Überlegungen eines Boomers zur Neutralitätsdebatte
Im Jänner 2022 hatte ich mich – beflügelt durch die diversen politischen Skandale in Österreich – dazu entschlossen, erstmals in meinem Leben einer politischen Partei beizutreten, weil das ständige private „Sudern“ über die politischen Entwicklungen bzw. Fehlentwicklungen für mich auf Dauer zutiefst unbefriedigend war. Nachdem ich mich immer schon freiheitsliebend und eher individualistisch eingeschätzt habe, fiel mir die Wahl, meine zukünftige politische Heimat bei den NEOS zu finden, nicht schwer.
Neben der großen Anzahl an positiven Überschneidungen mit den Positionen der NEOS gab es jedoch eine Position, von der ich nicht wirklich überzeugt war: und zwar die starken Aktivitäten der NEOS, die österreichische Neutralität debattieren zu wollen. Sosehr ich natürlich die intellektuelle Freiheit befürworte, alles und jedes infrage zu stellen, so sehr hat mich eine emotionale Hemmschwelle abgehalten, die Neutralität im Mittelpunkt einer kritischen Betrachtung und Hinterfragung zu wissen.
Ich habe mich deshalb genau mit dieser persönlichen Zerrissenheit zwischen intellektueller Freiheit und emotionaler Bindung in diesem Themenzusammenhang beschäftigt. Ich glaube, dass dieses Phänomen bei sehr vielen Mitgliedern meiner Generation der „Boomer“ ähnlich gelagert sein wird. Umso mehr, wenn diese im östlichen Teil von Österreich ihre Jugend verbracht haben und noch von den Auswirkungen und Einflüssen des Kalten Kriegs geprägt worden sind.
Neutralität: Erinnerungen meiner Eltern
Ich bin 1960 in Wien geboren worden und sehe mich somit ziemlich genau in der Mitte der Boomer-Jahrgänge, die ich zwischen 1955 und 1966 („Pillenknick“) zeitlich verorten würde.
Meine Jahrgänge wurden durch die Österreichische Neutralität nämlich nachhaltig identitätsstiftend geprägt. Das hat bei mir schon im (sonst eher national orientierten) Elternhaus begonnen, das mir immer wieder von der persönlichen Glückserfahrung berichtet hatte, die die Unterzeichnung des Staatsvertrags bei ihnen ausgelöst hatte. Meine Eltern hatten dabei das besondere Privileg, aus Ihrem damaligen Untermietzimmer – in einem schönen Altbau an der Ecke Prinz-Eugen-Straße/Goldeggasse im 4. Bezirk: Russenzone und deshalb auch in der Miete etwas billiger – die gesamte öffentlich wahrnehmbare Prozedur im Oberen Belvedere beobachten zu können. Und es war ein ungemein befreiendes Erlebnis für sie in ihrer jungen Ehe. Von nun an konnte es gerade in Ostösterreich nur noch aufwärts gehen.
Und mein Vater hatte immer betont, dass Österreich durch den Staatsvertrag einen wirklichen Friedensvertrag erhalten hatte – ganz im Gegensatz zum geteilten Deutschland, das ja bis zum sogenannten 4-plus-2-Vertrag oder auch „Regelungsvertrag“ nach dem Kollaps der Berliner Mauer nur auf Basis eines Waffenstillstandsvertrags sein nationales und internationales politisches Leben gestalten konnte.
Auch wenn die Neutralitätserklärung Österreichs aus zutreffenden rechtlichen Überlegungen nicht Bestandteil des Staatsvertrags war, so war jedem in der Bevölkerung klar: Ohne diese politische Zusage der Neutralität wäre die Unterzeichnung des Staatsvertrags wohl niemals zustande gekommen, und Österreich hätte womöglich als geteiltes Land das gleiche Schicksal wie Deutschland ereilt. Und das wäre gerade für Ostösterreich fatal gewesen, da es die russische Besatzungszone war. So haben es mir zumindest meine Eltern immer wieder erzählt und mir damit ein äußerst positives Grundgefühl für die Institution der Neutralität in meinen Lebensbetrachtungen mitgegeben.
