht Erdogan zum präventiven Angriff über. Die Istanbuler Staatsanwälte lassen sich dabei als Handlanger der Regierungspolitik einsetzen. Das absurde Theater des Verfahrens gegen İmamoglu wird zur Tragödie für die Türkei.
HELMUT ORTNER hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien, veröffentlicht. Zuletzt erschienen: „Heimatkunde – Falsche Wahrheiten. Richtige Lügen“ (2024), „Das klerikale Kartell. Warum die Trennung von Kirche und Staat überfällig ist“ (2024) und „Volk im Wahn – Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit“ (2022). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.