Aufwachsen im Kalten Krieg
Natürlich wurde der 26. Oktober auch in der Schule entsprechend gefeiert. Ich erinnere mich noch gut an das rot-weiß-rote Fahnenbasteln, da der Feiertag zu dieser Zeit auch noch „Tag der Fahne“ hieß – ein in Österreich äußerst doppeldeutiges Feiertagsmotto – und dass ich für diese diversen Feierlichkeiten den Text der Bundeshymne auswendig lernen musste.
Um die Gefühle und Einstellungen meiner Generation nachvollziehen zu können, muss man sich immer vergegenwärtigen, dass der „Kalte Krieg“ bis zum Ende der Sowjetunion und dem Zerfall des Warschauer Pakts immer wie ein Damoklesschwert über unserem Leben hing. Etwa 50 Kilometer von Wien entfernt begann das Reich des „politisch Bösen“ und man musste – auch wenn man es nicht wahrhaben wollte – doch insgeheim immer mit dem Schlimmsten rechnen: der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West.
Des weiteren war jedem wehrpolitisch Interessiertem klar, dass der Großraum Wien und vor allem die Großstadt selbst im Ernstfall nicht verteidigt worden wäre – sondern einem möglichen Aggressor des Warschauer Pakts mit Wonne zur Versorgung überlassen worden wäre. Ebenso war klar, dass im Einsatzfall von Nuklearwaffen der Großraum Wien und das Donautal von beiden Seiten für den jeweils anderen durch Nuklearwaffen schwer passierbar gemacht worden wäre. (Vgl. das berühmte Schallenberg-Video vom Jänner 2021 – das hat nur unangenehme Jugenderinnerungen bei mir wachgerufen.)
Also durchaus prickelnde Aussichten für ein junges, aufstrebendes Leben: Immer wieder mit der Möglichkeit des eigenen Todes durch einen Kernwaffeneinsatz konfrontiert gewesen zu sein, egal von welcher Seite. Und da war wieder die Neutralität, mit der man sich in der intellektuell schwachen, aber emotional umso anheimelnderen Hoffnung wiegen konnte. Uns wird schon nichts passieren, weil wir sind klein und neutral und generell sind wir doch so lieb.
Die Neutralität wird zum Mythos
Dass Belgien trotz Neutralität im Ersten und Zweiten Weltkrieg von den Deutschen überrannt und besetzt worden war, dass die Niederlande, Dänemark und Norwegen trotz Neutralität durch die Deutsche Wehrmacht überrannt und besetzt worden waren – das wollte man damals wie heute einfach nicht wahrhaben. Umso mehr, als diese Bedrohungen aus dem Kalten Krieg mit einer aus heutiger Sicht fast größenwahnsinnigen Außenpolitik von Bruno Kreisky in den siebziger und beginnenden achtziger Jahren begleitet wurde.
Österreich nahm in der Welt plötzlich eine außenpolitische Stellung ein, die absolut nicht zu einem Land von 7 oder 8 Millionen Einwohnern passte. Als Krönung dieser Bemühungen waren der Bau der UNO-City und die damit einhergehende Ansiedelung zahlreicher UN-Organisationen anzusehen. Sie gaben uns das wohlige, aber sicherlich unangebrachte Gefühl, dass jeder Aggressor die Neutralität eines neutralen Landes mit einem Sitz der Vereinten Nationen respektieren werde. Auch da zog man eine historische Parallele zu Genf als Sitz des ehemaligen Völkerbunds und dem Schicksal der neutralen Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Die Welt hat sich verändert
Und dann waren diese Jahre durchaus vom europäischen sozialdemokratischen Dreigestirn Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky geprägt. Brandt, dessen Ostpolitik den Grundstein für die internationale Aussöhnung mit Deutschland vor allem in den Ländern des Warschauer Pakts legte: Wer kann das ikonographische Bild des Kniefalls von Willy Brandt in Warschau vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos vergessen? Bruno Kreisky, der seine außenpolitischen Meriten im beständigen Vermitteln im Nahen Osten sammelte. Und Olof Palme, durch den viele Schweden für ein Paradies einer sozialdemokratischen Gesellschaft hielten. Und gerade dieses Vorbildland Schweden war auch neutral – auch wieder eine emotionale Bestätigung, dass Neutralität durchaus die Grundlage für eine wünschenswerte demokratische gesellschaftliche Entwicklung sein kann.
Wir lebten aber auch im Gefühl, dass gerade die Neutralität ein wesentliches Asset im Handel und Export mit den Staaten des Warschauer Paktes war. Ich denke nur an die unzähligen Aufträge der VOEST für den Bau und für die Ausrüstung von Stahlwerken in der DDR und in der Sowjetunion. Als politischen und/oder wirtschaftlichen Schaden hat meine Generation die Neutralität nicht erlebt. Eher im Gegenteil.
Der EU-Beitritt und die Neutralität
Mit großer Freude stimmten mehr als 66 Prozent der österreichischen Staatsbürger am 12. Juni 1994 für den Beitritt Österreichs zur EU. Einen Konflikt mit der Neutralität empfand man nicht, es gab ja die sogenannte Irische Klausel, und darüber hinaus befand man sich ja in der Gesellschaft von Finnland und Schweden. Man sah nur die wirtschaftlichen Vorteile des Beitritts, und der versprochene „Ederer-Tausender“ – eine vierköpfige Familie sollte sich 1.000 Schilling pro Monat an Lebenshaltungskosten durch einen EU-Beitritt ersparen – wurde zu einer gern zitierten journalistischen Größenordnung.
Gerade Schweden als durchaus politischer Vorbildstaat mit einem hohen emotionalen Sympathiewert bei meiner Generation hat mit seiner Abkehr von der Neutralität und seiner Hinwendung zur NATO einen politischen Paukenschlag gesetzt. Diese Entscheidung, dieser Paradigmenwechsel ist umso höher einzuschätzen, wenn man die historische Tatsache heranzieht, dass Schweden den ganzen Zweiten Weltkrieg über politisch und militärisch neutral war – und gerade jetzt weicht Schweden von diesem für dieses Land so typischen völkerrechtlichen Weg im Angesicht der Putin’schen Bedrohung dramatisch ab und vollzieht eine 180-Grad-Wende .
Für einen neuen außenpolitischen Ansatz
Wir merken es nicht nur in Schweden: Weil Putin mit seiner völkerrechtswidrigen Aggression unsere intellektuelle und emotionale Vorstellungswelt total durcheinandergebracht hat, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, ohne Vorbehalte und ergebnisoffen über die Neutralität zu diskutieren. Stichwort „Zeitenwende“. Nach der Überprüfung meiner oben geschilderten emotionalen Verbindungen zur Neutralität kann ich den schwedischen Weg verstehen. All die oben geschilderten Emotionen galten für die Vergangenheit, und wir hatten einfach unheimliches Glück, den tatsächlichen Wert der Neutralität niemals einer realen Bewährung ausgesetzt haben zu müssen.
Somit können wir nur mit Dankbarkeit auf unser zeitgeschichtliches Erleben zurückblicken: Die Neutralität hat es uns ermöglicht, die Bedrohungen durch den Kalten Krieg emotional zu verdrängen und das Leben für uns trotzdem lebenswert zu machen. Das hat sicher unserer psychischen Gesundheit genutzt und uns auch den einen oder anderen wirtschaftlichen Exporterfolg ermöglicht. Aber unser weltpolitisches Umfeld hat sich durch Russland, China und die „America First“-Rhetorik in den USA massiv geändert. Es ist jetzt an der Zeit, dass wir uns der Zukunft stellen und einen gemeinsamen europäischen Weg definieren.
Und somit möchte ich an unseren Kanzler gerichtet Friedrich Schillers „Don Carlos“ bemühen und zitieren: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ Lasst uns die Neutralität zumindest ergebnisoffen diskutieren und in eine breite Neutralitätsdebatte eintreten. Von unserer Nostalgie gegenüber der Neutralität herkömmlicher Prägung und Verständnisses sollten wir uns ehrend verabschieden – der Peter-Kreuder-Schlager aus der Wirtschaftwunderzeit, interpretiert von Peter Alexander – „Sag beim Abschied leise Servus“ – wäre dafür sicherlich eine angemessene Begleitmusik.